09.08.2021

Sonntägliche Ladenöffnungen zur Corona-Kompensation (2)

Möglichkeiten für Kommunen und Landesgesetzgeber – Teil 2

Sonntägliche Ladenöffnungen zur Corona-Kompensation (2)

Möglichkeiten für Kommunen und Landesgesetzgeber – Teil 2

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Von den durch die niedersächsische Corona-Verordnung verhängten Ladenschließungen sind besonders die örtlichen, oft noch inhabergeführten Einzelhandelsgeschäfte in den Innenstädten betroffen. Kommunale Pläne, zur Kompensation ihrer wirtschaftlichen Einbußen zusätzliche sonntägliche Ladenöffnungen zuzulassen, haben vor den Oberverwaltungsgerichten in Lüneburg und Münster nicht bestehen können. Der Beitrag untersucht, welche Handlungsmöglichkeiten den Kommunen und dem Landesgesetzgeber aufgrund der verfassungsrechtlichen Ausgangslage noch verbleiben, um zumindest teilweise oder temporäre Sonntagsöffnungen zuzulassen.

IV. Bewertung der Rechtsprechung

Auf der Basis der vorstehend skizzierten Rechtsprechung des NdsOVG und deren Einpassung in die Sentenzen von BVerfG, BVerwG und OVG NRW zur Sonntagsöffnungsthematik scheint es auf den ersten Blick wenig Erfolg versprechend, wenn Gemeinden de lege lata weiterhin versuchen, Sonntagsöffnungen mit der Intention zu begründen, die pandemiebedingten Verluste des örtlichen Einzelhandels ausgleichen oder zumindest mindern zu wollen. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch feine Risse auf der scheinbar glatten Oberfläche, die es angezeigt sein lassen, doch noch einmal näher hinzusehen.

1) Sonntagsöffnungen de lege lata

Ein nicht unwesentlicher Faktor für die Einordnung und Bewertung der gesamten Rechtsprechung zum Gebot der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen liegt in den tatsächlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Versuche der Ladenöffnung unternommen worden sind. Hier ist eine Differenzierung angebracht (dazu a.). Darüber hinaus ist zu hinterfragen, ob die restriktive Interpretation der einfachrechtlichen Bestimmungen des Ladenöffnungsrechts durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung nicht möglicherweise die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV überdehnt, indem sie einem in der Rechtsprechung des BVerfG angelegten Vorbehalt zu wenig Beachtung schenkt (dazu b.). Das führt drittens zu der Überlegung, ob bei der verfassungsrechtlich gebotenen Betrachtung, welche dem Sonntagsschutz gleich- oder höherrangigen Rechtsgüter eine Ausnahme von der Regel der sonn- und feiertäglichen Arbeitsruhe rechtfertigen können, nicht möglicherweise ein wichtiger Verfassungsbelang zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat (dazu c.).


a) Verschiedene Fallkonstellationen – einheitlicher Maßstab?

Um die zur Anerkennung von Ausnahmen zur Regel der Sonntagsruhe ergangene Rechtsprechung richtig würdigen zu können, ist eine Betrachtung der tatsächlichen Rahmenbedingungen hilfreich, unter denen sie ergangen ist. Insoweit lassen sich nämlich drei unterschiedliche Konstellationen feststellen. Die erste Konstellation kennzeichnet insbesondere die zentrale Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG zum Sonn- und Feiertagsschutz, auf deren Erkenntnisse die Entscheidung des NdsOVG ebenso wie das BVerwG oder das OVG NRW rekurrieren. Sie datiert aus dem Jahr 200938 und ist ergangen vor dem Hintergrund der Vor-Corona-Normalität, als es bereits eine weitgehende Liberalisierung des vormals einheitlichen Ladenschlussrechts hin zu einem föderal ausdifferenzierten Ladenöffnungsrecht gab, in deren Folge die werktägliche Ladenöffnung bisweilen rund um die Uhr ermöglicht wurde. Die an diesen tatsächlichen Befund anknüpfende Aussage des BVerfG, dass ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse von Verkaufsstelleninhabern und ein alltägliches Erwerbsinteresse potenzieller Käufer grundsätzlich nicht genügten, um flächendeckende Ausnahmen von dem verfassungsunmittelbar verankerten Sonntagsschutz zu gestatten, leuchtet unmittelbar ein. Denn den hinter diesen Interessen stehenden Grundrechten aus Art. 12 GG und Art. 2 Abs. 1 GG wurde bereits ausreichend durch die erweiterten werktäglichen Ladenöffnungszeiten Rechnung getragen, sodass sie zwar als dem Sonntagsschutz grundsätzlich gleichrangige Rechtsgüter39 anzusehen sind, aber angesichts ihrer bereits umfassenden Verwirklichung im „Regelzustand“ zu wenig Gewicht entfalten können, um eine Ausnahme von der Sonntagsruhe rechtfertigen zu können.40

