19.11.2021

Pautsch: „Je mehr Erkenntnisse über Covid-19 vorliegen, desto höher die Anforderungen für Grundrechtseinschränkungen.“

PUBLICUS-Interview mit Prof. Dr. Arne Pautsch

Pautsch: „Je mehr Erkenntnisse über Covid-19 vorliegen, desto höher die Anforderungen für Grundrechtseinschränkungen.“

PUBLICUS-Interview mit Prof. Dr. Arne Pautsch

Eine Krise rückt wegen der damit verbundenen Bedrohungslage mitunter auch Selbstverständliches wieder stärker in den Blickpunkt. ©andyller - stock.adobe.com
Eine Krise rückt wegen der damit verbundenen Bedrohungslage mitunter auch Selbstverständliches wieder stärker in den Blickpunkt. ©andyller - stock.adobe.com

Die Pandemie überlagert derzeit das gesellschaftliche Leben. Damit sind zahlreiche rechtliche Fragen verbunden. Professor Dr. Arne Pautsch, der Preisträger des erstmals vom Richard Boorberg Verlag zusammen mit der Hochschule Ludwigsburg verliehenen HVF-Boorberg-Publikationspreises, nimmt zu den aktuellen verfassungsrechtlichen Fragen im PUBLICUS-Interview eine differenzierte Einordnung vor.

Das Grundgesetz, für das wir noch nicht mal einen nationalen Feiertag begehen, ist in der Pandemie stark in das Bewusstsein vieler Bürger gerückt. Die Grundrechte wurden als das wahrgenommen, was sie sind: Abwehrrechte gegen den Staat. Freut Sie das als Jurist?

Pautsch: Eine Krise rückt wegen der damit verbundenen Bedrohungslage mitunter auch Selbstverständliches wie die verfassungsrechtliche Verbürgung von Grundrechten und ihre freiheitssichernde Funktion wieder stärker in den Blickpunkt als zu „Normalzeiten“. Wenn dies dazu beiträgt, den Menschen den Wert vor allem ihrer Freiheitsgrundrechte zu verdeutlichen, dann kann selbst der Corona-Krise am Ende gar noch etwas Gutes abgewonnen werden. Angesichts der zahlreichen und sehr intensiven Grundrechtseinschränkungen in der Pandemie kann aber von wirklicher Freude nicht die Rede sein. Das gestärkte Bewusstsein für die hohe Bedeutung der Grundrechte sollte vor diesem Hintergrund eher als Erinnerung der staatlichen Gewalten an die Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG und an einen sensiblen Umgang mit Freiheitseinschränkungen selbst in Notlagen verstanden werden.


Allerdings fallen vielfach Überinterpretationen des Grundgesetzes oder laienhafte und fehlerhafte Bezugnahmen von Impfverweigerern in diesem Kontext auf. Wie kann und sollte dem begegnet werden?

Pautsch: Fehl- oder Überinterpretationen hat es im Verlauf der Pandemie ja durchaus in vielerlei Hinsicht gegeben, nicht nur auf Seiten von Impfverweigerern. Auch die im Pandemieverlauf und bis heute wahrnehmbare Tendenz zu einer „Verabsolutierung“ des Lebens- und Gesundheitsschutzes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem alles unterzuordnen sei, zur Rechtfertigung von weitreichenden Grundrechtseingriffen ist zuweilen auch recht undifferenziert erfolgt. Begegnet werden kann alledem in erster Linie mit den Mitteln und Methoden des Rechts. Insofern bin ich gespannt, zu welchen Einschätzungen das Bundesverfassungsgericht in Kürze gelangen und welche Maßstäbe es für Grundrechtseinschränkungen in Notlagen formulieren wird.

Sie greifen die geläufige Redensart „Krisenzeiten sind Zeiten der Exekutive“ in Ihrem Beitrag „Corona und Grundgesetz“ auf, der in diesem Jahr den HVF-Boorberg-Publikationspreis gewonnen hat. Hat sich die Exekutive in den letzten 18 Monaten der Pandemie als belastbar gezeigt – und sich bewährt?

