03.08.2022

Lageorientiertes Führen

Verwaltungsführung in komplexen und krisenhaften Lagen (Teil 5)

Lageorientiertes Führen

Verwaltungsführung in komplexen und krisenhaften Lagen (Teil 5)

Fortsetzung des vierten Teils:

Wie wird Lageorientierte Führung umgesetzt?

Der Situation Room: Modellhafte Vorgehensweise

Das Fachprojekt hatte von vorneherein auch das praxisorientierte Ziel, eine konkrete Vorgehensweise zu entwickeln, wie Führung in komplexen und krisenhaften Lagen methodisch und planvoll umgesetzt werden kann – angesichts der Digitalisierung auch in einer digitalen Gestaltung. Die Bedeutung, die die befragten Kommunen der Kompetenz „systematisches methodisches Vorgehen“ eingeräumt haben, bestätigt diesen Ansatz nachdrücklich.

Es geht im Kern darum, wie die Entscheidungsfindung auf der Grundlage einer ganzheitlichen Lagebeurteilung durch einen ziel- und lösungsorientierten Prozess unterstützt werden kann, der auch online abgebildet werden kann.


Für die Lagebeurteilung ist es dabei wichtig, Komplexität zuzulassen und möglichst viele Wahrnehmungen und Einflussfaktoren einzubeziehen. Die Entscheidungsfindung wiederum erfordert es, die Komplexität zielorientiert zu reduzieren und Handlungsfähigkeit herzustellen. Sowohl für die Lagebeurteilung wie für die Entscheidungsfindung geht es darum, die relevanten Daten und Fakten zu sammeln und betroffene Personen und Institutionen innerhalb und außerhalb des eigenen Systems einzubeziehen und interaktiv zu beteiligen. Diese Interaktionen und Vernetzungen stellen hohe Anforderungen an die interne und externe Kommunikation; bei der virtuellen Kommunikation sind zusätzlich die besonderen Bedingungen multimedialer Kommunikation zu beachten.

Diese Betrachtungsweise des Entscheidungsprozesses weist viele Bezüge zu einem systemisch-lösungsorientierten Coaching-Prozess auf, wie ihn das Karlsruher Institut Prof. Dr. Berninger Schäfer entwickelt hat („Karlsruher Schule“). Ausgehend von den wissenschaftlich evaluierten Wirkfaktoren im Coaching definiert die „Karlsruher Schule“ einen 8-stufigen Phasenablauf, der die Grundlage einer systemisch- lösungsorientierten Prozess-Steuerung im Coaching bildet. Der Prozess ist gekennzeichnet durch eine Orientierung an den vorhandenen Ressourcen, einer ganzheitlichen Betrachtung der beteiligten Menschen und des Kontextes sowie an einer ziel- und lösungsorientierten Prozesssteuerung. Dieser Prozess wird mit verschiedenen Gesprächsführungstechniken und Interventionsmethoden durchgeführt (Berninger-Schäfer 2018).

Die wissenschaftlich evaluierten Wirkfaktoren im Coaching sind:

  • Die Klärung des eigenen Erlebens und Verhaltens, der eigenen Motive und Ziele und die Möglichkeit, Probleme in neuen Zusammenhängen zu sehen
  • Die Fähigkeit zur Problembewältigung durch konkrete Handlungen und die daraus entstehende Erwartung, auch mit neuen Problemen fertig zu werden (Selbstwirksamkeit)
  • Ein respektvoller Umgang und eine Vertrauen bildende wertschätzende Beziehungsgestaltung
  • Eine ressourcen- und nicht defizitorientierte Vorgehensweise
  • Eine Fokussierung auf Ziele und Lösungen