Die zweite Konstellation, unter die auch die Entscheidung des NdsOVG vom 10.09.2020 fällt, ist gekennzeichnet von den Beschränkungen der „neuen Normalität“ unter Corona- Bedingungen. Neben längerfristigen Veranstaltungsverboten und kurzzeitigen Schließungen des Einzelhandels sind es vor Hygienekonzepte (Maskenpflicht für Personal und Kunden, beschränkte Kundenanzahl pro qm Verkaufsfläche u. a.), die neue Kosten verursacht und gleichzeitig einen Umsatzrückgang bewirkt haben. Manche Kunden haben die Umstände gar vollständig davon abgehalten, den örtlichen Einzelhandel aufzusuchen. Sie wurden dadurch in die Segnungen des „ansteckungsfreien“ Online-handels gelockt.41 Innerhalb dieser tatsächlichen Rahmenbedingungen lassen sich zwei verschiedene rechtliche Unterfälle voneinander trennen. In einer Reihe von Entscheidungen waren Fallgestaltungen zu beurteilen, in denen ursprünglich eine anlassbezogene Ladenöffnung i. S. d. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NLöffVZG und vergleichbarer Vorschriften der anderen Länder42 geplant war, dann aber die Anlassveranstaltung coronabedingt abgesagt werden musste. Getreu der oben geschilderten, erneuerten Annexlehre des BVerwG, nach der von der Anlassveranstaltung selbst und nicht von dem daran anknüpfenden Konsuminteresse die Sonntagsprägung ausgehen müsse, war auch in diesen Fallgestaltungen zwangsläufig eine Sonntagsöffnung zu versagen.43 Die andere Untergruppe bilden anlassunabhängige Sonntagsöffnungen, die damit begründet wurden, die coronabedingten Umsatzausfälle generell oder die aufgrund des Veranstaltungsverbots entfallenen traditionellen anlassbezogenen (Weihnachtsmärkte, Stadtfeste etc.) Sonntagsöffnungen zu kompensieren.

