19.04.2021

Sonderrechte für Geimpfte?

Wie beim Thema Corona-Impfung die Grundrechte zu berücksichtigen sind (Teil 1)

Sonderrechte für Geimpfte?

Wie beim Thema Corona-Impfung die Grundrechte zu berücksichtigen sind (Teil 1)

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Zum Schutz von Leben und Gesundheit seiner Bürger hat ein paternalistisch agierender Staat seit Ausbruch der Corona-Pandemie grundrechtliche Freiheitsrechte teilweise erheblich beschränkt. Allmählich wird allerdings die Zahl derjenigen größer, die nach einer Covid 19 Erkrankung jedenfalls vorübergehend immun sind, der Genesenen; es wächst auch – langsam – die Anzahl der Geimpften. Groß ist schließlich die Nachfrage nach Selbst- und Schnelltests, die in wissenschaftlichen Modellversuchen einige Stunden „ertestete Freiheit“ ermöglichen. Verfassungsrechtlich wirft dies die Grundsatzfrage auf, welche Regelungen nunmehr für Personen gelten sollen, von denen nur noch eine geringe Ansteckungsgefahr ausgeht. Einen Teilaspekt davon betrifft das hier behandelte Thema der sog. Sonderrechte für Geimpfte. Für sie stellt sich zum einen die Frage, wie es um ihre Freiheitsrechte steht, d. h. ob die bisher auf der Grundlage des § 28a IfSG ergriffenen Schutzmaßnahmen für sie fortbestehen sollen. Vor allem ist aber zu prüfen – und darauf zielt die Frage nach „Sonderrechten“ ab –, ob es sich gleichheitsrechtlich rechtfertigen lässt, dass insbesondere Geimpften – neben möglicherweise Genesenen und Getesteten – eine andere rechtliche Behandlung als Nichtgeimpften zuteil wird.

I. Ausgangsfall: gemeinsames Speisen Geimpfter im Seniorenheim

Das VG Freiburg hatte Anfang März über den Antrag einer Senioreneinrichtung für betreutes Wohnen zu entscheiden, das seinen Gastronomiebetrieb in einem gemeinsamen Speisesaal, der Kantine „Die Kaffeemühle“, wieder aufnehmen wollte.[1] Geimpfte oder genesene Heimbewohner sollten wieder zusammen speisen dürfen – bewirtet ausschließlich durch geimpftes oder genesenes Personal. Da es sich bei den Wohneinheiten der Senioren um verschiedene Hausstände handelte, waren hierfür Ausnahmen i. S. d. baden-württembergischen Landesverordnung nicht nur von der Betriebsuntersagung, sondern insbesondere auch von den haushaltsbezogenen Kontaktverboten notwendig. Die zuständige Behörde weigerte sich jedoch, solche zu erteilen. Diese ablehnende Entscheidung wurde vom VG Freiburg bestätigt: Es sei derzeit wissenschaftlich nicht bewiesen, dass geimpfte Personen nicht mehr ansteckend seien. In zweiter Instanz hat am 18. März auch der VGH Baden-Württemberg in diesem Sinne entschieden.[2] Bald nach der Entscheidungsverkündung erklärte der Rechtsbeistand des Seniorenheims gegenüber der Presse, dass er gegen die letztinstanzliche Entscheidung des VGH Baden-Württemberg eine Urteilsverfassungsbeschwerde nebst einen Antrag auf einstweilige Anordnung erheben wolle.[3] In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass alle Bewohner, die an den Zusammenkünften teilnehmen wollten, zweimal mit dem Impfstoff von Biotech/ Pfizer geimpft worden seien, was unter Rückgriff auf gleichlautende wissenschaftliche Studien ein deutlich reduziertes Transmissionsrisiko der Geimpften zur Folge habe. Das VG Freiburg und der VGH Baden-Württemberg verwiesen demgegenüber in ihren Judikaten auf den Standpunkt der Robert-Koch-Instituts (RKI). Danach erlaubten es die damals vorliegenden Daten nicht, die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe in Bezug auf die Transmission des Coronavirus abschließend zu bewerten.[4] Insbesondere erfüllte nach dem RKI offenbar die vom Antragsteller zitierte Studie aus Israel und Cambridge, nach welcher der Biontech/Pfizer-Impfstoff auch zu 89 Prozent vor Übertragung auf andere schützen soll,[5] die von ihm aufgestellten, im Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung maßgeblichen wissenschaftlichen Standards nicht.[6]

