30.08.2021

Niedersachsen im Ausnahmezustand II (2)

Rechtsetzung und Rechtsprechung zur Pandemiebekämpfung – Teil 2

Niedersachsen im Ausnahmezustand II (2)

Rechtsetzung und Rechtsprechung zur Pandemiebekämpfung – Teil 2

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Von Experten vorhergesagt, von der Bevölkerung gleichwohl nicht erwartet, ist in Deutschland eine neue Welle von Corona-Infektionen aufgetreten, die erneut Maßnahmen zu ihrer Eindämmung erfordern. War noch in den Sommermonaten die Meinung verbreitet, das Schlimmste sei überstanden, so traf die neue Infektionswelle das Land mit voller Wucht. Gemessen an den statistischen Parametern der Virologie – Zahl der täglichen Infektionen, Inzidenz- und Reproduktionszahl, Zahl der Todesfälle pro 100 000 Einwohner – ist die zweite Welle der Erkrankungen im Vergleich zur ersten nicht minder bedrohlich. Freilich können Krankenhäuser, Behörden und politische Akteure auf Erfahrungen zurückgreifen, die sich seit dem Ausbruch der Epidemie im März dieses Jahres ergeben haben. Während Medien und wissenschaftliche Publizistik sich zunächst in einer Art Schockzustand befunden haben, mehren sich mittlerweile kritische Stimmen gegenüber den in den letzten Monaten geltenden Einschränkungen persönlicher Freiheit.

Im Folgenden sollen die in Niedersachsen bestehende Rechtslage, die Grundsatzentscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts und die in Aussicht stehende Novelle zum Infektionsschutzgesetz referiert werden. Der Inhalt des im Juni 2020 erschienenen Beitrags „Niedersachsen im Ausnahmezustand“ (NdsVBl. 6/2020, S. 165) wird hierbei vorausgesetzt.

II. Der Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 06.11.2020

Vier Tage nach Inkrafttreten der Corona-Verordnung erging ein Beschluss des NdsOVG, mit dem ein in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von einem betroffenen Gastwirt gestellter Antrag abgelehnt wurde.12 In dem Beschluss widmet sich der Senat sowohl verfassungsrechtlichen als auch Fragen des einfachen Gesetzesrechts und schafft damit eine zuverlässige Grundlage für die kürzlich wieder aufflammende Diskussion über die Erforderlichkeit von Eindämmungsmaßnahmen. Vorweg setzt sich der Senat mit der Frage auseinander, ob die Verordnungsermächtigung in § 32 IfSG den verfassungsrechtlichen Anforderungen, nämlich der „Wesentlichkeitsdoktrin“ und dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG), genügt. Beide Fragen werden bejaht, wobei festgehalten wird, dass je schwerwiegender die grundrechtsrelevanten Auswirkungen für die von einer Rechtsverordnung potenziell Betroffenen seien, desto strengere Anforderungen an die Bestimmtheit sowie den Inhalt und Zweck der erteilten Ermächtigung zu stellen seien.13 Auch dem Wesentlichkeitserfordernis sei Genüge getan, weil mögliche Schutzmaßnahmen ersichtlich vom Willen des Gesetzgebers getragen würden. Eine weitergehende Konkretisierung der Eingriffsgrundlagen erscheine angesichts der Besonderheiten des Infektionsschutzrechts, die bei Eintritt eines Pandemiegeschehens kurzfristige Reaktionen des Verordnungsgebers auf sich ändernde Gefährdungslagen erforderlich machen könnten, verfassungsrechtlich nicht geboten.14


Die Schließung von Gastronomiebetrieben für den Publikumsverkehr nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Corona-Verordnung sei auch im Hinblick auf das „Ob“ eines staatlichen Handelns und die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Frage des „Ob“ des staatlichen Handelns gibt der Senat einen auf Veröffentlichungen der WHO und des Robert Koch-Instituts gestützten Überblick über die gegenwärtige Infektionslage, die von einem sprunghaften Anstieg der Fallzahlen gekennzeichnet ist.15 In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts16 hält der Senat die zuständigen Behörden für verpflichtet, unter den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu ergreifen. Zugleich wird dem Einwand vorgebeugt, dass nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verlaufe, weil das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden könne. Zudem könnten auch leichte Verläufe die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten.17 Den Schwerpunkt des Beschlusses bildet die – summarische – Prüfung, ob die Schließung der Gastronomiebetriebe für den Publikumsverkehr eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG sei.18 Der Senat geht von dem im Allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltenden Grundsatz aus, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden sei. Zum Be- leg wird das Beispiel eines hoch ansteckenden Krankheitserregers angeführt, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde. Angesichts der schwerwiegenden Folgen dränge sich auf, dass schon eine vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genüge.19 Für die Betreiber von Gastronomiebetrieben, in denen sich eine Vielzahl von Mitarbeitern und Gästen unmittelbar persönlich begegne und die deshalb auch eine das allgemeine Infektionsrisiko erhöhende Gefahrenlage herbeiführten, sei ein hinreichend konkreter Bezug zu einer Infektionsgefahr gegeben.20