Hier haben die Gerichte mitunter zwar zu erkennen gegeben, dass sie die von den unvorhersehbaren Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie getragenen Beweggründe zur Kenntnis nehmen,44 haben dann aber nach der aus dem „Regelzustand“ bekannten Formel des BVerfG entschieden, dass bloße Umsatz- und Erwerbsinteressen eine Sonntagsöffnung nicht rechtfertigen könnten. So auch das NdsOVG in seinem oben genannten Beschluss.45 Dabei bleibt aber unberücksichtigt, dass es sich hierbei lediglich um eine Kurzformel handelt, die gleichsam nur das Ergebnis umschreibt, das im „Normalzustand“ gilt, wenn die vom BVerfG zur Rechtfertigung von Ausnahmen vom Sonntagsschutz erforderliche Abwägungsentscheidung zwischen Sonntagsschutz und gleichgewichtigen Rechtsgütern angestellt wird. Dass die hierbei zu berücksichtigenden Grundrechtspositionen auf der Gegenseite möglicherweise aber ein anderes Gewicht erhalten haben als noch bei der 24-Stunden-Wochenöffnungskonstellation, die der Sentenz des BVerfG zugrunde lag, blieb unberücksichtigt. In der dritten Konstellation schließlich erfolgt eine weitere Verschiebung der Gewichte innerhalb dieser Abwägung. Sie ist gekennzeichnet von der Phase ab dem zweiten Lockdown Ende des Jahres 2020, der die wirtschaftliche Situation der örtlichen Einzelhandelsbetriebe noch einmal verschärft hat. Das Veranstaltungsverbot hat sämtliche bereits einkalkulierte anlassbezogene Sonntagsöffnungen46 entfallen lassen, durch den zweiten Lockdown im Einzelhandel sind die finanziellen Einbußen existenzgefährdend geworden. Nur weil die Anforderungen an die Insolvenzmeldepflicht durch die Corona- Sondergesetzgebung stark herabgesetzt sind,47 kann sich ein großer Teil der Einzelhandelsgeschäfte „über Wasser halten“ und über die Kurzarbeitsregelung48 seine Existenz sichern. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Situation deutlich von der in der ersten Konstellation zugrunde gelegten „Rundumversorgung“ mit bis zu 24 Stunden an fünf Tagen in der Woche entfernt hat. Spätestens vor diesem tatsächlichen Hintergrund kann dann aber auch die Annahme einer hinreichenden Berücksichtigung der Grundrechtspositionen von Einzelhändlern und Käufern nicht mehr mit der Formel vom bloßen wirtschaftlichen Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und dem alltäglichen Erwerbsinteresse erfasst werden, sondern es ist die Prüfung, ob zur Rechtfertigung einer Ausnahme Sachgründe von besonderem Gewicht vorliegen, die über diese Interessen hinausgehen,49 neu auszuwerfen. Der geeignete Zeitpunkt dafür wird kommen, wenn es nach Ende der coronabedingten Beschränkungen im Einzelhandel darum gehen wird, dem Einzelhandel neue Zukunftsperspektiven zu eröffnen.

b) Ansatzpunkte in der Rechtsprechung des BVerfG

Einen Ansatzpunkt, wie diese andere Bewertung der grundrechtlichen Positionen Eingang in die Beurteilung, ob ein „sonstiger rechtfertigender Grund“ i. S. d. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 NLöffVZG vorliegt, finden kann, hat das BVerfG selbst aufgezeigt. In der vom NdsOVG rezipierten Entscheidung des BVerfG zum Sonn- und Feiertagsschutz formuliert der erste Senat:50 „Auf dieser Grundlage ergibt sich, dass gesetzliche Schutzkonzepte für die Gewährleistung der Sonn- und Feiertagsruhe erkennbar diese Tage als solche der Arbeitsruhe zur Regel erheben müssen. Hinsichtlich der hier in Rede stehenden Ladenöffnung bedeutet dies, dass die Ausnahme eines dem Sonntagsschutz gerecht werdenden Sachgrundes bedarf. Ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse (,Shopping- Interesse‘) potenzieller Käufer genügen grundsätzlich nicht, um Ausnahmen von dem verfassungsunmittelbar verankerten Schutz der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zu seelischer Erhebung an Sonn- und Feiertagen zu rechtfertigen. Darüber hinaus müssen Ausnahmen als solche für die Öffentlichkeit erkennbar bleiben und dürfen nicht auf eine weitgehende Gleichstellung der sonn- und feiertäglichen Verhältnisse mit den Werktagen und ihrer Betriebsamkeit hinauslaufen.

Dem Regel-Ausnahme-Gebot kommt generell umso mehr Bedeutung zu, je geringer das Gewicht derjenigen Gründe ist, zu denen der Sonn- und Feiertagsschutz ins Verhältnis gesetzt wird und je weitergreifend die Freigabe der Verkaufsstellenöffnung in Bezug auf das betroffene Gebiet sowie die einbezogenen Handelssparten und Warengruppen ausgestaltet ist.“ Aus dieser Passage des verfassungsgerichtlichen Urteils folgt dreierlei. Zunächst stellt das Gericht durch die Formulierung am Ende klar, dass die Beurteilung, inwieweit das Regel-Ausnahme-Gebot durchbrochen werden kann, zentral vom Gewicht der für die Sonntagsöffnung angeführten Belange abhängt. Hier liegt der rechtliche Ansatzpunkt, um der vorstehend unter a) geschilderten dreiphasigen Verschiebung in der Schwere der Grundrechtsbetroffenheit des Einzelhandels Rechnung tragen zu können. Zweitens wird erkennbar, dass das BVerfG für seine Aussage, Umsatz- und Erwerbsinteressen seien nicht ausreichend, auf den „Normalzustand“ abgehoben hat. Denn die angestellte Bewertung bezieht sich auf ein „bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse“.

