15.11.2021

Das Bundesverwaltungsgericht in Zeiten der Pandemie

Interview mit dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert

Das Bundesverwaltungsgericht in Zeiten der Pandemie

Interview mit dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

In den Jahresberichten der vergangenen Jahre wurde über Veranstaltungen und Kontakte des Bundesverwaltungsgerichts berichtet. Aufgrund der Corona-Pandemie mussten im Berichtsjahr 2020 alle wesentlichen Veranstaltungen, Arbeitstreffen, Richteraustausche und ähnliche die rechtsprechende Tätigkeit des Gerichts ergänzenden Aktivitäten abgesagt werden. Dort, wo möglich, wurden digitale Formate genutzt oder Veranstaltungen verschoben. Die Pandemie diktierte ihre Bedingungen aber natürlich auch der rechtsprechenden Tätigkeit. Wie sich die Maßnahmen zum Infektionsschutz konkret auf die Arbeit des Bundesverwaltungsgerichts ausgewirkten und welche besonderen Herausforderungen sich dadurch stellten, schildert der Präsident, Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert, im Interview.

 

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf den sonstigen Arbeitsalltag im Gericht ausgewirkt? Haben Sie hier Veränderungen festgestellt?

Rennert: Sowohl die Rechtsprechung wie die Gerichtsverwaltung wurden vor besondere Herausforderungen gestellt. Als Teil der Bundesverwaltung und als eine im Freistaat Sachsen ansässige öffentliche Institution war das Bundesverwaltungsgericht natürlich unmittelbarer Adressat der Corona- Schutzmaßnahmen, die der Freistaat Sachsen getroffen hat. Die Vorgaben zum Infektionsschutz mussten im Gericht umgesetzt werden. Das führte zum Beispiel dazu, dass das Gerichtsgebäude für Besucher zeitweilig geschlossen wurde, sämtliche Führungen durch das Gebäude abgesagt wurden und auch Veranstaltungen bis auf Weiteres nicht stattfinden durften.


Auf der anderen Seite hat die Corona-Pandemie insbesondere im Bereich der Gerichtsverwaltung die Einführung von digitalen Lösungen im Arbeitsalltag erheblich beschleunigt. Mobiles Arbeiten von zu Hause aus haben inzwischen fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen gelernt – für einige war das eine positive Erfahrung, für andere weniger.

Wie organisiert man Rechtsprechung in Zeiten einer Pandemie? Welche besonderen Herausforderungen haben sich dabei dem Bundesverwaltungsgericht gestellt?

Rennert: Entscheidend ist, dass trotz aller Maßnahmen zum Infektionsschutz die Grundsätze einer rechtsstaatlichen Rechtspflege gewahrt bleiben. Für die Justiz ergeben sich verschiedene Problemfelder im Falle einer Pandemiebekämpfung. Ich veranschauliche das gerne an folgenden drei Beispielen:

1.Organisation des Sitzungsbetriebs

Wir mussten als Erstes die organisatorischen Voraussetzungen schaffen, damit auch in Zeiten einer Pandemie Rechtsprechung nicht nur schriftlich geschieht, sondern weiterhin die überaus wichtigen mündlichen Verhandlungen stattfinden können. Das hauptsächliche Problem beim Sitzungsbetrieb ist die Wahrung der nötigen Abstände sowohl inner- als auch außerhalb des Gerichtssaals.

Dem tragen wir vor allem dadurch Rechnung, dass Verhandlungen und Urteilsverkündungen nur noch in den beiden größten Sitzungssälen des Gerichts durchgeführt werden. Die Bestuhlung sowohl an den Beteiligtentischen als auch im Saal erfolgt so, dass zwischen den Sitzplätzen der erforderliche Mindestabstand gewahrt wird. Den Abstand auf der Richterbank können wir – selbst zu fünft – durch eine entsprechend entzerrte Sitzordnung gewährleisten. Außerdem haben wir Trennscheiben aus Plexiglas aufgestellt, zunächst nur zwischen den Richtern, später dann auch an den Beteiligtentischen. Außerdem gilt das Ein-Saal-Prinzip: An ein und demselben Tag soll grundsätzlich nur ein Senat eine Sitzung abhalten, sodass immer nur ein Saal belegt ist. So können wir verhindern, dass Teilnehmende sowie Zuhörerinnen und Zuhörer mehrerer Sitzungen sich in den Fluren und in der großen Halle aufhalten. Um trotzdem alle anberaumten Sitzungen durchführen zu können, sind die Senate bereit, Sitzungen auch an Montagen und Freitagen abzuhalten und sich insgesamt einer zentral gesteuerten Saalvergabe zu unterwerfen.