II. Bedeutung der wissenschaftlichen Standards des RKI

Das RKI verkündet in seinen wissenschaftlichen Stellungnahmen keine unumstößlichen Wahrheiten. So entfalten beispielsweise im Zusammenhang der Impfpriorisierung die Empfehlungen der STIKO, einer Abteilung des RKI, keine normative Bindungswirkung. Vielmehr wird die STIKO ihrerseits durch den neuen § 20 Abs. 2 a IfSG auf die politischen Impfziele des Infektionsschutzgesetzes verpflichtet.[7] An die wissenschaftlichen Aussagen des RKI ist ein Verwaltungsrichter also nicht im normativen Sinn gebunden. Es steht ihm vielmehr frei, den aktuellen Forschungsstand, auf den es letztlich ankommt, selbst zu ermitteln. Doch besteht auf der anderen Seite auch keine judikative Verpflichtung dazu, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes den Standpunkt des RKI anzuzweifeln. Denn die Einholung von Sachverständigengutachten steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts.[8] Ein Ermessensfehler ist erst dann anzunehmen, wenn sich die Notwendigkeit einer weiteren Beweiserhebung aufdrängt.[9] Angesichts der Autorität des RKI ist dies nicht anzunehmen, ohne dass es deutliche Anhaltspunkte dafür gäbe, dass der wissenschaftliche Standpunkt des RKI als Entscheidungsgrundlage nicht ausreicht. Die Nutzung politikberatender Institutionen durch die drei Staatsgewalten bei der Pandemiebekämpfung mag im internationalen Vergleich kritikwürdig erscheinen und daher der Verbesserung bedürfen.[10] Doch de lege lata ist das RKI nach § 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG immerhin „die nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen“. In dieser gesetzlichen Formulierung liegt nicht nur eine Zuständigkeitsbestimmung. Vielmehr geht das Parlament als Vertreter des Volkssouveräns davon aus, dass das RKI in seinen wissenschaftlichen Standard einen Maßstab formuliert, der auch
für die anderen Staatsgewalten einen argumentativen Ausgangspunkt ihrer Entscheidungen markiert. Einen besonderen Stellenwert weist den Empfehlungen des RKI auch das BVerfG zu: Bei der Frage, ob Hygienemaßnahmen eines Gerichts zur Verhinderung einer Ansteckung im Gerichtsgebäude „offensichtlich unzulänglich“ sind, eine mit einer Ansteckung einhergehende Gesundheitsgefährdung zu verhindern, sieht es das BVerfG als ausreichend an, dass das Gericht geeignete Vorkehrungen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr durch ein an den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts orientiertes Hygienekonzept trifft.[11]


III. Untersuchungsgegenstand und Gang der Darstellung

Wenn allerdings wissenschaftlich hinreichend geklärt ist, ob und in welchem Maße Geimpfte weiterhin ansteckend sind, haben Verwaltungsgerichte darüber zu befinden, welche Auswirkungen eine möglicherweise reduzierte Ansteckungsgefahr auf die Freiheitsrechte von Geimpften hat. In diesem Zusammenhang wird nach gegenwärtigen Erkenntnissen wohl zwischen verschiedenen Impfstoffen zu unterscheiden sein, da sich insbesondere für Sinovac eine dem Biontech/ Pfizer-Vakzin vergleichbare Transmissionsreduktion bislang nicht wissenschaftlich hat nachweisen lassen.[12] Jedenfalls dürfte die Entscheidung über die Aufhebung von Freiheitsbeschränkungen für Geimpfte nunmehr auf die Verwaltungsgerichte zukommen. Immerhin heißt es in einem RKI-Bericht an das Gesundheitsministerium vom 04.04.2021: „Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft wurden, spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15. Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis geringer als bei Vorliegen eines negativen AntigenSchnelltests bei symptomlosen infizierten Personen.“ Das Risiko einer Virusübertragung sei „durch Impfung nach gegenwärtigem Kenntnisstand in dem Maß reduziert, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung wahrscheinlich keine wesentliche Rolle mehr spielen.“[13] Folgerichtig hat der VGH Baden-Württemberg im Ausgangsfall des Seniorenheims am 6. April einen Vergleich zwischen dessen Betreiber und der Behörde mit Blick auf die aktuelle Einschätzung des RKI empfohlen,[14] den das Seniorenheim inzwischen angenommen hat. Nach einer terminologischen Klarstellung zum Untersuchungsgegenstand (IV.) soll es im Folgenden einerseits um die Behandlung von Geimpften, Genesenen und Getesteten durch unmittelbar Grundrechtsverpflichtete gehen, d. h. durch den Staat und staatlich beherrschte Unternehmen (V.). Auf der anderen Seite ist zu fragen, welche Formen von Sonderrechten es im Privatrechtsverkehr geben kann, d. h. im Verhältnis zu Rechtssubjekten, die nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind (VI.)