Dieser Einschränkung hat das NdsOVG nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn es die infolge der Corona-Einschränkungen drohende Existenzgefährdung einzelner Betriebe und die damit zwangsläufig einhergehende Arbeitslosigkeit der im stationären Einzelhandel Beschäftigten außer Betracht lässt oder zumindest nivellierend ebenfalls als ein „bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse“ ansieht.51 Hier ist eine andere Betrachtungsweise angebracht. Ähnlich, wie angesichts der Instrumentalfunktion öffentlicher Unternehmen bei jeder kommunalwirtschaftlichen Betätigung das Erwerbsinteresse immer nur Mittel zur Verwirklichung eines öffentlichen Zwecks sein kann,52 verfolgen die Städte mit dem Instrument der kompensatorischen Sonntagsöffnung zum Ausgleich der massiven Corona- Verluste (spätestens in der oben geschilderten dritten Phase) nicht das Primärziel, die Umsatzinteressen des Einzelhandels zu bedienen. Die Umsatz- und Erwerbsinteressen sind vielmehr nur ein Zwischenziel, ein Mittel zur Verwirklichung eines darüber hinausgehenden öffentlichen Zweckbündels, von denen die Erhaltung der existenzgefährdeten Einzelhandelsstruktur sowie zahlreicher Arbeitsplätze im Einzelhandel nur die offensichtlichsten Ziele sind.53 Drittens bleibt Raum zur Berücksichtigung solcher Aspekte, weil das Bundesverfassungsgericht seine Aussage zum „bloßen“ wirtschaftlichen Umsatzinteresse noch zusätzlich unter einen Vorbehalt stellt. Dieses genüge, so formuliert es der Erste Senat, „grundsätzlich nicht, um Ausnahmen von dem verfassungsunmittelbar verankerten Schutz der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zu seelischer Erhebung an Sonnund Feiertagen zu rechtfertigen“.54

Somit verbleibt also noch Raum zur Berücksichtigung von Sonderkonstellationen, den weder das NdsOVG noch die sonstigen Verwaltungsgerichte bislang für ihre Erwägungen genutzt haben. Wenn man hier auf die strukturpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Effekte der Corona-Pandemie abstellt, zeigen sich „besonders gewichtige Sachgründe“,55 die eine Ausnahme von der Sonntagsruhe sachlich eher rechtfertigen können als eine x-beliebige Anlassveranstaltung („Stadtfest“), die bereits zur Durchbrechung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NLöffVZG taugt. In diesem Kontext ist dann auch das Gegenargument der Oberverwaltungsgerichte zu hinterfragen, dass die coronabedingten Sachgründe keine Relevanz hätten, weil sie stets landes- und bundesweit angeführt werden könnten.56 Diesen Gedanken zu Ende gedacht, würde eine nur örtlich begrenzt für einen kleinen Teil von Einzelhandelsgeschäften vorliegende desaströse wirtschaftliche Lage eine sonntägliche Ladenöffnung rechtfertigen, während eine Existenzbedrohung derselben örtlichen Geschäfte, die ihren Grund aber in einer bundesweit anzutreffenden dramatischen Krise findet, ohne jegliche Relevanz wäre – eine Konstellation, die in der Literatur bereits als Überhöhung des Sonntagsschutzes im Angesicht der Corona-Krise kritisiert wurde.57

c) Mittelstandsförderung als zusätzlicher Verfassungsbelang

Soweit das BVerfG betont hat, dass Ausnahmen von der Sonn- und Feiertagsruhe nur zur Wahrung höher- oder gleichwertiger Rechtsgüter möglich sind,58 haben es sich die Verwaltungsgerichte, wie unter a) und b) zu zeigen versucht wurde, zu leicht gemacht, indem sie die Grundrechtspositionen des betroffenen Einzelhandels und der Käufer schlicht nach dem „Normalzustand“, der noch der Entscheidung des BVerfG von 2009 zugrunde lag, bewertet und die damalige Einschätzung des BVerfG übernommen haben. Die zwischenzeitlichen Intensivierungen der Grundrechtsbetroffenheit blieben hierbei in der Sache ausgeblendet. Zusätzlich zu diesen grundrechtlich abgesicherten Rechtsgütern ist in diesem Kontext aber noch ein weiterer Verfassungsbelang zu berücksichtigen, der in der bisherigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung noch völlig außer Betracht geblieben ist: der verfassungsrechtliche Schutz des Mittelstandes.