Pautsch: Das lässt sich gerade im Hinblick auf die Bewältigung der Corona-Krise pauschal nicht beantworten. Denn es wäre zunächst zu klären, wer oder was mit „der“ Exekutive während der Pandemie gemeint ist. Und hier wird es dann doch recht kompliziert, da die exekutive Bewältigung der Corona-Krise im Bund-Länder-Verhältnis nicht etwa auf der Grundlage eines – verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehenen – Notstandsrechtsregimes erfolgt, sondern ihren Nukleus in einem einfachen Bundesgesetz, dem Infektionsschutzgesetz, findet. Auf der Grundlage dieses nach Art. 83, 84 GG von den Ländern auszuführenden Gesetzes sind aber keineswegs nur Vollzugsakte durch die nach Länderrecht zuständigen Behörden – Schutzmaßnahmen nach den §§ 28 ff. IfSG – erfolgt, sondern „Exekutive“ bedeutete vor allem das Gebrauchmachen von den im IfSG ebenfalls vorgesehenen exekutiven Rechtsetzungsbefugnissen durch die Landesregierungen – nämlich den Erlass landesrechtlicher Corona-Schutzverordnungen. Die Exekutive der Länder ist also gerade mit Blick auf das IfSG nicht nur gesetzesvollziehend tätig geworden, sondern es waren die Landesregierungen als Verordnungsgeber. Zusätzlich sind mit der Feststellung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ weitere Exekutivbefugnisse auf Bundesebene – des Bundesgesundheitsministeriums – hinzugekommen. Alles in allem ist damit ein dichtes Regelungsgeflecht entstanden, das die exekutive Bewältigung der Pandemie auch an ihre Grenzen geführt hat.

Was ist aus Ihrer Sicht beim Handeln der Exekutive positiv zu bewerten, was eher negativ?

Pautsch: Positiv hervorzuheben ist sicherlich die schnelle Reaktionsmöglichkeit der Landesregierungen als Verordnungsgeber auf das zunächst vollkommen unbekannte Covid19-Virus. Das Instrument der Rechtsverordnung ist daher in der Gesamtschau wohl als geeignetes Instrument der Bewältigung von Nichtwissen bei der Abwehr einer Infektionsgefahr zu werten. Vor allem die Korrekturmöglichkeiten durch die Oberverwaltungsgerichte ist ein positiver Aspekt im Interesse der rechtsstaatlichen Gefahrenabwehr. Negativ zu bewerten ist die weitgehende Ausblendung des parlamentarischen Gesetzgebers, obschon mit der Option des Art. 80 Abs. 4 GG – dem verordnungsvertretenden Landesgesetz – durchaus eine wegen der Grundrechtswesentlichkeit gebotene Parlamentsbeteiligung möglich gewesen wäre. Dies ist erst mit den Vorstößen einzelner Länder zur Einführung von Informations- und Beteiligungspflichten der Exekutive gegenüber den Landtagen erfolgt.

Die vierte Welle der Pandemie rollt durch Deutschland. Sie verschärft die Diskussion: Was bedeutet das für die notwendigen Grundrechtseingriffe in einer solchen Krisensituation vor dem Hintergrund der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens, also dem Offenhalten der Schulen, von kulturellen Einrichtungen, Betrieben und Geschäften?

Pautsch: Auch für die vierte Welle gilt das, was auch bei den vorangegangenen Wellen maßgeblich war: Dass Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt, d.h. verhältnismäßig sein müssen. Dies setzt auch weiterhin die gebotene Sorgfalt sowohl des für das Infektionsschutzrecht zuständigen Bundesgesetzgebers als auch der Landesverordnungsgeber voraus, wenn Schutzmaßnahmen erlassen werden. Dies beginnt schon bei der Bestimmung des legitimen Zwecks solcher Maßnahmen: Geht es um die Abwendung der Gefahr einer Überlastung der Intensivmedizin? Oder geht es allgemein darum, Neuinfektionen zu vermeiden? Auch an die Geeignetheit dieser Maßnahmen sind erhöhte Anforderungen zu stellen: Ist z.B. die Eignung nächtlicher Ausgangssperren tatsächlich belegbar, um damit weitgehende Freiheitseinschränkungen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zu rechtfertigen? Das zeigt, dass bereits vor einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne und damit der eigentlichen Güterabwägung hohe Anforderungen an die Rechtfertigung so zahlreicher Eingriffe in das Leben der Menschen zu stellen sind. Und je mehr Erkenntnisse über die Infektionsentwicklung und das Covid19-Virus vorliegen, desto höher und auch differenzierter die Anforderungen an eine Rechtfertigung der Grundrechtseinschränkungen.