Wir hatten aber auch ein Verfahren, das wir aus Platzgründen auslagern mussten. Im September 2020 hat der 9. Senat drei Wochen lang über die Klagen gegen den geplanten Bau des Fehmarnbelt-Tunnels in der Ostsee verhandelt. Mit fast 180 Beteiligten, von Anwälten über Behördenvertreter bis zu Sachverständigen, war bereits im Vorfeld absehbar, dass selbst unser größter Sitzungssaal zu klein ist. Für das Verfahren mussten eigens Räumlichkeiten angemietet und hierfür ein Vergabeverfahren organisiert werden.

2.Teilnahme von Richterinnen und Richtern an Verhandlungen und Urteilsverkündungen

Wir mussten uns außerdem damit auseinandersetzen, wie wir damit umgehen, wenn Richter nicht ins Gericht kommen können, ohne jedoch krank oder im Urlaub zu sein, etwa weil die Anreise wegen Reisebeschränkungen unmöglich ist oder weil man einer sogenannten Risikogruppe angehört und deshalb zu Hause bleiben soll oder weil man Kontakt mit einer positiv getesteten Person hatte und sich vorsorglich selbst in häusliche Quarantäne begeben sollte. Hier ist der Verfassungsgrundsatz des gesetzlichen Richters betroffen, der besagt, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Man könnte auf die Idee kommen, einem Richter, der verhindert ist, eine virtuelle Teilnahme zu gestatten (und technisch zu ermöglichen). Das ist in Deutschland aber bislang nicht zulässig. Zu mündlichen Verhandlungen des Gerichts dürfen nach geltendem Prozessrecht zwar einzelne Prozessparteien oder Zeugen und Sachverständige zugeschaltet werden, wenn der Vorsitzende dies gestattet. Das gilt aber nicht für die Richter. Die streitentscheidenden Richter müssen in der Sitzung anwesend sein. Das gilt im Übrigen auch für die Beratungen der Spruchkörper außerhalb der Sitzung, und damit auch für solche Entscheidungen, die ohne mündliche Verhandlung im Beschlusswege getroffen werden.

Nur die Urteilsverkündung erfordert nicht die Anwesenheit des gesamten Spruchkörpers; hier genügt die Anwesenheit der bzw. des Vorsitzenden oder eines anderen Mitglieds des Senats oder der Kammer. Es gibt Forderungen, die Präsenzpflicht für Richter während der besonderen Ausnahmelage der Corona-Zeit zu lockern. Das hat der Gesetzgeber, wie ich meine, zurecht nicht aufgegriffen. Die Beratung und die Sitzung unter Anwesenden lässt sich durch eine Videozuschaltung nicht vollgültig ersetzen. Zwar mag das in einfach gelagerten Sachen unproblematisch erscheinen. Man sollte aber die allgemeinen Regeln nicht an solchen einfach gelagerten Sachen ausrichten; damit werden die Anforderungen der schwierigeren Sachen verfehlt.

3.Teilnahme von Prozessbeteiligten, Zeugen, Sachverständigen

Anders als Richter können Prozessbeteiligte sowie Zeugen und Sachverständige an einer Gerichtsverhandlung per Video teilnehmen. Diese Möglichkeit sehen die Prozessgesetze schon seit dem Jahr 2013 vor. Die Prozessparteien, ihre Bevollmächtigten sowie geladene Zeugen und Sachverständige können das jeweils für sich beantragen. Ob das Gericht dem Antrag entspricht, liegt in seinem Ermessen. Solchen Anträgen wird in der Regel auch entsprochen. Das Gericht kann die Zuschaltung von Parteien und Anwälten auch von Amts wegen gestatten. Damit wird diesen Beteiligten nicht verboten, gleichwohl anzureisen, es wird ihnen aber freigestellt. Im November 2020 hat erstmals ein Senat des Bundesverwaltungsgerichts von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und aufgrund einer mündlichen Verhandlung entschieden, der Prozessbeteiligte per Video zugeschaltet waren.

Wurden alle für 2020 angesetzten Verfahren durchgeführt oder mussten welche verschoben werden?

Rennert: Während des ersten „Lockdowns“ im März und April 2020 wurden alle terminierten Sachen abgesetzt und auf spätere Zeiten verschoben. Seit Mitte April aber wurden nach meiner Kenntnis sämtliche Termine durchgeführt. Natürlich werden Termine verschoben, wenn ein Prozessbeteiligter erkrankt und deshalb nicht kommen kann; das gilt für eine Corona-Infektion wie für jede andere Erkrankung. Das allgemeine Gesundheitsrisiko bildet aber keinen Vertagungsgrund. Das Bundesverfassungsgericht hat schon im März 2020 klargestellt, dass die verfassungsrechtliche Pflicht der Gerichte zur Rechtsschutzgewähr auch in der Zeit der Pandemie grundsätzlich fort gilt. Daran halten wir uns.