Anders als in sechs anderen Bundesländern, in denen sich – dem Vorbild des Art. 164 WRV folgend – der Verfassungsrang des Mittelstandsschutzes bereits aus den Landesverfassungen ergibt,59 kennt Niedersachsen einen solchen Mittelstandsförderungsartikel nicht und hat auch – soweit ersichtlich – bislang kein spezielles Mittelstandsförderungsgesetz erlassen.60 Aber auch in den Ländern, deren Verfassungen – wie auch das Grundgesetz – dem Mittelstand im Normtext keinen expliziten Raum einräumen, bedeutet das nicht, dass diese dem Mittelstand in Gewerbe, Handwerk und Handel keine verfassungsrechtliche Wertschätzung zuteilwerden lassen. Es fehlt an dieser Stelle der Raum, um die Herleitung im Einzelnen ausbreiten zu können,61 doch ist mit Blick auf das Grundgesetz und die übrigen Verfassungen ohne Mittelstandsartikel im Ergebnis festzustellen, dass den mittelständischen Grundrechtsträgern in der Rechtsprechungspraxis eine Modellfunktion für die Ausgestaltung der wirtschaftsrelevanten Grundrechte zukommt und demzufolge der Schutz des Mittelstandes eine hohe Valenz bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen genießt.

Letztlich ergibt sich eine Verpflichtung, mittelstandsfördernde Maßnahmen zu ergreifen, für Bund und Länder gleichermaßen mittelbar aus der in Art. 109 Absatz 2 GG angeordneten Orientierung an den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.62 Dieser aus der Verfassung folgenden staatlichen Verpflichtung zur Förderung und zum Schutz des Mittelstandes kam im empirischen „Normalfall“, der der Beurteilung durch das BVerfG im Jahr 2009 zugrunde lag, in Anbetracht der gesicherten normalen werktäglichen Öffnungszeiten keine entscheidende Relevanz zu. Die Berücksichtigung dieser staatlichen Verpflichtung kann aber in Konstellationen, in denen die inhabergeführten kleinen Handelsgeschäfte in den Innenstädten existenziell bedroht sind, als ein dem Sonntagsschutz gleichwertiges Rechtsgut durchaus ein die betroffenen subjektiven Grundrechtspositionen ergänzendes objektives Gewicht zukommen, das für die ausnahmsweise Gewährung zusätzlicher, zeitlich, räumlich und eventuell auch warenartbezogener begrenzter Sonntagsöffnungszeiten spricht.

 

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

VBlNds 4/2021

 

38 BVerfG, Urt. v. 01.12.2009 – 1 BvR 2857, 2858/07, BVerfGE 125, 39 ff.

39 Zur Notwendigkeit des Vorliegens gleich- oder höherwertiger Rechtsgüter, um eine Ausnahme der Sonn- und Feiertagsruhe zu rechtfertigen s. BVerfGE 125, 39, 85; 111, 10, 50.

40 In diesem Sinne dann etwa auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.05.2020 – OVG 1 B 6.19, BeckRS 2020, 11973 zu zusätzlichen Sonntagsöffnungen im ersten Halbjahr 2018.

41 Laut Statistischem Bundesamt haben stationäre Warenhäuser im Vergleich der 2. Quartale 2020 und 2019 einen realen Umsatzverlust von 21,3 % hinnehmen müssen, während im Onlinehandel im gleichen Zeitraum der reale Umsatz um 32 % gewachsen ist, vgl. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr N063 vom 05.10.2020, https://www.destatis.de/ DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/10/PD20_N063_45212.html (Abruf am 23.01.2021).

42 Vgl. z. B. § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LÖG NRW, § 6 Abs. 2 BerlLadÖffG; § 8 Abs. 1, 2 SächsLadÖffG.