IV. Klarstellung zum Untersuchungsgegenstand

Aus verfassungsrechtlicher Sicht geht es für Geimpfte, Genesene und Getestete[15] weder um die Verleihung von Sonderrechten[16] noch um die Einräumung von Privilegien.[17] Betroffen sind vielmehr die Freiheitsrechte, die ihnen grundsätzlich kraft ihrer Individualität zustehen. Berufsfreiheit, Glaubensfreiheit, Versammlungsfreiheit und allgemeine Handlungsfreiheit findet der Staat vor, er stellt sie nicht erst her.[18] Seine Aufgabe besteht vor allem darin, in seinen eigenen Grenzen zu bleiben und die Ausübung von Freiheitsrechten abzusichern, gerade wenn sie in Kollision zu Grundrechten anderer gelangen.[19] Darüber hinaus hat der Staat Schutzpflichten wahrzunehmen, insbesondere für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger. Darin ist er in seinen Beschränkungen der persönlichen Freiheit teilweise weit gegangen.[20] Jedenfalls sind die verschiedenen Lockdowns der letzten Monate wie auch ihre mediale Rezeption nicht ohne Einfluss auf die Sprachentwicklung geblieben. Freiheitsrechte werden immer mehr als Gegenstände staatlicher Verteilung begriffen. So sucht man nach Kriterien für ihre Zuteilung, ähnlich wie der Impfpriorisierung. Dabei geht es um die Aufhebung oder Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen[21] – für bestimmte Personengruppen unter näher zu definierenden Voraussetzungen. Von echten „Sonderrechten für Geimpfte“ lässt sich hingegen im privatrechtlichen Zusammenhang sprechen – wenn etwa Reiseunternehmen Kreuzfahrten für Geimpfte anbieten oder Restaurants nur für Geimpfte und Genesene öffnen.[22]

V. Behandlung von Geimpften durch unmittelbar Grundrechtsverpflichtete

1. Freiheitsrechtliche Dimension

a) Freiheitsbeschränkung in Verfolgung eines legitimen Ziels

Im ersten Schritt soll es zunächst um die Behandlung von Geimpften durch den Staat und staatlich beherrschte Unternehmen gehen. Die Freiheitsrechte, etwa die Berufsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Versammlungsfreiheit, gewährleisten bestimmte Schutzbereiche, in die der Staat nur unter bestimmten Voraussetzungen eingreifen darf. Ein Eingriff kann zur Gewährleistung des höchstrangigen Schutzguts von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ausnahmsweise verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. § 28a Abs. 3 Satz 1 IfSG konkretisiert dies im Sinne des Schutzes von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Maßstab ist dafür die Ansteckungsgefahr. Zu ihrer Spezifizierung treffen § 28a Abs. 3 Satz 4 ff. nähere Regelungen. Der entscheidende Parameter ist dabei die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Daher lassen sich Freiheitsbeschränkungen für einzelne Grundrechtsträger nur dann verfassungsrechtlich rechtfertigen, wenn sie unter Berücksichtigung dieses Inzidenzwerts zur Erreichung des infektionsschutzrechtlichen Ziels eines Schutzes von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems geeignet, erforderlich und angemessen sind.

b) Geeignetheit

Bei Geimpften – ebenso aber bei Genesenen und Getesteten – fragt sich bereits auf der ersten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung, der Geeignetheit, ob Freiheitsbeschränkungen für die jeweils wissenschaftlich nachgewiesene Zeitdauer deutlich reduzierter Ansteckungsgefahr zur Zielerreichung überhaupt geeignet sind. Denn bei konkret-individueller Betrachtung geht von der Grundrechtsausübung Immuner weder eine Gefahr für Leben und Gesundheit aus noch für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Doch reicht es für die Annahme einer Geeignetheit nach allgemeiner Ansicht aus, dass die Maßnahme für den legitimen Zweck förderlich ist.[23] Unter einem generalpräventiven Blickwinkel ist es immerhin nicht ausgeschlossen, dass die Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen für Immune zu einer schwindenden Akzeptanz Nichtimmuner gegenüber den angeordneten Maßnahmen führt, was dann letztlich die Verwirklichung der Schutzzwecke des § 28a Abs. 3 Satz 1 GG gefährden könnte.[24] Angesichts des hohen Verfassungsrangs von Leben und Gesundheit müssen solche generalpräventiven Erwägungen grundsätzlich miteinfließen. Sie spielen eine umso größere Rolle, je stärker das Gesundheitssystem in der Pandemie an seine Grenzen zu geraten droht. Sie sind andererseits aber einzubetten in ein Gesamtkonzept akzeptanzfördernden staatlichen Handelns, in das in bundesweiter Sicht auch parallel erfolgende Öffnungsmaßnahmen einzubeziehen sind. Nach dieser Maßgabe dürften die meisten Freiheitsbeschränkungen für Geimpfte, Genesene und Getestete weiterhin geeignet sein.