In anderen Ländern wie zum Beispiel in Frankreich wurden die obersten Verwaltungsgerichte umfassend angerufen, um die von den Regierungen verhängten Maßnahmen zum Infektionsschutz auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Jahr 2020 keine einzige Corona- Entscheidung erlassen. Warum?

Rennert: In der Pandemie sind auch in Deutschland innerhalb der Justiz vor allem die Verwaltungsgerichte gefordert. Das betrifft aber in Deutschland bislang nicht auch das Bundesverwaltungsgericht. Das liegt daran, dass in 2020 praktisch alle Gerichtsentscheidungen, in denen Maßnahmen zum Schutz gegen das Corona-Virus gerichtlich überprüft wurden, in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind. Der gerichtliche Rechtszug im Eilverfahren besteht aber nur aus zwei Instanzen. Die Anrufung der dritten Instanz – und damit des Bundesverwaltungsgerichts als oberstes Verwaltungsgericht in Deutschland – ist nur in Hauptsacheverfahren möglich. Im Jahr 2020 wurde kein solches Hauptsacheverfahren beim Bundesverwaltungsgericht anhängig gemacht; das geht nicht so schnell.

Auch wenn keine Arbeitsbesuche und Richteraustausche in 2020 stattfinden konnten, ist die internationale Zusammenarbeit des Bundesverwaltungsgerichts nicht zum Erliegen gekommen. Können Sie einen Einblick geben, was hier im vergangenen Jahr passiert ist?

Rennert: Das Jahr 2020 war das Jahr der Videokonferenzen. Ich selbst habe öfter an Videokonferenzen teilgenommen. Aber im ganzen Haus haben noch viele mehr stattgefunden. Insbesondere für die internationale Zusammenarbeit war die Videokonferenz im Jahr 2020 auf jeden Fall das Format erster Wahl. Hier lautete die Devise: besser virtuell zusammenkommen als gar nicht. Die Erfahrungen des Jahres 2020 haben gezeigt, dass man für bestimmte Themen und Abstimmungen nicht um die Welt reisen muss. Das spart nicht nur Zeit und entlastet den Haushalt, sondern schont auch die Umwelt. Gerade mit unseren langjährigen Partnern wie zum Beispiel den Staatsräten und obersten Verwaltungsgerichten in der Europäischen Union arbeiten wir schon lange zusammen, und die Verantwortlichen kennen sich meist gut. Hier werden wir in Zukunft sicher des Öfteren auf das Format der Videokonferenz zurückgreifen, jedenfalls wenn nur vergleichsweise technische Fragen zu besprechen sind und es nicht so sehr auf die persönliche Begegnung ankommt.

Klar ist aber auch, dass virtuelle Treffen die persönliche Begegnung nicht ersetzen können. Bei einer Videokonferenz herrschen andere Kommunikationsbedingungen als in der persönlichen Begegnung. Gestik und Mimik fallen praktisch fort. Die natürliche Gesprächsdynamik ist unterbrochen, da das Gesprochene zwischen den Gesprächsteilnehmern hin- und hergesendet werden muss. Auch äußere Einflüsse wirken auf das Gespräch ein. Hintergrundgespräche und partielle Abwesenheiten zum Beispiel sind faktisch unkontrollierbar.

All diese Aspekte führen dazu, dass der inhaltliche Austausch in dem Gespräch leidet. Das können wir uns in vielen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit nicht leisten. Daher werden wir, sobald es der Infektionsschutz wieder zulässt, unsere regelmäßigen Arbeitstreffen, Delegationsbesuche und Richteraustausche wieder aufnehmen. Eine wichtige Auswirkung der Pandemie betraf aber unsere Mitwirkung in der Vereinigung der Staatsräte und der obersten Verwaltungsgerichte in der Europäischen Union, der „ACA-Europe“. Das Bundesverwaltungsgericht hatte seit Mai 2018 hier die Präsidentschaft inne. Diese umfasst regulär zwei Jahre. Wegen des weitgehenden Stillstands im laufenden Jahr 2020 wurde die deutsche Präsidentschaft im allseitigen Einvernehmen aber um ein Jahr verlängert und dauert jetzt noch bis Ende Mai 2021. Das erlaubt uns, noch nachzuholen, was wir uns als Programm vorgenommen hatten, in 2020 aber leider absagen mussten.

 

Quelle: Jahresbericht 2020 des Bundesverwaltungsgerichts

Ein Beitrag aus dem BDVR-Rundschreiben 2/2021

 

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert

Präsident des Bundesverwaltungsgerichts
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