Der Senat tritt ausdrücklich dem Einwand entgegen, dass aufgrund der bisherigen Erkenntnisse nur eine geringe Zahl von Infektionen dem Infektionsumfeld „Speisestätten“ zuzuordnen sei. In einer sehr hohen Zahl von Infektionen sei das Infektionsumfeld nicht feststellbar. Hieraus könne zwar nicht der Schluss gezogen werden, diese Zahlen seien dem gastronomischen Bereich zuzuordnen; der Erkenntniswert der zahlenmäßig festgestellten Infektionsumfelder sei hierdurch jedoch erheblich gemindert. In jedem Fall dürfe die seit der Pandemie nahezu unverändert dürftige Erkenntnislage nicht dazu führen, dass die Infektionsschutzbehörden gehalten wären, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen.21 Der Senat kommt zu dem Schluss, dass im Hinblick „auf die aktuelle Entwicklung … der Antragsgegner den vollzogenen Strategiewechsel weg von bisherigen bloßen Betriebsbeschränkungen hin zu weitreichenden flächendeckenden Betriebsschließungen und ergänzenden Betriebsbeschränkungen als derzeit einzig verlässliches effektives Mittel und damit für erforderlich erachten“ durfte.22 Letztlich gelangt der Senat auch zu dem Ergebnis, die Regelung sei „voraussichtlich“ angemessen. Hierbei wird nicht versäumt, auf die am 28. Oktober von der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten beschlossene Erstattung von 75 % des entsprechenden Umsatzes des Vorjahresmonats hinzuweisen.23 Hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz sieht sich der Senat zu einer abschließenden Beurteilung nicht in der Lage, hält die angegriffene Bestimmung aber in jedem Fall nicht für willkürlich.

Das NdsOVG hat mit seinem Beschluss vom 06.11.2020 einen wesentlichen Beitrag zu der juristischen Auseinandersetzung, aber auch zum öffentlichen Diskurs über die mit der Corona-Verordnung angeordneten Maßnahmen geleistet. Das Gericht verschweigt nicht, dass seine Entscheidung in einer Situation ergeht, die in vielfacher Hinsicht von Unsicherheit gekennzeichnet ist. Sicher sei jedoch die Zahl der exponentiell gestiegenen Erkrankungen, die entsprechend zunehmende Zahl notwendiger intensivmedizinischer Versorgung und der innerhalb weniger Tage gestiegenen Zahl der Todesfälle. Dem Gericht ist hohe Anerkennung dafür zu zollen, sich der verfassungsrechtlichen Problematik eingehend gewidmet und hierbei alle verfügbaren Erkenntnisquellen hinzugezogen zu haben.

III. Der Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Am 03.11.2020 haben die Fraktionen der CDU/CSU und SPD den „Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ im Bundestag eingebracht.24 Das Gesetz ist zustimmungsbedürftig, allerdings bedarf es keines „ersten Durchgangs“ nach Art. 76 Abs. 2 Satz 1 GG, weil es – formell – „aus der Mitte des Bundestages“ eingebracht worden ist. Mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.03.2020 (BGBl. I S. 587) hatte der Gesetzgeber erste Maßnahmen zur Bekämpfung der sich abzeichnenden Pandemie getroffen und dem Infektionsschutzgesetz entsprechende Bestimmungen eingefügt. Ein zweites Änderungsgesetz erging am 19.06.2020 (BGBl. I, S. 385), dem nunmehr eine dritte Novelle folgt. Schwerpunkt des Entwurfs sind Änderungen und Ergänzungen des Infektionsschutzgesetzes, in dem sich die Erfahrungen der letzten Monate widerspiegeln und zugleich einzelnen Monita an der Gesetzeslage Rechnung getragen wird. In der bislang geltenden Fassung des Infektionsschutzgesetzes wurden die zuständigen Behörden durch eine Generalklausel ermächtigt, „die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten zu treffen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“ (§ 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG). In den folgenden Bestimmungen werden einzelne Maßnahmen, nämlich die Beobachtung (§ 29), die Absonderung (§ 30) und das berufliche Tätigkeitsverbot (§ 31 IfSG) besonders geregelt. § 32 Satz 1 IfSG enthält eine Ermächtigung der Landesregierungen, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Dies waren die Rechtsgrundlagen, auf deren Grundlage die Rechtsverordnungen der Länder seit Ausbruch der Pandemie erlassen worden sind und die seitdem das öffentliche und private Leben in der Bundesrepublik bestimmen. 25

Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll nach der Generalklausel des § 28 IfSG eine ergänzende Vorschrift („§ 28 a Besondere Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2“) eingefügt werden, die in Abs. 1 „Notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1“ im Rahmen der Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite aufführt. Die Aufzählung ist nicht erschöpfend („insbesondere“), lässt also für weitere Maßnahmen Raum. Unschwer lassen sich in der Aufzählung der Maßnahmen nach § 28 a Abs. 1 Nr. 1 bis 15 des Entwurfs die Maßnahmen erkennen, die bei dem sogenannten „ersten Lockdown“ im Frühjahr von den Ländern im Verordnungsweg erlassen worden sind. Sie sind nunmehr durch den Bundesgesetzgeber ausdrücklich als „notwendige Schutzmaßnahmen“ anerkannt und bestätigt worden, stehen aber unter dem Vorbehalt, im Einzelfall verhältnismäßig sein zu müssen. Dies ist nicht allein eine Folge des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes, sondern wird in § 28 a Abs. 1 Satz 2 des Entwurfs auf einfachgesetzlicher Ebene wiederholt. Mit der – bewusst beispielhaften – Aufzählung möglicher Maßnahmen wird zugleich von Gesetzes wegen deren Eignung festgestellt, denn eine notwendige Schutzmaßnahme muss nach den Gesetzen der Logik zur Bekämpfung des Corona-Virus zumindest geeignet sein. Gleichwohl bleibt für die Prüfung der Erforderlichkeit und Angemessenheit – also die folgenden Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung – durchaus Raum, denn eine grundsätzlich geeignete Maßnahme muss bei der Prüfung des Einzelfalls nicht notwendig erforderlich und auch nicht angemessen sein. Insofern ergibt sich durch die Verwendung der Begriffe „notwendig“ und „verhältnismäßig“ kein juristischer Pleonasmus. Vielmehr wird durch den Gesetzgeber nach Inkrafttreten der Novelle auf einer abstrakten Ebene die Eignung der getroffenen Maßnahmen bekräftigt, für die Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung aber den Gerichten Raum gelassen.

Eine detaillierte Regelung erfahren die Schwellenwerte, die auch bislang die Praxis der Pandemiebekämpfung geleitet haben, gesetzlich aber nicht festgelegt waren. Die sog. 7-Tage-Inzidenz ist ein in der Virologie gebräuchlicher Parameter für die Zahl der Neuinfektionen innerhalb eines abgegrenzten Gebiets. Die auch bisher schon praktizierten Inzidenzzahlen von 35 bzw. 50 Neuinfektionen sollen nunmehr gesetzlich festgelegt werden und entsprechend abgestufte Schutzmaßnahmen ermöglichen (§ 28 a Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs). Vor dem Überschreiten eines Schwellenwertes sind entsprechende Maßnahmen angezeigt, wenn die Infektionsdynamik eine Überschreitung des Schwellenwertes in absehbarer Zeit wahrscheinlich macht (§ 28 a Abs. 2 Satz 5 des Entwurfs). Bei einer Überschreitung eines Schwellenwertes von 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind landesweit einheitliche schwerwiegende Maßnahmen anzustreben (§ 28 Abs. 2 Satz 7 des Entwurfs). Auch die Schwellenwerte sind ein Versuch, das Übermaßverbot zu konkretisieren und nach Möglichkeit festzulegen, ab welcher Infektionszahl schwerwiegende Schutzmaßnahmen erforderlich und – vor allem – angemessen sind. Der exponentielle Anstieg der Neuinfektionen, die teilweise das Zehnfache der Schwellenwerte überstiegen, lässt indes erkennen, wie schnell gesetzgeberische Versuche zur Normierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips überholt sind.