Die Diskussion um 2G ist in Politik und Gesellschaft längst angekommen. Welche rechtlichen Argumente sprechen aus Ihrer Sicht dafür, welche Argumente sprechen dagegen, bestimmte Aktivitäten nur noch Geimpften und Genesenen zu gestatten?

Pautsch: Das Problem besteht nach meiner Einschätzung darin, dass mit der Diskussion um 2G das Vorgehen in der Infektionsabwehr ein wenig auf den Kopf gestellt ist. Wenn es darum geht, mit der 2G-Regelung die ungeimpften Personen vom öffentlichen Leben weitgehend auszuschließen und damit einen faktischen Impfanreiz zu setzen, dann stellt sich die Frage, ob es nicht umgekehrt die konsistentere Lösung gewesen wäre, gleich eine gesetzliche Impfpflicht – die durchaus verfassungskonform ausgestaltet werden könnte und nun ja zumindest für einzelne Berufsgruppen diskutiert wird – vorzusehen. Ist also die zutreffende Grundannahme, dass vor allem die Corona-Schutzimpfungen den wirksamsten Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung darstellen, dann wäre eine allgemeine Impfpflicht der wirkungsvollste Weg, dieses Ziel zu erreichen. Der Grundrechtseingriff bei den bislang Ungeimpften wäre gegenüber den Restriktionen, die mit einer sehr strikten 2G-Regelung verbunden sind, nur ungleich höher, aber angesichts der Grundannahme, dass vor allem eine Impfung schützt, verfassungsrechtlich eher zu rechtfertigen.

Die Charité in Berlin hat alle planbaren Operationen wegen der stark steigenden Fallzahlen von Corona-Patienten abgesagt. Wegen der drohenden Überlastung der Kliniken in Deutschland insgesamt laute die Alternative „Lockdown oder 2G“, so SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Wäre ein Lockdown angesichts einer Impfquote von knapp 70 Prozent gegenüber den geimpften Bürgern verfassungsrechtlich vertretbar?

Pautsch: Wenn man – was als wissenschaftliche Erkenntnis zu unterstellen ist – von der Annahme ausgeht, dass Impfungen den besten Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus bzw. wenigstens vor gefährlichen bis lebensbedrohenden Krankheitsverläufen schützen, dann ist das aus den gleichen Gründen verfassungsrechtlich nicht vertretbar wie umgekehrt eine allgemeine Impfpflicht bei verfassungskonformer Ausgestaltung verfassungsrechtlich vertretbar wäre.  Ein abermaliger allgemeiner Lockdown wäre höchstens als Ultima Ratio zu rechtfertigen.

Ist dann 2G nicht eine Zwangsläufigkeit, auch juristisch?

Pautsch: Das könnte man so sehen, gewissermaßen als milderes Mittel gegenüber einem allgemeinen Lockdown. Problematisch ist aus meiner Sicht aber gleichwohl, dass – objektiv betrachtet – damit gegenüber den ungeimpften Personen ein Personenkreis mit etwa der gleichen Intensität vom öffentlichen Leben und damit in weiten Teilen ihres Grundrechtsgebrauchs ausgeschlossen wird wie bei der Unterwerfung unter eine Impfpflicht auch. Die Frage lautet auch hier wieder umgekehrt: Hätte der Gesetzgeber nicht eine allgemeine Impfpflicht einführen müssen, anstatt das damit verbundene Ziel über die Hintertür der 2G-Regelungen zu erreichen? Das kann man verfassungsrechtlich freilich auch anders bewerten, aber die Frage sollte hier jedenfalls aufgeworfen sein. Denn es bleibt ja auch zu fragen, warum von aktuell getesteten ungeimpften Personen höhere Gefährdungen ausgehen sollen als von geimpften oder genesenen Personen, die über keinen aktuellen Test verfügen. Es fragt sich – wollte man weiterhin die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ausschließen –, ob dann nicht eher 3G-Regelungen als das unter Grundrechtsschutzgesichtspunkten mildere Mittel anzusehen sein dürften.

