14.04.2021

Matzdorf: „Online-Lehrformate können die praktischen Lernumgebungen nicht abbilden“

PUBLICUS-Umfrage zur Lehre in der Pandemie – Folge 18

Matzdorf: „Online-Lehrformate können die praktischen Lernumgebungen nicht abbilden“

PUBLICUS-Umfrage zur Lehre in der Pandemie – Folge 18

Ein Beitrag aus »Publicus – Schwerpunkt Corona« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Publicus – Schwerpunkt Corona« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Die Pandemie verändert die Lehre, das Lernverhalten und das Miteinander von Lehrenden und Studierenden. Im Rahmen dieser PUBLICUS-Umfrage haben wir Lehrende zu ihren konkreten Erfahrungen und Eindrücken mit der veränderten Lehrsituation befragt. Heute: Prof. Christian Friedrich Matzdorf, Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin.


Was sind die für Sie wesentlichen Erfahrungen, die Sie in den letzten Monaten mit dem Online-Unterricht gemacht haben?

Matzdorf: Kriminalistik, als Bestandteil der Kriminalwissenschaften, befasst sich mit der Aufklärung von Straftaten; Kriminaltechnik, als Fachgebiet der Kriminalistik, mit dem Einsatz der dazu notwendigen technischen Mittel. Insbesondere die Kriminaltechnik-Lehre ist unter nicht pandemischen Bedingungen von großen Anteilen an anschaulichen Fallbeispielen (Kasuistik) und praktischen Übungen der Studierenden unter Laborbedingungen gekennzeichnet. Bestimmte Kompetenzen und Fertigkeiten müssen die Studierenden, nachdem die theoretischen Grundlagen erarbeitet wurden, fast „handwerklich“ vermittelt bekommen und im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang auch selbst unter möglichst realistischen (Tatort-)Bedingungen anwenden. Die hierfür geeigneten Lernumgebungen sind das von mir koordinierte Kriminaltechnikzentrum an der HWR Berlin als auch die sogenannte Tatortstraße der Polizeiakademie der Polizei Berlin.


Die ersten Planungen eines vollständigen Transfers der Kriminaltechnik-Lehre in Online-Lernformate mussten schon in der Konzeptionsphase verworfen werden, weil anzuerkennen war, dass Online-Lehrformate die praktischen Lernumgebungen nicht abbilden können; praktische Übungen können nicht durch didaktische Formate der Online-Lehre ersetzt werden! Aufgrund dessen war es notwendig, auf eine Hybrid-Lösung umzustellen. Dazu mussten für einen Kompetenzerwerb Schwerpunkte zwischen theoretischer Wissensvermittlung und praktischen Übungsanteilen zugunsten der Theorie verschoben werden. Daraus resultierende, zu erwartende Nachteile konnten durch eigens angefertigte Lehrvideos in Verbindung mit interaktiven Tools zur Selbstüberprüfung des erworbenen Wissens vermieden werden. Zumindest interessierte Studierende, die für den erlebnispädagogischen Ansatz zugänglich sind, können animiert werden, sich auf diese Art den Lehrstoff beinahe „spielerisch“ zu erschließen. Aufgrund der Erfahrungen aus zwei Online-Semestern kann konstatiert werden, dass lernpädagogisch ein Mehrwert aus der Kombination dieser Form der theoretischen Wissenserarbeitung und praktischen Übung generiert werden kann.

Nennen Sie bitte die dabei für Sie wichtigsten Unterschiede gegenüber der Präsenzlehre.

Matzdorf: Hinsichtlich der theoretischen Wissensvermittlung haben sich einige gravierende Unterschiede in der Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden ergeben. Die von mir in der Kriminaltechnik-Lehre dargebotenen Fallbeispiele sind ausnahmslos reale kriminalpolizeiliche Ermittlungsfälle (bspw. Sachverhalte der Alltagskriminalität, atypische Selbsttötungen, Branddelikte, Sexualdelikte, aber auch spektakuläre Tötungsdelikte), woraus sich Zweierlei ergibt: erstens die Notwendigkeit eines vertraulichen Umgangs mit dem Material und zweitens eine „enge“ Begleitung der Studierenden, die teilweise mit für sie belastenden Inhalten konfrontiert werden. Es ist erforderlich, die Lehrinhalte mit einem besonderen Fingerspitzengefühl darzubieten und achtsam mit den Studierenden zu interagieren. Zwischen mir und meinen Studierenden entsteht dadurch eine intensive Bindung, die letztlich auch erfolgskritischer Faktor für den Lernerfolg ist. Genau hier werden weitere Grenzen der Online-Lehre besonders deutlich: Eine Erörterung vertraulicher und für Unbeteiligte schockierender Inhalte ist aufgrund der theoretisch gegebenen Öffentlichkeit (Internet), der besonderen Lernatmosphäre, in der die Studierenden sich befinden (Wohngemeinschaften, familiäres Umfeld mit Kindern im „Homeschooling“ u. a.), und der Möglichkeit des unerlaubten Aufzeichnens der Vorlesung ausgeschlossen. Die erforderliche Bindung kann daher nicht in der angestrebten Intensität zustande kommen. Dies verstärkt die ohnehin vorhandenen Nachteile der Online-Lehre, namentlich die gewollte oder technisch bedingte Unsichtbarkeit und Anonymität der Studierenden.