Eine eingehende Regelung findet die seit jeher für das Infektionsgeschehen als problematisch angesehene Einreise von Personen. Durch § 36 Abs. 8 des Entwurfs wird die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung eine Reihe von Pflichten der Einreisenden bzw. der Beförderungsunternehmen festzulegen. Die Vorschriften nehmen Bezug auf den Begriff des „Risikogebiets“, der wiederum in § 2 Nr. 17 des Entwurfs als Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland definiert wird, für die die zuständigen Ministerien „ein erhöhtes Risiko“ für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen Krankheit festgestellt haben. Beförderungen aus einem Risikogebiet in die Bundesrepublik Deutschland dürfen nach Erlass einer entsprechenden Rechtsverordnung der Bundesregierung nur erfolgen, wenn die zu befördernden Personen ihren Verpflichtungen vor der Beförderung nachgekommen sind. Personen, die kein erforderliches ärztliches Zeugnis oder erforderliches Testergebnis vorlegen, sind verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung auf Ausschluss der durch Rechtsverordnung festgelegten Krankheit zu dulden (§ 36 Abs. 10 Satz 2 des Entwurfs).

IV. Der verfassungsrechtliche Diskurs

Nach einer Art „Schockstarre“, in der sich die Öffentlichkeit nach Ausbruch der Pandemie im März dieses Jahres befand und die auch die wissenschaftliche Publizistik ergriff, hat sich ein breiter Diskurs entwickelt, in dem sich zunehmend auch kritische Stimmen gegenüber den Eindämmungsmaßnahmen gemeldet haben.26 Zu den Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften treten zunehmend „Verfassungsblogs“ internetaffiner Autoren, die neben den Leitartikeln der führenden Tageszeitungen für sich eine Art zeitnaher Expertise in Anspruch nehmen. Die Diskussion kann an dieser Stelle nicht in ihrer Breite aufgenommen werden, allerdings lassen sich einige Stichworte festhalten.

1.Pflicht des Staates

Zu wenig beachtet wird in der gegenwärtigen Diskussion, dass die getroffenen Eindämmungsmaßnahmen in Erfüllung einer Schutzpflicht erfolgen, die dem Staat durch eben die Grundrechte auferlegt ist, die zunehmend gegen diese Maßnahmen in Stellung gebracht werden. Es erübrigt sich an dieser Stelle, die Vielzahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu zitieren, in denen die staatlichen Schutzpflichten aus Grundrechten abgeleitet werden. Immerhin seien die beiden Grundsatzentscheidungen zum Gebrauch der Kernenergie angeführt,27 in denen das Gericht eine Dogmatik der Schutzpflichten entwickelt hat, die bereits die Gefahrenvorsorge umfassen. Die gegenwärtige Situation ist demgegenüber nicht allein von Gefahren – und zwar im polizeirechtlichen Sinne – für „Leib und Leben“ gekennzeichnet, vielmehr sind in einer unübersehbaren Zahl von Fällen bereits Schäden – nämlich Krankheitsfälle – aufgetreten, die in Deutschland mittlerweile in mehr als 15 000 Fällen zum Tod geführt haben. Dass angesichts der exponentiellen Zunahme von Infektionen allenthalben auch die Gefahr einer Ansteckung und damit für „Leib und Leben“ der Bürger droht, sei nachdrücklich vermerkt.

2.Grundgesetz und Ausnahmezustand

Das Grundgesetz enthält zwar Vorschriften für den äußeren (Art. 115 a ff.) und inneren Notstand (Art. 91), jedoch keine Bestimmungen über einen Ausnahmezustand, der aus anderen Gründen eintritt.28 Eine Durchsicht des Textes ergibt als einschlägig – außer der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 – nur den Gesetzesvorbehalt in Art. 11 Abs. 2 („zur Bekämpfung von Seuchengefahr“) und den Begriff der „Naturkatastrophe“ in Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG. Die textliche Basis ist deshalb für die Maßnahmen der Pandemiebekämpfung denkbar gering, wobei die Interpreten sich vor der verbreiteten Neigung zu Anthropomorphismen hüten sollten. Das Grundgesetz ist die Grund- und Rahmenordnung des staatlichen Gemeinwesens, dem weder menschliche Sinnesorgane noch ein „Wille“ zugeordnet werden können. Tatsache ist, dass das Grundgesetz die Pandemie nicht hat „vorhersehen“ können, wie auch bestimmte Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung nicht „will“. Insofern sollten Interpreten des Grundgesetzes der Versuchung widerstehen, ihm eine Art „Willensbildung“ zu substituieren, die den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie entgegenzusetzen wäre. Es bleibt bei dem verfassungsrechtlichen Diskurs vielmehr bei dem Ergebnis, dass ein praktikabler und zudem erprobter Maßstab, an dem die Rechtsetzungsakte zur Eindämmung der Pandemie geprüft werden können, allein das verfassungsrechtliche Übermaßverbot – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ist.

