26.04.2021

Verbot der Eingliederungshilfe nach der 3. Thüringer Corona-Verordnung

Beschluss des Thüringer Oberverwaltungsgerichts

Verbot der Eingliederungshilfe nach der 3. Thüringer Corona-Verordnung

Beschluss des Thüringer Oberverwaltungsgerichts

Ein Beitrag aus »Die Kommunalverwaltung Thüringen« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Die Kommunalverwaltung Thüringen« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Die Antragsteller – eine Trägerin der Eingliederungshilfe und deren Geschäftsführer – begehren eine einstweilige Anordnung gegen die im Rahmen der durch Notveröffentlichung bekanntgemachte Rechtsverordnung. Diese untersagt Angebote der Eingliederungshilfe für diejenigen Menschen mit Behinderungen, die in besonderen Wohnformen betreut werden. Dieses Verbot wird in § 10 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus (3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) ausgesprochen.

Die Antragstellerin betreibt zwei Einrichtungen mit besonderen Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung und psychisch Kranke. Über die Maßnahme der Eingliederung hat sie mit dem Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie eine Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung abgeschlossen. Das Gericht kann zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus wichtigem Grund eine einstweilige Anordnung nach § 47 Abs. 6 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erlassen, wobei an die vorläufige Aussetzung einer bereits in Kraft getretenen Rechtsnorm ein besonders strengerMaßstab anzulegen ist. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Aussetzung des § 10 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der 3. Thüringer Corona-Verordnung hat Erfolg.

Rechtsgrundlage für das Verbot der Eingliederungshilfe ist § 32 IfSG

Das Coronavirus ist eine übertragbare Krankheit i. S. d. § 2 Nr. 3 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Daher ist die zuständige Stelle – hier das Gesundheitsministerium – zum Handeln verpflichtet. Die Behörde trifft nach § 28 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen. Die Auswahl der Schutzmaßnahmen liegt im Ermessen der Behörde, wobei sich die Maßnahmen auch gegen Dritte richten können. Da sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen im Vorfeld nicht bestimmen lässt, ist die Norm einerseits als Generalklausel ausgestaltet, andererseits betont den zeitlichen Aspekt, sodass Maßnahmen nur getroffen werden dürfen, solange sie erforderlich sind. Dem behördlichen Ermessen sind insgesamt durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Grenzen gesetzt.


Das Robert-Koch-Institut ist der Auffassung, dass es angesichts des dynamischen Infektionsgeschehens ohne wirksame Gegenmaßnahmen zu einer Überlastung des Gesundheitswesens kommt. Die 3. Verordnung soll die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens erhalten. Es ist nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) grundsätzlich Schutzaufgabe des Staats, Leben und Gesundheit zu schützen. Wie der Staat diese Aufgabe wahrnimmt, unterliegt seinem weiten Gestaltungsspielraum, da die Verfassung nur das Ziel vorgibt, nicht aber auf welche Art und Weise das Ziel erreicht werden soll.

Die Unbestimmtheit der Regelung

Die fachlichen Erkenntnisse entwickeln sich ständig weiter und die epidemische Lage ist durch Ungewissheiten geprägt. Durch die weitgehende Reduzierung physischer Kontakte verlangsamt sich die Ausbreitung des Coronavirus. In der Verordnung wird die Eingliederungshilfe fürMenschen mit Behinderungen in besonderenWohnformen untersagt. Es bestehen ernsthafte Zweifel, dass das Ziel der gefahrmindernden Kontaktreduzierung durch das Verbot der Eingliederungshilfe erreicht werden kann.

Die Bestimmung der Rechtsverordnung in § 10 ist hinreichend klar. Die Regelung knüpft an § 90 ff des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) an und untersagt die Eingliederungshilfe. Eine Ausnahme von diesem Verbot soll nur für Versorgungsleistungen bestehen, soweit eine dringende medizinische, psychologische oder ethisch-soziale Notwendigkeit vorliegt. Der Gesetz- und Verordnungsgeber ist gehalten, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, dass die Betroffenen wissen, was verboten oder erlaubt ist und was von ihnen bzw. den hilfegewährenden Stellen verlangt wird. Die Ausnahmebestimmung betreffend die Versorgungsleistungen lässt aber eine solche Bestimmtheit nicht erkennen. § 90 SGB X geht von „Versorgungsangeboten“ aus, die Rechtsverordnung benutzt den Begriff „Versorgungsleistungen“. Leistungen nach dem SGB X z. B. in der medizinischen Rehabilitation werden nur gewährt, wenn sie dringend notwendig sind. Ohne Notwendigkeit ist eine Leistung nicht zu gewähren. Die Dringlichkeit als Abgrenzung von Leistungen, die erlaubt oder verboten sind, ist daher kaum fassbar und nicht geeignet, zwischen verbotenen und erlaubten Leistungen abzugrenzen. Bei den notwendigen Leistungen, die auf ethisch-sozialen Umständen beruhen, ist eine Abgrenzung zwischen Verbotenem und Erlaubtem nicht möglich. Die Regelung ist daher zu unbestimmt.

