22.11.2021

Wie die Corona-Krise Aufgaben und Rollen der Sicherheitsakteure in unserer Gesellschaft verändert (3)

Aufgabenverschiebung bei den Polizeibehörden durch ein verändertes Kriminalitätsbild – Teil 3

Wie die Corona-Krise Aufgaben und Rollen der Sicherheitsakteure in unserer Gesellschaft verändert (3)

Aufgabenverschiebung bei den Polizeibehörden durch ein verändertes Kriminalitätsbild – Teil 3

Ein Beitrag aus »apf Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »apf Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

In den vorangegangenen Teilen 1 und 2 der Reihe standen originäre und subsidiäre Zuständigkeiten bzw. die mit der Durchsetzung von Maßnahmen zum Infektionsschutz verbundenen Herausforderungen im Blickpunkt. Beide Themen betreffen das Berufsfeld der kommunalen Ordnungsdienste, bei dem durch die Corona-Pandemie die wohl weitreichendsten Veränderungen aufgetreten sind. Der gesellschaftliche Ausnahmezustand hat indes Auswirkungen auf eine ganze Reihe von Berufen, insbesondere im medizinischen und sozialen Sektor. In Teil 3 der Reihe geht es um die Auswirkungen auf ein weiteres Berufsfeld der Sicherheitsarchitektur unserer Gesellschaft: die Kreispolizeibehörden. Auch die gefahrenabwehrenden und strafverfolgenden Aufgaben der Kreispolizeibehörden sind durch die Pandemie weitreichenden Veränderungen ausgesetzt.

1. Polizeiliche Kriminalstatistik

Die wohl bekannteste Statistik aus den Reihen der Polizeibehörden des Bundes und der Länder ist die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Sie gibt einen Überblick über die bekannt gewordenen rechtswidrigen Taten und Tatverdächtigen in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. BKA, 2020a). Auch wenn Staatsschutz- und Verkehrsdelikte, Finanz- und Steuerdelikte1 sowie Ordnungswidrigkeiten nicht erfasst sind, ermöglicht die PKS einen vergleichsweisen differenzierten und überregionalen Überblick über die Kriminalitätslage in Deutschland. Nach Übergabe der tabellarischen Daten der Länder an das Bundeskriminalamt (BKA) wird die bundesweite PKS in jährlichem Turnus vom Bundesinnenminister vorgestellt. Seit 2014 erscheint sie nicht mehr als Printausgabe, sondern wird online zur Verfügung gestellt.

Die PKS des Jahres 2019 wurde am 24.03.2020 vorgestellt. Mit dem zeitlichen Verzug zwischen Tatzeiträumen und Veröffentlichung in einer zusammenfassenden Statistik ist die Unmöglichkeit verbunden, Rückschlüsse auf situativ auftretende gesellschaftliche Veränderungen zu ziehen oder kurzfristige Trends ablesen zu können. Eine Veränderung der Kriminalitätslage wird daher erst mit zeitlichem Verzug sichtbar. Die statistische Aufbereitung von Gewaltdelikten gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte erfolgt im ebenfalls jährlich erscheinenden Bundeslagebild des BKA, welches auf der Datengrundlage der PKS erstellt und verschiedene Deliktarten gewalttätiger Verhaltensweisen offenlegt.2 Auch wenn die PKS erst im Nachgang zur Visualisierung von Veränderungen beitragen kann, sind die Strafverfolgungsbehörden zuvor nicht gänzlich frei von übergreifenden Informationen zu den Entwicklungen in der Kriminalitätslage. Zusammenfassungen von einzelnen Deliktsbereichen tauchen an verschiedenen Stellen auf und können als Orientierung für weiteres Handeln herangezogen werden. Ein Beispiel hierfür ist das sogar per App zur Verfügung stehende Einbruchsradar (vgl. Staatskanzlei des Landes NRW), mit dessen Hilfe sich Strafverfolgungsbehörden und auch Bürgerinnen und Bürger über regionale Risiken eines Einbruchs informieren können.


