20.04.2021

Einmal wählen, aber zweimal zählen?

Überlegungen zum Endergebnis der Landtagswahlen in Baden-Württemberg

Einmal wählen, aber zweimal zählen?

Überlegungen zum Endergebnis der Landtagswahlen in Baden-Württemberg

Es hat sich in Baden-Württemberg gezeigt, dass auch die Grünen in Wahlkreisen siegen können. © Cevahir - stock.adobe.com
Es hat sich in Baden-Württemberg gezeigt, dass auch die Grünen in Wahlkreisen siegen können. © Cevahir - stock.adobe.com

Anm. d. Red.: Dieser Beitrag spiegelt die Meinung des Autors wider.

Das endgültige Ergebnis für die Landtagswahl vom 14.03.2021 in Baden-Württemberg liegt inzwischen vor. Es weicht nicht mehr vom vorläufigen Wahlergebnis ab. Insgesamt zogen aber 154 Abgeordnete in den Landtag von Stuttgart ein. Der Landtag hat regulär aber nur 120 Sitze, aufgeteilt in 70 Erstmandate und 50 sog. „Zweitmandate“. Der Wähler hat nur eine Stimme. Listen der einzelnen Parteien gibt es nicht. Weil nur 70 Wahlkreise vorhanden sind, verbleibt eine Personalisierungslücke von 50 Abgeordneten, die gar nicht mit Wahlkreis-Siegern besetzt werden könnten. Und hier kommen die bestplatzierten Wahlkreis-Verlierer zum Zuge. Sie erhalten das Zweitmandat – ein Unikat, das es so nur bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg gibt.

 

I.


Allerdings wird das Wahlergebnis zweimal ausgezählt: Einmal, um nach den Grundsätzen der Verhältniswahl den Stimmenanteil der Parteien zu ermitteln; und zum anderen, um die Person der Abgeordneten zu bestimmen, die konkret in den Landtag einziehen sollen. Obwohl es nur eine Stimme gibt, handelt es sich hier gleichwohl um eine verdeckte Doppelwahl, die dem Grundsatz folgt: einmal wählen, aber zweimal zählen. Und dabei hat sich gezeigt, dass es regelmäßig zu Überhängen kommt, die dann – warum auch immer? – ausgeglichen werden. Und zu allem Überfluss ist der Ausgleich regelmäßig größer als der Überhang.

 

Baden-Württemberg: Landtagswahl v. 14.03.2021

Erst-Mandat Zweitmandat Überhang Ausgleich Endergebnis
Grüne 58 0 13 0 58
CDU 12 30 0 9 42
AfD 0 17 0 4 17
SPD 0 19 0 4 19
FDP 0 18 0 4 18
Soll 70 50 0 0 120
Ist 70 84 13 21 154

Quelle: Landeswahlleiterin, amtliches Endergebnis 2021, eigene Berechnungen.

 

Bei der Landtagswahl vom 14.03.2021 erlangten die Grünen insgesamt 58 Direktmandate, aber nur einen Anteil von 32,6 % aller für die Partei der Grünen abgegebenen Stimmen. Daraus ergibt sich – rechnerisch! – ein Abstand von 13 Sitzen zu dem Stimmenanteil, den die Grünen aus der Verhältnis- oder Parteienwahl erlangt hätten. Nach der gängigen Lesart stehen diese 13 Überhangmandate den Grünen eigentlich nicht zu und müssen ausgeglichen werden.

Die CDU erzielte die verbleibenden 12 Erstmandate aus den insgesamt 70 Wahlkreisen. Hinzukommen aber 50 Zweitmandate. Für die anderen Parteien, die mit ihren Kandidaten in den Landtag einzogen, bleiben also gar keine Erstmandate mehr übrig. Sie müssen ihre Stimmenanteile (in den vier Regionen des Landes: Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Tübingen) allein mit Zweitmandaten „personalisieren“. Schon das ist mit dem Grundsatz der gleichen Wahl unvereinbar. Schlimmer noch werden statt 50 aber 84 Zweitmandate vergeben. Denn es kommen 13 Überhänge hinzu, alle bei den Grünen, und 21 Ausgleichsmandate bei den verbleibenden Parteien, die aus den vier Regionen in den Landtag einzogen.

Die Grünen sind in Baden-Württemberg damit, zum zweiten Mal in Folge, als stärkste Volkspartei bestätigt worden. Sie sind auf dem Wege, mit einer deutlich geschwächten CDU – jedoch bei einer bequemen Mehrheit von 100 Sitzen – erneut eine große Koalition zu bilden. Bei sinkender Wahlbeteiligung sind Überhänge bei den Grünen von 8 (2016) auf 13 (2021), die Ausgleichsmandate für die verbleibenden Parteien von 15 (2016) auf 21 (2021) angestiegen. Das ist der bisher höchste Stand an irregulären Mandaten (Überhang und Ausgleich), der jemals erreicht worden ist. Der Landtag ist überfüllt! Es gibt mehr Abgeordnete, als regulär Sitze vorhanden sind.