Einzelne Arbeitgeberverbände fordern die Umsetzung von 3G in Betrieben: Bedeutet dies nicht auch eine Lockerung des arbeitgeberseitigen Fragerechts sowie eine ausgeweitete Auskunftspflicht der Arbeitnehmer, um 3G wirksam umsetzen zu können?

Pautsch: Ja, das ist die zwangsläufige Folge – und sie zeigt überdies, dass die Diskussion um die Einführung von „G-Regelungen“ im Arbeitsverhältnis auch einen Grundrechtsbezug im Hinblick auf Art. 12 GG hat.

Ihr prämierter Aufsatz trägt den Untertitel „Verfassungsrecht in Krisenzeiten“: Stoßen wir in der rechtlichen Bewertung von Individualinteressen und gesellschaftlichen Allgemeininteressen in dieser Corona-Pandemie an Grenzen? Gelten für das Verfassungsrecht in Krisenzeiten andere Regeln? 

Pautsch: Dass Gesetz- und Verordnungsgeber bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie an Grenzen stoßen, liegt ja vor allem darin begründet, dass das Coronavirus die nach wie vor nicht vollständig erforschte Unbekannte ist und sich die Infektionsentwicklung und zu ergreifende Gefahrenabwehrmaßnahmen nur schwer prognostizieren lassen. Daraus folgt, dass die gewohnten juristischen Denkkategorien nicht in der Weise zur Geltung kommen können, wie dies in Normalzeiten der Fall ist. Sie dürfen aber auch nicht suspendiert werden, auch nicht faktisch. Es kann nur immer wieder betont werden, dass bei allen Unwägbarkeiten und dem Erfordernis, Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, die übrigen Grundrechte weiter gelten. Konkret: Es ist auch in Krisenzeiten der Rahmen einzuhalten, den die Verfassung vorgibt.

Ich komme zurück zum Anfang unseres Interviews: Sollte unser Grundgesetz dauerhaft am 23. Mai mit einem nationalen Feiertag gewürdigt werden?

Pautsch: Das Grundgesetz steht nach über 70 Jahren als Erfolgsmodell für sich. Das Bundesverfassungsgericht hat als Hüter der Verfassung diese Erfolgsgeschichte begleitet und die freiheitlich-demokratische Grundordnung, ja die Verfassungsordnung begleitet und bestärkt – wie im Übrigen alle Verfassungsorgane. Auch wenn ich sonst weniger zu Pathos und eher zu verfassungspolitischer Nüchternheit neige: Ja, ein Feiertag zu Ehren des Grundgesetzes könnte auch die Krönung dieser Erfolgsgeschichte sein und die Bedeutung der Verfassung stärker ins Bewusstsein rücken.

© privat

Zur Person:

Prof. Dr. Arne Pautsch

Nach Studium der Rechtswissenschaften und Dissertation 2003 an der Universität Göttingen war Pautsch, Jahrgang 1974, zunächst als Jurist in universitären Hochschulverwaltungen tätig, ehe er Bürgermeister einer niedersächsischen Samtgemeinde wurde. Von 2011 lehrte er Öffentliches Recht an der Hochschule Osnabrück. 2014 wurde Pautsch zum Professor für Öffentliches Recht und Kommunalwissenschaften an der Hochschule Ludwigsburg ernannt. Dort ist er Direktor des Instituts für Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie und Dekan der Fakultät I.

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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