26.04.2021

Sonderrechte für Geimpfte?

Wie beim Thema Corona-Impfung die Grundrechte zu berücksichtigen sind (Teil 2)

Sonderrechte für Geimpfte?

Wie beim Thema Corona-Impfung die Grundrechte zu berücksichtigen sind (Teil 2)

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Fortsetzung von Teil 1

VI. Sonderrecht für Geimpfte im Privatrechtsverkehr

De lege lata gibt es grundsätzlich keine Möglichkeit, Privaten den Abschluss von Verträgen nur mit Geimpften, Genesenen oder Getesteten zu verwehren. Denn hier gilt der Grundsatz der Privatautonomie, d. h. jeder ist prinzipiell frei darin, ob und mit wem er Verträge schließt. So steht es beispielsweise Vermietern frei, Mietwohnungen nur Geimpften anzubieten, und Konzertveranstalter können ihre Angebote beschränken auf Personen, von denen im Zeitpunkt der Aufführung keine Ansteckungsgefahr ausgeht. Prinzipiell sind Private auch nicht dazu verpflichtet, bei objektiv gleicher Infektionsgefahr, etwa von Geimpften und Genesenen, vergleichbare Vertragsbedingungen zu gewähren. Sie sind vielmehr frei darin, ein eigenes „Sonderrecht“ zu schaffen.

Ausnahmen gibt es im Fall des Kontrahierungszwangs, d. h. im Bereich der privaten Personenbeförderung oder bei Bargeschäften des täglichen Lebens. So dürfte ein privater Taxiunternehmer seine Leistungen nicht auf Personen mit geringem Ansteckungsrisiko beschränken. Nach der sog. Stadionentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2018 ist die privatautonome Gestaltungsfreiheit darüber hinaus in sogenannten spezifischen Konstellationen bei Monopolanbietern und Massenveranstaltungen eingeschränkt.[36] Veranstalter von Fußballspielen oder großen Konzerten dürfen ihre Entscheidungsmacht also nicht dazu nutzen, bestimmte Personen „ohne sachlichen Grund“ auszuschließen.[37] Nun wäre eine unterschiedliche Ansteckungsgefahr zwar ein sachlicher Grund. Bei Gefahräquivalenz von Geimpften, Genesenen und Getesteten für einen überschaubaren Zeitraum gäbe es jedoch keinen Grund für eine Ungleichbehandlung zwischen diesen Personengruppen. Eine Ausdehnung des Diskriminierungsverbots des § 1 AGG auf den Impfstatus kommt nicht in Betracht. Insbesondere liegt hier keine Behinderung vor – und zwar weder bei einer fehlenden Immunität noch bei einem Zustand, in dem eine Impfung medizinisch nicht empfohlen wird, etwa der Schwangerschaft. Denn der Begriff der Behinderung ist in einem sozialrechtlichen Sinn eng zu verstehen. [38] Er soll gerade nicht den Ansatzpunkt für ein allgemeines Diskriminierungsverbot bilden.[39] De lege ferenda wäre es allerdings denkbar, den Impfstatus in den Diskriminierungskatalog des § 1 AGG aufzunehmen. Diskutiert wird dies insbesondere für die Phase, während derer der Staat noch keinen Impfstoff für alle zur Verfügung stellt.[40] An dieser Stelle öffnet sich die Untersuchung der ethischen Dimension einer besonderen Behandlung von Geimpften.