3.Das Reziprozitätsproblem und die Verantwortung des Richters

Ergehen staatliche Maßnahmen in Erfüllung einer grundrechtlich gebotenen Schutzpflicht, schränken diese aber zugleich Grundrechte ein, so ergibt sich ein Reziprozitätsproblem, das nach einer Abwägung und damit Entscheidung verlangt. Die Besonderheit der zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Maßnahmen liegt darin, dass die Schutzmaßnahmen nicht nur zur Vorsorge gegen eine abstrakte Gefahr getroffen werden, sondern dass die Auswirkungen der Pandemie bereits eingetreten sind und sich täglich verschärfen. Die zu schützenden Rechtsgüter – Leben und körperliche Unversehrtheit – betreffen die menschliche Existenz schlechthin. Sie dienen – um eine in einem anderen Zusammenhang gebrauchte klassische Formulierung des Bundesverfassungsgerichts zu benutzen – der „Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“. 29

Da Grundrechte von Verfassungs wegen einen gleichen Rang besitzen – nur die Menschenwürde ist unantastbar –, sind die mit den Eindämmungsmaßnahmen verbundenen Grundrechtseingriffe mit der Schutzpflicht abzuwägen. Dies ist weder vom Gesetz- noch vom Verordnungsgeber zu leisten, weil die Eingriffsermächtigungen notwendig abstrakt sind und ihre Auswirkungen sich erst im konkreten Fall zeigen. Die der Rechtsprechung zufallende Aufgabe der Kontrolle der einzelnen Eindämmungsmaßnahmen garantiert zum einen ein hohes Maß an Rationalität, weist dem Richter zugleich aber ein hohes Maß an Verantwortung zu, weil die Entscheidungen im Normenkontrollverfahren (§ 47 VwGO) – auch in Gestalt der Eilverfahren – allgemeine Geltung haben. Hätte das NdsOVG in unserem Beispielsfall antragsgemäß die Geltung des § 10 Abs. 1 Nr. 2 CVO ausgesetzt, hätten die Gastronomiebetriebe und die anderen in dieser Vorschrift genannten Einrichtungen sofort wieder öffnen können. Ein hierdurch verursachter weiterer Anstieg der Infektionszahlen wäre von dem entscheidenden Senat zu verantworten gewesen.

V. Ausblick

Es bleibt festzuhalten, dass Niedersachsen sich – wie die übrigen Bundesländer – in einem nicht nur faktischen, sondern auch rechtlichen Ausnahmezustand befindet. Sichtbares Zeichen hierfür sind die zur Eindämmung der Pandemie erlassenen Rechtsverordnungen mit ihrer jeweils begrenzten Geltungsdauer und die im Laufe dieses Jahres ergangenen und geplanten Novellen zum Infektionsschutzgesetz. Im Unterschied zu der geläufigen Vorstellung eines Ausnahmezustands sind die rechtsstaatlichen Garantien des Grundgesetzes – insbesondere die Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG – jedoch nicht eingeschränkt oder gar außer Kraft gesetzt, sondern haben ihre Bedeutung gerade in der Krise unter Beweis gestellt. Mögen einzelne Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte auch kritikwürdig sein, so kann doch festgestellt werden, dass die Gerichte ihrer schwerwiegenden Verantwortung gerecht geworden sind.

 

VBlNds 2/2021

 

12 NdsOVG, Beschl. v. 06.11.2020 – 13 MN 411/20 (abgedr. in diesem Heft, S. 49).

13 So NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 50.

14 So NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 50.

15 So NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 51 f.

16 BVerfGE 142, 205, 212.

17 NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 52.

18 NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 54 ff.

19 So BVerfGE 142, 205, 216.

20 So NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 54.

21 So NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 54.

22 So NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 55.

23 Vgl. NdsOVG, NdsVBl. 2/2021, S. 55.

24 BT-Drucks. 19/23944.

25 Vgl. zur Rechtslage in Niedersachsen: J. Ipsen, NdsVBl. 6/2020, S. 165 f.

26 Vgl. nur H. M. Heinig/T. Kingreen/O. Lepsius/C. Möllers/U. Volkmann/H.Wißmann, JZ 2020, S. 861; F. Hase, JZ 2020, S. 697; U. Volkmann, NJW 2020, S. 3153; R. Zuck/H. Zuck, NJW 2020, S. 2302; jew. m. w. Nachw.

27 BVerfGE 49, 89 („Schneller Brüter“); 53, 30 („Mülheim-Kärlich“).

28 Vgl. hierzu J. Ipsen, Notstandsverfassung und Corona-Virus, RuP 2/2020, S. 118.

29 So BVerfGE 7, 377, 378.

 

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Die Serie: Niedersachsen im Ausnahmezustand II

 

 

 

Professor Dr. Jörn Ipsen

Universität Osnabrück
n/a