Naheliegend ist, dass sich mit der Veränderung des gesellschaftlichen Lebens Begehungsformen kriminellen Verhaltens verändern und Delikte aus unterschiedlichen Feldern weniger häufig auftreten bzw. in Qualität und Quantität zunehmen. Eine frühzeitige Einschätzung dieser Veränderung ist für die polizeilichen Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Straftatenverfolgung besonders wichtig. Neubert et al. (2020) setzen sich zu diesem frühen Zeitpunkt mit den Auswirkungen der Pandemie auf einzelne Deliktsbereiche auseinander. Auch in diesem Artikel werden einige Veränderungen skizziert. Vorrangiges Ziel ist nicht eine vollumfängliche Darstellung, vielmehr soll über die Neuerungen in einzelnen Handlungsfeldern eine Veränderung der polizeilichen Aufgaben umfänglich beschrieben werden.

2. Veränderungen in der Pandemielage

Die bundesweiten Maßnahmen zur Kontaktvermeidung im März 2020 sowie ab November 2020 und die regionalen Maßnahmen in besonders betroffenen Kreisen haben gesellschaftliche Abläufe in Beruf und Freizeitverhalten gänzlich verändert. Die Bevölkerung war bzw. ist angehalten, zu Hause zu bleiben, was medial durch Kampagnen wie „#WirBleibenZuhause“ des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG, 2020) unterstützt wurde. Freizeitverhalten und auch die Berufstätigkeit wurden ins häusliche Umfeld verlagert (zu Homeoffice in Zusammenhang mit Corona siehe z. B. Frankewitsch et al. 2020). Im Hinblick auf die Pandemiebewältigung sind Maßnahmen der Gefahrenabwehr für die Arbeit der systemrelevanten Polizei und Ordnungsbehörden von zentraler Bedeutung. Die Durchsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen aus den Coronaschutzverordnungen des Landes oder den kommunalen Verfügungen stellen zusätzliche Aufgaben dar und führen im Alltag zu vielschichtigen Herausforderungen für die Einsatzkräfte (zu den spezifischen Belastungssituationen im Polizeiberuf vgl. etwa Scherrer & Urech, 2020; Opielka & Aumann, im Druck/2021).

Zeitgleich ist die Tendenz bei den Straftaten im öffentlichen Raum sowie bei Eigentumsdelikten wie Einbruchsdiebstahl, Taschen- und Trickdiebstählen sinkend. Naheliegend ist, dass sich Kontaktbeschränkungen und der Aufenthalt zu Hause an dieser Stelle auswirken. Anzunehmen ist weiter, dass soziale Kontrolle der Nachbarschaft und auch Reisebeschränkungen, die den überregional agierenden Tätergruppen Ein- und Ausreise erschweren, einen Effekt haben. Zweifelsohne hat das Ausbleiben von Gedrängesituationen in Innenstädten und bei Großveranstaltungen eine Veränderung von Tatgelegenheiten zur Folge. Ein davon gänzlich abweichender Trend war und ist in der Cyberkriminalität zu beobachten. Bereits vor der Corona-Pandemie war eine Deliktsverschiebung von der analogen in die digitale Welt zu verzeichnen (vgl. Münch, 2017; Slabbekoorn, Colman, Klima & de Meyer, 2020). Täter und Opfer verbringen mehr Zeit an elektronischen Geräten und nehmen über soziale Medien am gesellschaftlichen Leben teil. Einem Bericht der Bundesnetzagentur zufolge haben sich Internetnutzungsdauer und -art verändert, z. B. durch Umstellung auf eLearning, eSports, Videokonferenzen, die vermehrte Nutzung von Streaming-Diensten und Onlineshopping (vgl. Bundesnetzagentur, 2020). Problematisch ist, dass sich die Tätigkeiten im Internet außerhalb der sozialen Kontrolle befinden. Kriminelles Verhalten ist an dieser Stelle sehr facettenreich. Es reicht von einfachem Betrug im Warenhandel über die Versendung von Phishing Mails bis hin zu umfangreich angelegten Straftaten wie den Betrug in Zusammenhang mit „Corona-Soforthilfen“ über Fake-Seiten3 oder Hackerangriffe auf die kritische Infrastruktur, z. B. Systeme im Gesundheitssektor4 In der Pandemie erfahren ferner altbekannte Maschen des Trickbetrugs mit der Zielgruppe älterer Menschen eine neue Dimension. Der sog. „Enkeltrick“ oder falsche Polizisten am Telefon5 werden neu in Zusammenhang mit dem Corona-Virus gebracht und damit verbundene Unsicherheiten oder Ängste in der Bevölkerung instrumentalisiert. In diesem Zusammenhang warnt das LKA NRW vor Betrug durch „Fake-Shops‟, falschen Polizeibeamten oder Mitarbeitern des Gesundheitsamts sowie vor angeblichen Impfungen und Corona-Testungen.6 Auch für diesen Deliktsbereich ist anzunehmen, dass die gesellschaftliche Isolation und die geringere soziale Kontrolle die Tatgelegenheiten erhöhen.