43 Zu solchen Konstellationen z. B. OVG NRW, Beschl. v. 06.11.2020 – 4 B 1715/20.NE, BeckRS 2020, 30131, OVG NRW, Beschl. v. 27.11.2020 – 4 B 1879/20.NE, BeckRS 2020, 33318; Beschl. v. 06.11.2020 – 4 B 1715/20.NE, BeckRS 2020, 30131.

44 Vgl. etwa VG Oldenburg, Beschl. v. 10.09.2020 – 7 ME 89/20, BeckRS 2020, 22376, Rn. 23.

45 NdsOVG, Beschl. v. 10.09.2020 – 7 ME 89/20 – in diesem Heft, S. 122 ff. = NordÖR 2020, 588, 589.

46 Dazu auch Schink/Ley, NWVBl. 2020, 485.

47 Vgl. § 1 Abs. 3, § 2 Abs. 5 COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz v. 27.03.2020 (BGBl. I 2020, S. 569), zul. geänd. d. Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2020, S. 3256).

48 Vgl. § 95 SGB III i. V. m. § 1 der Verordnung über Erleichterungen der Kurzarbeit (KugV) v. 25.03.2020 (BGBl. I 2020, S. 595), zul. geänd. d. VO v. 21.10.2020 (BGBl. I 2020, S. 2259).

49 BVerfGE 125, 39, 87 f., 90 f.

50 BVerfGE 125, 39, 87 f. – Hervorhebungen durch Verf.

51 Vgl. auch die gleichgerichtete Kritik an der Rechtsprechungslinie des OVG NRW von Schink/Ley, NWVBl. 2020, 485, 492.

52 Allg. Auffassung, vgl. nur Löwer, VVDStRL 60 (2001), 416, 434 f.; Mann, Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002, S. 14 f, 89; ders., JZ 2002, 819 f.; Freese, in: Blum/Häusler/Meyer (Hrsg.), NKomVG, 2. Aufl. 2012, § 136 Rn. 16; Erdmann, in: Ipsen (Hrsg.), NKomVG, 2011, § 136 Rn. 11 f.

53 Ähnlich Schink/Ley, NWVBl. 2020, 485, 492.

54 BVerfGE 125, 39, 87.

55 BVerfGE 125, 39, 85, 87.

56 NdsOVG, Beschl. v. 10.09.2020 – 7 ME 89/20 – in diesem Heft, S. 122 ff. = NordÖR 2020, 588, 588 f.; OVG NRW, Beschl. v. 03.09.2020 – 4 B 1253/20.NE, BeckRS 22796 Rn. 19; OVG NRW, Beschl. v. 04.09.2020 – 4 B 1312/20.NE, BeckRS 23185 Rn. 8.

57 Vgl. Schink/Ley, NWVBl. 2020, 485, 491.

58 BVerfGE 125, 39, 85; 111, 10, 50.

59 Art. 153 BayVerf; Art. 43 HessVerf.; Art. 28 NRWVerf.; Art. 65 RH-PfVerf.; Art. 54 SaarlVerf.

60 Zum Instrument der Mittelstandsfördergesetze ausführlich Willems, Die Förderung des Mittelstandes, 2003, S. 123 ff.

61 Vgl. dazu ausführlich Mann, Mittelstand und Verfassungsrecht, in: Landesvereinigung der Arbeitsgeberverbände Nordrhein-Westfalen e.V., Verband der Metall- und Elektro-Industrie e.V. (Hrsg.), Festschrift für Jochen F. Kirchhoff, 2002, S. 221, 236 ff.; Fröhler, Die staatsrechtliche Relevanz des Mittelstandes, 1968; ders., in Hengstschläger/Köck u. a., FS Schambeck, 1994, S. 199 ff.

62 Dieser verfassungsrechtliche Begriff wird weiter konkretisiert und ausgeformt im Stabilitätsgesetz v. 08.06.1967 (BGBl. I S. 582), zul. geänd. d. Gesetz. v. 31.08.2015 (BGBl. I S. 1474).

 

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Die Serie: Sonntägliche Ladenöffnungen zur Corona-Kompensation 

 

 

 

Prof. Dr. Thomas Mann

Georg-August Universität Göttingen
 

Ronja Westermeyer

Georg-August Universität Göttingen
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