 

II

Das Wahlverfahren führte bisher jedoch immer zu einer stabilen Regierung und damit auch zur allgemeinen Anerkennung. Es bleibt aber ein tiefgreifendes Problem. Schon in der vorangegangenen Legislaturperiode wurden Änderungswünsche laut. Tatsächlich änderte sich aber nichts. Im Zusammenhang mit der Chancengleichheit von Frauen in der Politik zielten sie auf die Einführung von Listen der Parteien in den vier Regionen (Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Tübingen) ab. Und auf diesen Listen sollten Bewerberinnen in angemessener Zahl auf den Spitzenplätzen „abgesichert“ werden. Schon jetzt gibt es Stimmen, in den anstehenden Koalitionsverhandlungen das Wahlrecht des Landtags erneut auf den Prüfstand zu stellen.

Ein kurzer Blick zurück auf die erste Bundestagswahl von 1949 ist hier besonders hilfreich: Damals konnte der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden, er wurde aber zweimal ausgewertet. Der Wähler hatte 1949 also nur eine Stimme. Trotzdem kam es zu zwei Überhangmandaten, eines in Bremen, das andere in Baden-Württemberg. Schon 1953 wurde das Wahlrecht des Bundes erstmalig abgeändert. Seither wird im Bund wie in 13 von 16 Bundesländern mit zwei Stimmen gewählt: der Erst- und der Zweitstimme. Es liegt also nahe, dass man auch in Baden-Württemberg einen ähnlichen Weg einschlägt und den Wahlzettel zweimal kennzeichnet. Einmal mit der Wahlkreisstimme und noch einmal mit der Landesstimme. Dadurch würde sich wenigstens vermeiden lassen, dass über das „Zweitmandat“ auch Wahlkreis-Verlierer in den Stuttgarter Landtag einziehen. Denn solches Verfahren wirkt wie ein Schildbürgerstreich und ist auf Dauer kaum vermittelbar.

 

III.

So einfach liegen die Dinge aber nicht. Denn es bleiben die Überhangmandate, die nicht nur in Baden-Württemberg, sondern (seit 2013) auch im Bund ausgeglichen werden. Zwei Stimmen sind immer auch zwei Wahlen. Wenn sie nicht untrennbar miteinander verbunden sind und die Zahl der Erstmandate aus der Direktwahl mit der Zahl der Zweitmandate aus der Verhältniswahl deckungsgleich ist, wird es immer Abweichungen zwischen beiden Wahlverfahren geben. Bei einer Wahl mit zwei Stimmen müssen alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt werden. Das liegt in der Natur der Sache.

Warum soll man eine Wahl zweimal auszählen oder von vorneherein mit zwei Stimmen wählen? Eine Stimme ist genug. Und wenn man auf beiden Wegen zu verschiedenen Wahlergebnissen kommt, weil schon die Zahl der Wahlkreise nicht mit der Zahl Sitze in den Landtagen und im Bundestag übereinstimmt, dann gerät man „auf den Holzweg“. Es entstehen die leidigen Überhänge, die zu Ausgleichsmandaten führen. Doch Wahlen werden grundsätzlich ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Es führt kein Weg daran vorbei: Wer das Wahlergebnis nachträglich ausgleicht, der verfälscht es auch. Leider ist das für den Bund höchstrichterlich immer akzeptiert worden (Zuletzt BVerfG v. 25.7.2012, BVerfGE 131, 316).

Nun hat sich in Baden-Württemberg gezeigt, dass auch die Grünen in Wahlkreisen siegen können, und zwar mit großem Abstand vor den früheren Volksparteien, der CDU und der SPD. In 70 Wahlkreisen gingen 58 an die Grünen und nur 12 an die CDU. Bei einer klassischen Direktwahl nach dem „Westminster-Modell“ würden 50 Direktmandate an die verbleibenden Landtagsparteien fallen. Denn Überhang und Ausgleichsmandate wären verschwunden. Mit der gewählten Person, die in den Landtag einzieht, wäre dort auch die Partei vertreten, der sie angehört. Und nicht zu vergessen, der klassischen Direktwahl mit einfacher Mehrheit ist die Sperrklausel fremd. Dadurch verschwinden ganze Parteien von der Bildfläche. Die Verhältniswahl ist also keineswegs gerechter als die Direktwahl.

„Ausgleichssitze sind Zusatzsitze.“ (Vgl. Strelen, in: Schreiber BWahlG 2017, § 6, Rdnr.29.) Niemand ist befugt, dem Wahlergebnis nachträglich weitere Mandate hinzuzufügen. Man stelle sich einmal vor, in Großbritannien würde ein Wahlleiter nach der Wahl auch nur ein einziges Ausgleichsmandat „erfinden“ und zuteilen. Ein Sturm der Entrüstung wäre die Folge.

 

 
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