c) Erforderlichkeit

Auf der Ebene der Erforderlichkeit ist zu prüfen, ob bei diesen Personengruppen nicht ein im Verhältnis zur Freiheitsbeschränkung milderes, aber gleich wirksames Eingriffsmittel darin läge, ihren jeweiligen Immunstatus zu kontrollieren. Allerdings müsste eine solche Kontrolle unter Berücksichtigung der örtlichen Personalkapazitäten praktisch durchführbar sein, woran es beispielsweise für den Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs und die dortige Überprüfung von Abständen und Erfüllung der Schutzmaskenpflicht wohl fehlt. Vor allem dürften entsprechende Kontrollen für Nichtimmune nicht sichtbar sein. Denn sonst könnte sich deren Regelakzeptanz verringern.[25] Sichtbare Kontrollen sind vor allem bei der Schutzmaskenpflicht anzunehmen – beispielsweise im öffentlichen Personennahverkehr – oder bei Kontaktverboten in der Öffentlichkeit. Anders ist es in einem privaten, von Nichtimmunen abgeschirmten Bereich. Hier dürfen Geimpften bei nachgewiesen reduzierter Ansteckungsgefahr – ebenso wie Genesenen und Getesteten – gesellige Zusammenkünfte nicht mehr verwehrt werden. Bei Feiern in Alten- und Pflegeheimen beispielsweise müssen die Kontaktbeschränkungen dann nicht mehr beachtet werden. Und wenn ein Geimpfter mit einem Infizierten Kontakt hatte, muss er nach negativer Testung im Fall reduzierter Ansteckungsgefahr nicht zwingend in Quarantäne, anders als dies – auf der Grundlage der inzwischen überholten Stellungnahme des RKI – vom VG Neustadt an der Weinstraße entschieden wurde.[26] Für den oben dargestellten Ausgangsfall (I.) bedeutet dies, dass das VG Freiburg bei nachgewiesen fehlender Ansteckungsgefahr in Zukunft eine Ausnahme annehmen muss – wie sie in der Verordnung der Landesregierung auch eröffnet ist.

d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, der sog. Angemessenheit, ist schließlich darauf abzustellen, ob zwischen der Schwere des Eingriffs und der Bedeutung des verfolgten Zwecks ein angemessenes Verhältnis besteht.
Es hat hier also eine Gesamtabwägung der konträren gesellschaftlichen Interessen stattzufinden.[27] Auch auf dieser Prüfungsstufe muss grundsätzlich die Gefahr schwindender Regelakzeptanz bei Nichtgeimpften berücksichtigt werden. Allerdings kommen für Geimpfte – ebenso wie für Genesene und frisch Getestete – schwere Grundrechtseingriffe, wie sie derzeit insbesondere in die Berufsfreiheit, aber auch in die Kunstfreiheit stattfinden, nicht mehr in Betracht. Dies gilt auch dann, wenn die Kontrolle des Immunstatus für Nichtimmune sichtbar ist, wenn etwa in einer Innenstadt einzelne Läden von geimpften Ladeninhabern nur für Geimpfte geöffnet werden. Hier überwindet also die Schwere des Grundrechtseingriffs das Akzeptanzproblem.