Sie sind ebenso relevant für die hier behandelte Perspektive von Führung in komplexen und krisenhaften Lagen. Die Qualität der Lagebeurteilung hängt davon ab, möglichst viele Informationen über die Lage und die zu erwartenden Folgen einzubeziehen und hierzu eine Kommunikation zu gestalten, die einen offenen Austausch über unterschiedliche Wahrnehmungen und aus vielfältigen Quellen erlauben. Offenheit setzt Vertrauen voraus, das sich aus einer respektvollen Haltung und einem wertschätzenden Umgang bildet. Die für die Zielbildung und Lösungsfindung erforderliche Kreativität setzt wiederum das Vertrauen der handelnden Personen in sich selbst voraus, dass sie – nicht zuletzt gemeinsam mit anderen zusammen – die Lage in den Griff bekommen können. Ziele und Lösungen müssen dabei positiv affiziert sein, um eine hohe Chance zur Realisierung zu wahren.

Der Phasenablauf der „Karlsruher Schule“, der den genannten Wirkfaktoren Rechnung trägt, wurde daher im Fachprojekt zur lageorientierten Führung transformiert in ein Modell einer agilen, ziel- und lösungsorientierten Entscheidungsfindung, den „Situation Room“. Die Transformation des Phasenablaufs auf lageorientierte Führung soll Führungskräfte darin unterstützten, die in der Komplexität liegenden Gestaltungsanforderungen und -möglichkeiten zu entdecken, aufzugreifen und einer ziel- und lösungsorientierten Entscheidung zuzuführen.

Das systematische methodische Vorgehen im „Situation Room“ weist folgende Phasen auf:

  1. Die Sitzungsvorbereitung
  2. Die Lagebeschreibung
  3. Die Umfeldeinflüsse
  4. Die Ressourcen
  5. Die Ziele und Prioritäten
  6. Die Maßnahmen
  7. Die Information
  8. Die Evaluation

Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung dieses Modells lageorientierter Führung ist eine Führungskultur, die die Führungskräfte ermächtigt und befähigt,

  • die für die Interaktion und Partizipation notwendigen wertschätzenden und ebenbürtigen Beziehungen aufzubauen
  • eine Teilhabe am Entscheidungsvorgang zu fordern und zu fördern
  • einen agilen, ziel- und lösungsorientierten Entscheidungsprozesse zu gestalten und zu moderieren.

Dies gilt verstärkt in einer virtuellen Umgebung, da sich durch die intensive Vernetzung die Komplexität erhöht und damit die Tendenz zur Selbstorganisation verstärkt. Hierfür bedarf es einer gezielten Vorbereitung der Führungskräfte, wie sie beispielsweise im Konzept der Digital Leadership (Berninger-Schäfer 2020) beschrieben werden.

Weitere Voraussetzung ist eine Kollaborations-Plattform, die dieses systemisch- lösungsorientierte Modell des Entscheidungsprozesses digital abbildet. Dabei konzentrieren sich die Anforderungen auf die Unterstützung des virtuell zu steuernden Entscheidungsprozesses. Dazu muss die Plattform insbesondere folgende Anforderungen in einer Oberfläche integrieren:

  • Die (synchrone und asynchrone) Kommunikation über Chat, Audio und Video
  • Die Phasen des Prozesses mit den zugeordneten Musterfragen
  • Die spezifischen Tools, die eine interaktive vernetzte Erarbeitung des Lagebildes, der verfügbaren Ressourcen, der Ziel- und Lösungsfindung sowie der Steuerung der Umsetzung unterstützen
  • Die Einbindung und Verarbeitung der üblicherweise zur Vorbereitung und Ausführung genutzten Software (z.B. MS Office, Social-Media, spezielle Anwendungsprogramme) über Desktop-Sharing, Medienwiedergabe, Präsentationstool.
  • Eine automatische Dokumentation des Prozesses

Die CAI GmbH ermöglichte als Kooperationspartnerin die Nutzung der Kollaborations- Plattform CAI® World, die diese Anforderungen – soweit ersichtlich – als einzige Plattform erfüllt. Mit ihr zusammen konnte im Projekt der Situation Room digital eingerichtet werden. Die Oberfläche wurde wie folgt gestaltet:

Die Prozessphasen des „Situation Room“ und die phasenbezogene Auswahl der Tools in der Online-Version auf der gewählten Plattform CAI® World sind:

Jede Phase ist kurz beschrieben und mit Leitfragen „gefüttert“. Diese können durch selbst entwickelte Fragen-Sets ergänzt und damit an die spezifischen Begrifflichkeiten und Sprachregelungen des jeweiligen Kontextes flexibel angepasst werden. Diese Kurzbeschreibungen der Phaseninhalte und die vorbereiteten Fragen helfen der Moderation dabei, den Prozess zügig und ergebnisorientiert voranzutreiben. In den Sitzungen kann synchron und asynchron gearbeitet werden (wichtig z.B. für die Vor- und Weiterverarbeitung). Die Sitzungsinhalte (Darstellung der interaktiv bearbeiteten Tools, Informationen und Beschlüsse) sind nicht flüchtig, sondern werden automatisch gespeichert und können bei Bedarf weiterbearbeitet werden.

Das Verständnis für diese systematische methodische Vorgehensweise zu vermitteln und ihre Anwendung einzuüben, ist Teil des Aus- und Fortbildungskonzeptes.

Auf welche Praxis trifft eine Lageorientierte Führung?

Eine Umfrage zur Realität von Digital Leadership in der Krise

Um die Erfahrungen der Kommunen bzw. deren Führungskräfte mit der lageorientierten Führung in der Corona-Krisenlage beispielhaft zu erheben, haben die Studierenden des Fachprojekts 2020/2021 mit Unterstützung der Kooperationspartner einen Fragebogen entwickelt und eine Umfrage bei den 45 Stadt- und Landkreisen sowie 30 Mitgliedstädten des Städtetages Baden-Württemberg durchgeführt. Schwerpunktmäßig wurden dabei Fragen zu den Themen „Digital Leadership“, der

„Online -Kollaboration“ und zum Aus- und Fortbildungsbedarf in diesem Zusammenhang gestellt.

Dieser Fragebogen wurde thematisch in fünf Bereiche unterteilt:

  • Interne Organisation und Erfahrungen der Kommunen
  • Einsatz digitaler Instrumente
  • Führung über Medien
  • Kommunikation zwischen Land und Kommunen
  • Bedarfe hinsichtlich Aus- & Fortbildung

An der Befragung haben sich 29 Kommunen beteiligt und die Fragen zu ihren Erfahrungen im Hinblick auf die Bewältigung der Pandemie mitgeteilt. Die Antworten wurden von den Studentinnen und Studenten ausgewertet und auch grafisch aufbereitet.

Die Ergebnisse sind angesichts der Gesamtzahl von Kreisen und Kommunen in Baden-Württemberg sicherlich nicht repräsentativ, lassen aber durchaus gesicherte Schlussfolgerungen für die künftige Praxis des „Digital Leaderships“ auf kommunaler Ebene und einen identifizierten Aus- und Fortbildungsbedarf in diesem Bereich im gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst zu.

Aus den Ergebnissen der Umfrage lassen sich analytisch einige Zusammenhänge erkennen, welche die Studierenden in folgende Schlussfolgerungen gefasst haben:

  • Mit der notfallmäßigen vermehrten Nutzung digitaler Instrumente in der SARS COVID 19-Pandemie stieg die Akzeptanz digitaler Lösungen und Instrumente
  • Die Krisensituation hat der Digitalisierung der Verwaltung einen großen Schub gegeben
  • Es geriet ins Bewusstsein der Führungskräfte, dass sie auf eine lageorientierte Führung nicht ausreichend vorbereitet sind und deshalb einhellig ein Entwicklungsbedarf bezüglich der Vorbereitung auf das Führen über Medien gesehen wird
  • Die verbreitete Erwartung, künftig auf allen Ebenen der Verwaltung vermehrt mit komplexen und krisenhaften Lagen befasst zu werden, schafft einen Entwicklungsbedarf in der Ausbildung zum gehobenen Dienst an den Hochschulen für öffentliche Verwaltung hinsichtlich der Vorbereitung auf die Bewältigung komplexer und krisenhafter Lagen