VII. Bevorzugung Geimpfter als Kehrseite der Impfpriorisierung

Wer rechtspolitisch ein privatrechtliches Diskriminierungsverbot fordert, greift ein in der Bevölkerung verbreitetes Gerechtigkeitsempfinden auf. Hier wird oft die Aufhebung von Freiheitsbeschränkungen bei Geimpften – unabhängig davon, ob sie durch den Staat erfolgt oder im Privatrechtsverkehr stattfindet – als zweiter Akt einer doppelten Privilegierung angesehen[41] Die erste Privilegierung in der Impfung, die zweite Privilegierung liegt in Sonderrechten. Gerade aus Sicht jüngerer Menschen, die auf ihre erste Impfung noch monatelang werden warten müssen, mag es in der Tat schwer nachvollziehbar sein, dass sie weiterhin teils erhebliche Freiheitsbeschränkungen auf sich nehmen müssen, während diejenigen, für deren Wohlergehen sie sich selbst kasteien, „im Flieger nach Mallorca sitzen.“ Doch ist andererseits auch zu sehen, dass alle Freiheiten, welche die Jüngeren in manchen Phasen der Pandemie genießen konnten, etwa im Herbst letzten Jahres, teils erhebliche Gefahren für die Älteren darstellten – gerade eine teilweise inzidenzunabhängige Öffnung der Schulen. Das Sterben in den Heimen ist bislang weder in seinen infektionstechnischen Zusammenhängen noch in der politischen Verantwortung aufgearbeitet. Erst wenn dies geschehen ist, lässt sich ein Urteil darüber fällen, inwieweit gefühlte Ungerechtigkeit in einer objektiven Sicht gerechtfertigt ist. Unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel ist „Neidvermeidung“ jedenfalls kein Schutzgut.[42] Vielmehr ist die Bevorzugung Geimpfter nichts anderes als die Kehrseite der Impfpriorisierung. Neben den bereits breit diskutierten, zahlreichen Fehlern der Coronaimpfverordnung ist ein weiterer Mangel der deutschen Impfstrategie darin zu sehen, dass im parlamentarischen Kontext der Priorisierung nicht darüber gesprochen wurde, welche rechtlichen Folgen sie zeitigt: nämlich die grundsätzlich alternativlose Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen gegenüber Geimpften. Dies macht das aktuell erlassene Gesetz zur Fortgeltung der epidemischen Lage, in der die Coronaimpfverordnung erstmalig eine parlamentarische Legitimation erhält, zwar nicht wegen mangelhafter Begründung verfassungswidrig. Denn die Begründungsanforderungen an den Gesetzgeber dürfen nicht überspannt werden. Doch zeichnet die bislang gänzlich ausgebliebene Debatte über die Rechtsfolgen der Impfung ein düsteres Bild des Stands parlamentarischer Debatten. Sie hinken seit Beginn der Pandemie der tatsächlichen Entwicklung hinterher. Damit aber trägt das Parlament eine erhebliche Eigenverantwortung dafür, dass die Corona-Krise nicht nur als Stunde, sondern als Ära der Exekutive im verfassungsrechtlichen Gedächtnis bleiben wird.[43]

VIII. Rechtspolitischer Ausblick

Gefühlte Ungerechtigkeit hat immer etwas mit schematisierender Gleichheit zu tun. Dies ist schon bei kleinen Kindern so. Das ältere Geschwisterkind erscheint doppelt privilegiert – weil es größer ist und weil es auch noch mehr darf. Doch kann die Lösung dieses Problems – aus elterlicher Sicht – nicht darin liegen, das jüngere Kind abends unbegrenzt herumtollen zu lassen. Und so wird es auch Sonderrechte für Geimpfte vorübergehend geben müssen – ebenso wie ein Sonderrecht für Nichtgeimpfte. Damit wird die Vorstellung, dass alle Menschen in Deutschland gleichzeitig – über die Linie – in ihre alte Freiheit gehen, ein Wunschtraum bleiben. Denn auch in der Pandemie lässt sich Freiheit nur dadurch gewinnen, dass man Ungleichheit aushält.[44]

Ein Beitrag aus dem BDVR-Rundschreiben 2/2021

[36] BVerfGE 148, 267ff.; kritisch A. Hellgardt, JZ 2018, 901ff.; V.-P. Heintz, jM2018, 474ff.; F. Michl, JZ 2018, 910ff.; Chr. Smets, NVwZ 2019, 34ff.

[37] BVerfGE 148, 267, LS 2.

[38] BT-Drs. 16/1780, 31.

[39] Vertiefend H. Serr, in: Staudinger (Hrsg.), AGG (2018), § 1 Rn. 28ff.

[40] Befürwortend Th. Kingreen, Stellungnahme, Ausschussdrs. 19(14) 263(2), S. 9 ff.

[41] So insbesondere Angela Merkel, https://www.focus.de/politik/deutschland/eine-analyse-bis-merkel-abtritt-wird-es-keine-rueckkehr-zugrundrechten-geben_id_12895585.html.

[42] Überzeugend L. Amhaouach/St. Huster, VerfBlog 2020/12/31.

[43] Weiterführend V. Boehme-Neßler, DÖV 2021, 243 (243 ff., 251).

[44] Th. Straubhaar/M. Hüther, Gefühlte Ungleichheit: Warum wir Ungleichheit aushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen, 2009.

 

Prof. Dr. Anna Leisner-Egensperger

Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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