2. Gleichheitsrechtliche Relevanz von Freiheitsbeschränkungen gegenüber Geimpften

Eine Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften ist nur aus sachlichen Gründen möglich. Für ihre Bestimmung gilt ein stufenloser, an der Verhältnismäßigkeit orientierter Prüfungsmaßstab.[28] Danach müssen die Sachgründe für die Ungleichbehandlung umso gewichtiger sein, je stärker die Differenzierungskriterien an Persönlichkeitsmerkmale der Betroffenen anknüpfen, je weniger Möglichkeiten diese haben, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Differenzierungskriterien zu beeinflussen und je intensiver sich die Differenzierung auf die Freiheitsausübung auswirkt.[29]

Das Kriterium des Impfstatus liegt in der Person der von der Differenzierung Betroffenen. Damit nähert es sich den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG an, also etwa Geschlecht, Abstammung, Heimat oder Herkunft. An die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen zwischen Geimpften und Nichtgeimpften sind daher besonders strenge Anforderungen zu stellen.[30] Der zweite Gesichtspunkt – d. h. die Möglichkeit des Grundrechtsträgers, durch sein Verhalten die Verwirklichung der Differenzierungskriterien zu beeinflussen[31] – führt hier dazu, dass an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften besonders hohe Anforderungen solange zu stellen sind, wie noch nicht alle einen Zugang zu Impfstoffen haben – also vermutlich noch sehr lange. Allerdings führt dieses Kriterium nicht automatisch dazu, dass Geimpfte für diesen Zeitraum weiterhin in allen Bereichen dieselben Freiheitseinschränkungen hinzunehmen hätten wie Ungeimpfte. Denn für die infektionsschutzrechtliche Rechtfertigung von Nichtgeimpften kommt es ausschließlich darauf an, ob die jeweilige Freiheitsbeschränkung zum Schutz von Leben, Gesundheit oder Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems geeignet, erforderlich und angemessen ist. Einziges Kriterium ist insoweit die Ansteckungsgefahr. Weitere Kriterien sieht das Regelungsregime des § 28a Abs. 3 IfSG nicht vor. Damit entfaltet der grundrechtliche Freiheitsschutz aber eine prinzipielle Sperrwirkung für weitere Kriterien. Gleichheitsrechtlich ist die fehlende Einflussnahme auf den Immunstatus aber durchaus von Bedeutung: Sie verpflichtet den Staat dazu, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Impfstoff für alle da ist, auch Nichtgeimpften freiheitsrechtliche Spielräume zu verschaffen. Konkret führt dies zur verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates, seine Teststrategien zu optimieren. Unter dem Vorbehalt des Möglichen erstreckt sich dies auf die Kostenfreiheit von Schnelltests und Selbsttests. Entscheidend für die Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften sind allerdings die Intensität des Eingriffs in das Freiheitsrecht und die Dauer der jeweiligen Einschränkung.[32] Dies führt zu einem gleichheitsrechtlichen Differenzierungsgebot nach der Schwere der betreffenden Grundrechtseinschränkung. Auch in gleichheitsrechtlicher Hinsicht ist hier also zu differenzieren zwischen schweren Eingriffen, etwa in Berufs- oder Kunstfreiheit, bei denen ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung von Geimpften und Nichtgeimpten besteht, und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen geringerer Eingriffstiefe, zu denen beispielsweise die Maskenpflicht zu zählen ist.[33]

3. Verwehrung des Zugangs zu öffentlichen Einrichtungen für Nichtgeimpfte

Bislang nicht geplant ist ein Sonderrecht für Ungeimpfte in dem Sinn, dass diesen der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt bliebe – ein Weg, den der Staat ja bei der Masernprävention beschritten hat[34] –, wenn Sie etwa an den Ausschluss nicht Geimpfter von staatlichen Gemeinschaftseinrichtungen denken. Geht es um Einrichtungen, die für die existenzielle Versorgung wichtig sind, etwa staatliche Krankenhäuser, stünden einem Zugangsverbot für Nichtimmune staatliche Schutzpflichten für Leben und Gesundheit entgegen. Bei anderen öffentlichen Einrichtungen, insbesondere im Sport-, Kultur- und Freizeitbereich, könnte eine solche Differenzierung allenfalls in einem – untechnisch so genannten – epidemischen Notstand vorgenommen werden, wenn etwa bei erheblichem Infektionsgeschehen und zu geringer Impfbereitschaft die Bewältigung der Pandemie nur durch deren kurzfristige Erhöhung in Betracht käme.[35] Dann könnte ein sog. Sonderrecht für Geimpfte Baustein eines Impfförderrechts sein – ähnlich wie dies in Israel praktiziert wird.

Ein Beitrag aus dem BDVR-Rundschreiben 2/2021

Der Beitrag wird fortgesetzt

[1] VG Freiburg, Beschluss vom 3.3.2021, Az. 8 K 435/21

[2] VGH Mannheim, Beschluss vom 18.3.2021, Az. 1 S 774/21.