Im häuslichen Umfeld war Gewalt, wozu u. a. partnerschaftliche Gewalt sowie Gewalt gegen Kinder zu zählen sind, zweifelsfrei auch vor der Corona-Krise präsent. Zu den Risikofaktoren für häusliche Gewalt gehören struktureller Stress und soziale Isolation (vgl. Gelles, 1979), finanzielle Einschnitte und die dadurch zwingend auferlegten Konsum- und Freizeitverzichte (vgl. Zenke, 1989), aber auch Arbeitslosigkeit und eine familiäre Abgeschiedenheit (vgl. Capaldi et al., 2012). In den pandemiebedingt veränderten gesellschaftlichen Abläufen sind diese Risikofaktoren allesamt erhöht. Durch fehlende Kinderbetreuung aufgrund von Kita- und Schulschließungen, Einschränkungen sämtlicher Freizeitaktivitäten und Homeoffice steigen gemeinsame Anwesenheitszeiten im häuslichen Umfeld. Dazu können aus Quarantänesituationen Stress und Wut resultieren. Ängste vor Infektionen, fehlende Routinen, reduzierte soziale Kontakte und finanzielle Verluste stellen weitere stressinduzierende Faktoren dar (vgl. Brooks et al., 2020). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studie der Technischen Universität München und des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie familiäre Charakteristika aufgeschlüsselt hat, welche mit einer höheren Häufigkeit von emotionaler und körperlicher Gewalt während der pandemiebedingten Ausgangsbeschränkungen assoziiert wurden (vgl. Steinert & Ebert, 2020). In gesetzeskonformer Ausübung ihrer Aufgaben der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung werden auch Einsatzkräfte selbst zu einer Zielscheibe für Gewalt.

Im Kontext der Corona-Pandemie wirken sich verschiedene Faktoren wie gesellschaftliche Verrohungstendenzen oder ein verändertes Protestverhalten der Bevölkerung auf die konfliktäre Arbeit im Polizeiberuf aus. Die Durchsetzung von einschränkenden Maßnahmen der Pandemie-Bewältigung mit grundrechtsrelevanten Eingriffen, z. B. auf Anti-Corona-Demonstrationen, bringt ohne Frage Konfliktpotenzial mit sich. Klar ist aber auch, dass derartige Gewaltdelikte etwa auf Volksfesten, in Gaststätten oder in Fußballstadien aufgrund der bestehenden Verbote in diesen Bereichen der Freizeitgestaltung sinken. Laut einer vorläufigen Zwischenbilanz in NRW ist die Zahl der aktenkundigen Straftaten im ersten Halbjahr 2020 um 23 % gesunken (vgl. Innenministerium NRW, 2020). Mit Blick auf die Entwicklungen in den einzelnen Deliktsbereichen ist anzunehmen, dass die Gefahr einer Verschiebung von Straftaten in das Dunkelfeld besteht. Die Straftaten finden weniger im öffentlich wahrnehmbaren Raum statt, sie gehen aus dem weniger sichtbaren häuslichen Umfeld oder gar aus dem virtuellen Internetraum hervor bzw. finden dort statt. Eine abschließende Beurteilung der Veränderung des Kriminalitätsbildes durch die Corona-Pandemie wird erst mit zeitlichem Verzug und nach der Veröffentlichung der dokumentierten Straftaten in der PKS 2020 erfolgen können.7 Die weiteren Entwicklungen in und nach der pandemischen Lage, insbesondere, was langfristige Effekte auf das Kriminalitätsbild oder gar das subjektive Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung angeht, sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar. Auf der Hand liegt, dass sich mit den beschriebenen Verschiebungen in den Lagefeldern Herausforderungen für die Aufgaben der Polizeibehörden ergeben, sowohl Gefahrenabwehr als auch Strafverfolgung betreffend.