Zweifel an der Geeignetheit der Regelung

Nach dem Zweck der Verordnung sollen unmittelbare physische Begegnungen infolge der Wahrnehmung von Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen in besonderen Wohnformen unterbunden werden. Die Verordnung spricht daher ein generelles Verbot aus. Eingliederungshilfe wird aber nach § 105 Abs. 1 SGB IX als Dienstleistung, Sach- oder Geldleistung erbracht. Die Leistungen sind nicht per se mit einer physischen Begegnung verbunden und können ein entsprechendes umfassendes Verbot nicht rechtfertigen.

Kontaktbeschränkungen sind im Bereich der Sozialen Teilhabe für Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen nicht erkennbar. Externe Kontakte solcher Menschen werden bereits durch das Besuchsverbot von § 9 der 3. Corona-Verordnung unterbunden. Das Verbot der Eingliederungshilfe kann sich daher nur auf interne Kontakte beziehen und damit auf Kontakte der Menschen mit Behinderung untereinander als auch zwischen den Menschen mit Behinderung und den Dienstleistern. Die Fachkräfte haben aber unstreitig für die Basisversorgung der Menschen mit Behinderung Sorge zu tragen, was durch die Rechtsverordnung nicht verboten ist. Körpernahe Begegnungen sind daher bei der Basisversorgung, die in der aktuellen Situation 24 Stunden am Tag zu bewerkstelligen ist, unumgänglich.

Es sollen durch die Verordnung unerwünschte Gruppenangebote verhindert werden, aber bei den Menschen mit Behinderung in der besonderen Wohnform gehört die Begegnung in der Gruppe zum alltäglichen Ablauf wie auch das Verweilen in den Gemeinschaftsräumen und gemeinsameMahlzeiten. Bei denMitgliedern der Gruppe handelt es sich um einen gemeinsamen Hausstand, für die das Kontaktbeschränkungsverbot und das Abstandsgebot nicht gelten. Die Leistungen im Rahmen der Sozialen Teilhabe bedeuten daher keine zusätzliche Gefahrenquelle für die Ausbreitung des Virus.

Sofern Einrichtungen der Teilhabe an Bildung, zur medizinischen Rehabilitation, zur Beschäftigung geöffnet sind, können Menschen mit Behinderung bei Einhaltung der Sicherheits- und Hygieneanforderungen nicht ausgeschlossen werden, weil dies eine Diskriminierung behinderter Menschen bedeuten würde.

Die Untersagung nicht dringender Eingliederungshilfe ist daher nicht geeignet und nicht angemessen, den Zweck der Kontaktbeschränkung und damit der Eindämmung des Virus zu erreichen. Außerdem unterscheidet die Rechtsverordnung zwischen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, denen Eingliederungshilfe zur Verfügung steht, und Volljährigen mit Behinderung, die von der Eingliederungshilfe ausgeschlossen sind, was nicht nachvollziehbar ist.

Aus dem oben Gesagten folgt daher, dass das Verfahren in der Hauptsache Aussicht auf Erfolg haben wird. Die Folgenabwägung lässt nicht ausnahmsweise eine andere Sichtweise zu. Den Menschen mit Behinderungen sind rechtlich Leistungen eingeräumt. Sie sind angesichts der Pandemie gezwungen, ganztägig in ihren Wohngruppen zu bleiben. Die Betroffenen sind physisch und psychisch in einer besonderen Situation, so dass die Fachkräfte neben zweckmäßigen Leistungen der Eingliederungshilfe auch Leistungen der Teilhabe erbringen. Der Gefahr der Infizierung durch Außenstehende wird schon durch das Besuchsverbot begegnet. Kontakte innerhalb der Wohngruppe bestehen auch zu den Fachkräften im Rahmen der Basisversorgung. Die Gefahrenlage wird nicht größer, wenn die Verordnung ausgesetzt wird. Einem ggf. bestehenden Restrisiko kann als milderes Mittel dadurch begegnet werden, dass die Fachkräfte nur in der jeweiligen Wohngruppe tätig sind und dass keine wohnformübergreifende Gruppenarbeit stattfindet.

Dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Rechtsverordnung ist daher stattzugeben. – (sb)

Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 29.04.2020 – 3 EN 254/20 –.

Kommunalverwaltung Thüringen

 
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