Welche technischen Hilfsmittel und Systeme kommen aktuell zum Einsatz, um Onlineveranstaltungen abzuhalten? Mit welchen Tools haben Sie persönlich dabei die besten Erfahrungen gesammelt?

Matzdorf: Ich arbeite ausnahmslos mit dem Konferenzsystem „BigBlueButton“, deren Anwenderfreundlichkeit mich überzeugt hat. Als Lernplattform wird an der HWR einheitlich die Kursmanagementsoftware „Moodle“ genutzt.

Gab es Schwierigkeiten bei Klausuren und mündliche Prüfungen, die unter veränderten Bedingungen abgehalten werden mussten? Wenn ja: Welche?

Matzdorf: Die theoretischen kriminaltechnischen Inhalte sind Gegenstand der Kriminalistik-Klausuren, die als Online-Klausuren konzipiert sind. Auch hier spiegelt sich insbesondere die Problematik des Umgangs mit vertraulichen Inhalten wider. Im Ergebnis muss auf die vertraulichen Passagen der Sachverhalte verzichtet werden, was diesen ihre „Lebendigkeit“ und Realitätstreue nimmt. Der praktische Teil der Prüfung wird in der sog. Tatortstraße abgenommen. Hier hatten sich insbesondere im Zusammenhang mit den erforderlichen Hygienemaßnahmen organisatorische Problemstellungen ergeben.

Wie haben sich die Leistungen und Lernerfolge der Studierenden im Zusammenhang mit der Online-Lehre entwickelt?

Matzdorf: Die unter oben beschriebenen besonderen Bedingungen in der Kriminaltechnik-Lehre sowie die damit verbundenen Effekte unter Online-Bedingungen führen zu einem spürbaren Auseinanderdriften der studentischen Leistungen und Lernerfolge. Gefühlt ist nur ein Teil der Studierenden gewillt und in der Lage, die notwendige Motivation für ein Engagement in online-Lernumgebungen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Für mich kristallisieren sich zwei wesentliche Gruppen von Studierenden heraus: die Studierenden, die mit einer hohen Leistungsbereitschaft auch selbstständig interaktive Lernangebote nutzen, unter Beachtung der als Lernhilfen eingestellten Kursmaterialien die Vorlesung vorbereiten und dann auch aktiv teilnehmen und die Studierenden, die diese Angebote nicht nutzen, weitgehend in der Anonymität verschwinden und überhaupt erst bei direkten Ansprachen und auch bei Leistungsüberprüfungen (negativ) in Erscheinung treten.

Gibt es praktische Erfahrungen, die sich dauerhaft auf die Präsenz-Lehre nach überstandener Pandemie übertragen lassen?

Matzdorf: Grundsätzlich ist es der Lehre in der Kriminaltechnik zuträglich, Lehrinhalte in Präsenzformaten darzubieten. Die oben beschriebenen Tools zur selbstreflexiven Lernkontrolle ergänzen das Lernangebot für die Studierenden gewinnbringend, weshalb ich sie beibehalten werde. Weiterhin halte ich die Lernvideos für eine geeignete Möglichkeit, die Präsenzlehre zu unterstützen, insbesondere wenn sie eine Vertiefung der Vorlesungsinhalte ermöglichen.

Wie lauten die drei persönlich wichtigsten Schlagworte, die Ihnen im Kontext der Online-Lehre einfallen?

Matzdorf : Experiment – begrenzte Möglichkeiten – sinnvolle Ergänzung

Hinzufügen möchte ich, dass der Erfolg dieses „Experiments“ und das Ausloten der Potentiale der Online-Lehre zu einem wesentlichen Teil durch das besondere Engagement der in der Kriminaltechnik-Lehre tätigen MitarbeiterInnen des Aus- und Fortbildungsbereiches des Landeskriminalamt Berlin, Kriminaltechnisches Institut Berlin (insbesondere auch wegen ihres Beitrages an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis) und der spezialisierten MitarbeiterInnen der Polizeiakademie Berlin der Berliner Polizei (hier Lehre und Prüfungen im Kontext der sogenannten Tatortstraße) gewährleistet wird. Diese haben sich flexibel auf die schwierige Transformation praktischer Lehrinhalte in Onlineformate eingelassen und die Entwicklung kreativ gefördert!

 

Zur Person:

Prof. Christian Friedrich Matzdorf, Jahrgang 1964,  Professor für Kriminalistik mit Schwerpunkt Kriminaltechnik an der HWR Berlin, davor Polizeivollzugsbeamter im Land Berlin, tätig in der Kriminal- und Schutzpolizei, zuletzt mit dem Dienstgrad eines Polizeidirektors Koordinator des Kriminaltechnikzentrums an der HWR Berlin; Leiter des Krisenstabs der HWR Berlin.

Zur Hochschule:

Die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) ist mit rund 11.400 Studierenden eine der großen Hochschulen Berlins. Sie zeichnet sich durch ausgeprägten Praxisbezug, intensive und vielfältige Forschung, hohe Qualitätsstandards sowie eine starke internationale Ausrichtung aus. Das Portfolio der HWR Berlin umfasst eine große fachliche Bandbreite: Unter einem Dach werden Wirtschaftswissenschaften, privates und öffentliches Recht, Verwaltungs-, Rechts- und Sicherheitsmanagement sowie ingenieurwissenschaftliche Studiengänge angeboten.

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Die Serie: PUBLICUS-Umfrage zur Lehre in der Pandemie



















 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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