[3] Hierzu und zum Folgenden FAZ Einspruch, Podcast vom 24.3.2021 – Interview mit RA Patrick Heinemann.

[4] https://www.dw.com/de/kann-ich-trotz-corona-impfung-andere-an stecken

[5] Zit. nach T. Aßmann, Israel: Pass für Geimpfte erlaubt wieder Freiheiten, https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/israel-coro na.

[6] Vgl. zur zwischenzeitlichen Anregung eines Vergleichs durch den VGH Mannheim W. Janisch, SZ v. 7.4.2021, S. 2.

[7] BT-Drs. 19/26545, S. 2; kritisch Th. Kingreen, Stellungnahme, Ausschussdrs. 19(14)288(3), S. 7 f.; A. Leisner-Egensperger, Stellungnahme, Ausschussdrs. 19(14)288(9), S. 29 f.

[8] BVerwG NVwZ 1993, 268; NJW 1994, 2633 f.

[9] BVerwG NVwZ 1993, 268.

[10] Dazu für viele A. Busch, in: Florack/Korte/Schwanholz (Hrsg.), Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, 2021, S. 283 ff.

[11] BVerfG, Beschluss v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20, NStZ-RR 2021, 19 (19, 21).

[12] https://www.mdr.de/wissen/corona-impfstoffe-vor-nachteile-100. html; vgl. auch B. Uhlmann, SZ v. 7.4.2021, S. 2.

[13] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/spahn-impfungfreiheit-101.html.

[14] Pressemitteilung des VGH Mannheim v. 6.4.2021; W. Janisch, SZ v. 7.4.2021.

[15] Für ihre zusammenfassende Behandlung auch Augsberg, zit. nach A. Kaufmann, LTO v. 6.4.2021.

[16] So Horst Seehofer, https://www.rnd.de/politik/impfstart-seehoferargumentiert-gegen-sonderrechte-fur-geimpfteKRU3MIKZLCOYTPU4LYZHIL2PFI.html.

[17] So Jens Spahn und Angela Merkel, https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2020-12/corona-impfung-jens-spahn-privilegiengeimpfte.

[18] U. Hufen, Grundrechte, 7. Aufl. 2017, § 1 Rn. 12

[19] Zur Grundsatzdebatte U. Volkmann, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, § 32; vgl. auch J. Schapp, JZ 2006, 581 ff.

[20] Überblick und Kritik bei D. Murswiek, NVwZ-Extra 2021, 1 ff.

[21] So zu Recht Chr. Lambrecht, becklink 2018647; ebenso H.-J. Papier, becklink 2018462.

[22] Dazu D. Lorenz, https://www.lto.de//recht/hintergruende/h/coronaprivilegien-sonderrechte-impfung-indirekte-impfpflicht-verfas sungsrecht-ungleichbehandlung-sachlicher-grund-regelbefol gungsargument/.

[23] B. Greszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz (Stand 2020), Art. 20 Rn. 112; weiterführend A. Leisner, DÖV 1999, 807 ff.

[24] Dies betont V. Boehme-Neßler, NVwZ 2020, 1570 (1571 ff.).

[25] So im Ergebnis auch – wenn auch undifferenziert – WD 3 – 3000 – 001/21, S. 5 f.

[26] VG Neustadt an der Weinstraße, Az.: 5 L 242/21.NW und 243/21. NW.

[27] Überblick bei M. Goldhammer/St. Neuhöfer, JuS 2021, 212 (216 f.).

[28] Grdlgd. BVerfGE 138, 136 (180 f.); vgl. auch BVerfGE 139, 285 (309); U. Kischel, in: BeckOK GG, Art. 3 Rn. 45 ff. m. w. N.

[29] BVerfGE 129, 49 (69); 136, 152 (180); 138, 136 (180 f.); 139, 1 (13); 139, 285 (309).

[30] BVerfGE 139, 285 (309).

[31] BVerfGE 129, 49 (69).

[32] BVerfGE 129, 49 (69); zur Dauer vgl. etwa OVG Saarlouis v. 22.4.2020 – 2 B 130/20, Rn. 25.

[33] Dazu Nds OVG, Beschluss vom 15.12.2020 – 2 ME 463/20: Möglichkeit der inzidenzunabhängigen Anordnung.

[34] Dazu A. Kießling/D. Müllmann, VerfBlog 2020/12/16.

[35] Grstzl. Plädoyer für ein Impfförderrecht bei D. Wolff/P. Zimmermann, NVwZ 2021, 182 ff.

 

Prof. Dr. Anna Leisner-Egensperger

Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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