3. Fazit und Ausblick

Die Pandemiebewältigung in der Corona-Krise brachte Einschränkungen des alltäglichen Lebens mit sich, womit eine Veränderung gesellschaftlicher Abläufe einhergeht. Bereits vor Veröffentlichung finaler Statistiken sind Effekte auf die Polizeiarbeit festzustellen, die durch ein verändertes Kriminalitätsbild zu einer Aufgabenverschiebung führen. Langfristige Einflüsse auf verschiedene Deliktsbereiche sind derzeit nicht absehbar und werden voraussichtlich erst nach Überwindung der Corona-Krise zu ermitteln sein. Klar ist, dass die Kreispolizeibehörden sowohl in gefahrenabwehrenden Aufgaben wie der Durchsetzung von Maßnahmen zum Infektionsschutz oder präventiver Aufklärungsarbeit als auch in strafverfolgenden Aufgaben auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren müssen. Den Bereich der Kriminalität betreffend, ist eine genaue Beobachtung der Entwicklungen erforderlich, um adäquat Verschiebungen und neuen Begehungsformen wie beispielsweise dem Betrug in Zusammenhang mit staatlichen Corona-Hilfen begegnen zu können.

Die Information der Bevölkerung durch staatliche Krisenkommunikation, insbesondere über die sozialen Medien, nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Neubert et al. (2020) empfehlen zudem eine Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger mit dem Ziel einer Steigerung der Akzeptanz für die Kontrollfunktion der Polizei. Es bleibt noch abzuwarten, ob sich die Verlagerung der gefahrenabwehrenden und strafverfolgenden Aufgaben auf die Attraktivität des Polizeiberufs und die Wahrnehmung in der Gesellschaft auswirken werden. Als erstes Zeichen für die Argumentation gegen einen Attraktivitätsverlust könnte der Rekord von 11 846 Bewerberinnen und Bewerbern8 für den Einstieg in den Dienst der Polizei NRW gesehen werden. Die Corona-Krise verändert die Arbeitswelten der einzelnen Sicherheitsakteure. An Polizei und Ordnungsbehörden stellt sie darüber hinaus hohe Anforderungen, was die Zusammenarbeit angeht. Beide Berufe haben gemeinsam, dass zumindest im Einsatzdienst zur Aufgabenwahrnehmung eine physische Präsenz unabdingbar ist, während Mitarbeitende anderer Bereiche von flexiblen Arbeitsmodellen profitieren und Aufgaben kontaktreduziert wahrnehmen können. Im nächsten Teil der Reihe „Wie die Corona-Krise Aufgaben und Rollen der Sicherheitsakteure in unserer Gesellschaft verändert“ werden in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten und Grenzen von Homeoffice in Sicherheitsberufen beschrieben.

 

Erschienen in apf Heft 4 2021

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

1 Diese fallen nicht in den Aufgabenbereich der Polizeibehörden.

2 Die letzte Veröffentlichung des Bundeslagebildes Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte für das Jahr 2019 erfolgte am 02.06.2020.

3 Vgl. BKA (2020c): Sonderauswertung Cybercrime in Zeiten der Corona-Pandemie.

4 Cyber-Angriff auf Uniklinik Düsseldorf, online unter: https://www1.wdr.de/nachrichten/hacker-krankenhaeuser-it-sicherheit-100.html.

5 Vgl. LKA NRW (2017): Trickbetrüger zocken immer mehr ältere Menschen ab, online unter https://polizei.nrw/artikel/trickbetruegerzocken-immer-mehr-aeltere-menschen-ab.

6 Vgl. LKA NRW (2021): Betrug mit dem Corona-Virus. Online unter: https://polizei.nrw/betrug-mit-dem-corona-virus.

7 Die PKS 2020 wurde nach Redaktionsschluss für diese Ausgabe inzwischen am 08.03.2021 veröffentlicht. Online unter: https://polizei.nrw/sites/default/files/2021-03/Kriminalstatistik_2020.pdf (Zugriff am15.03.2021 ).

8 Die Zeit. Polizei: Bewerber-Rekord für Kommissar-Ausbildung. Online-Ausgabe vom 30.12.2020. https://www.zeit.de/news/2020-12/30/polizei-bewerber-rekord-fuer-kommissar-ausbildung.

 

– ANZEIGE –

Die Serie: Wie die Corona-Krise Aufgaben und Rollen der Sicherheitsakteure in unserer Gesellschaft verändert

 

 

 

Susanne Aumann

Fachpraktikerin in der Kommunalverwaltung, Lehrbeauftragte am Studieninstitut für kommunale Verwaltung Aachen
 

Dr. Sascha Opielka

Leiter der Fortbildungsstelle im Polizeipräsidium Aachen
n/a