Diese Rückmeldungen aus der kommunalen Praxis haben den Ansatz des Fachprojektes eindrücklich bestätigt, dass die Aus- und Weiterbildung der vorhandenen und der künftigen Führungs- und Fachkräfte für einen kompetenten Umgang mit komplexen und krisenhaften Lagen unter Einschluss digitaler Lösungen eine wichtige Anforderung an eine zukunftsfähige öffentliche Verwaltung bildet. Die Studierenden haben dies wie folgt zusammengefasst:

„Mithilfe der von uns formulierten Hypothesen ist gut zu erkennen, dass in den Bereichen „Führen über Medien“, „digitale Kommunikationswege“ und „Vorbereitung auf krisenhafte Lagen“ ein besonderer Weiterentwicklungsbedarf besteht. Dieser Bedarf besteht nicht nur in der Ausbildung neuer Verwaltungsmitarbeiter, sondern auch in der Fortbildung von Führungskräften und Mitarbeitenden.“

Wie wird Lageorientierte Führung erlernt?

Möglichkeiten einer bedarfsorientierten Aus- und Weiterbildung

Die Studierenden des Fachprojekts erkannten grundsätzlich bei den Absolventinnen und Absolventen der Hochschule mangelnde Kompetenzen in den Bereichen Führung und Krisenkommunikation. Sie hielten es nach den Erkenntnissen im Fachprojekt für notwendig, dass an den Hochschulen mehr Wissen über die Bewältigung komplexer oder krisenhafter Lagen im Sinne von Risiko- und Krisenmanagement vermittelt wird. Als Themen wurden u.a. formuliert:

  • „Krisen kompetent bewältigen“
  • „Routinemaßnahmen für verschiedene Lagen und kompetentes Krisenmanagement etablieren“,
  • „Verwaltung krisenfest machen“
  • „Führungskräfte für Verhalten nach Kompetenzmustern sensibilisieren“

Sie entwickelten ein Stufen-Konzept für die Implementierung in die Ausbildung des gehobenen Dienstes. Begonnen werden könnte mit einem einführenden Vortrag im Studium Generale. Weitere Inhalte können in den ersten drei Semestern des Grundlagenstudiums in einzelnen passenden Modulen vermittelt werden, so dass im Vertiefungsstudium das Thema erneut im Modul „Personal und Organisation und Kommunikation“ vertieft und kompetenzorientiert behandelt werden kann. Nach Ansicht der Studierenden können die Inhalte auch durch Kurse an Wochenenden vermittelt werden. Hier könnten die sozialen Kompetenzkurse im zweiten Semester als Vorbild dienen.

Für die Fort- und Weiterbildung sind nach den im Fachprojekt erarbeiteten theoretischen Grundlagen und den Rückmeldungen aus der Umfrage folgende Inhalte maßgebend:

  • Chance und Risiko: Komplexität als typisches Merkmal sozialer Organisationen begreifen
  • Führen nach Lage: Konstellationen und Situationen sensibel wahrnehmen
  • Partizipation und Vernetzung: Interaktion zwischen selbstorganisierten Subsystemen steuern und moderieren
  • Veränderung gestalten: Mutig entscheiden und wirkungsvoll kommunizieren – auch in virtuellen Räumen
  • Agiles Führungsverhalten: ziel- und lösungsorientierte Prozesssteuerung zwischen Projekt- und Krisenmanagement (Situation Room)
  • online: systematische methodische Entscheidungsfindung im virtuellen Raum

Die gegenwärtigen Krisensituationen zeigen schmerzhaft, dass die Kompetenz zu lageorientiertem Führen nicht nur wenigen Spezialisten vorbehalten sein darf, sondern in der Breite zum Standard eines zukunftsfähigen Führungsverhaltens gehören muss. Es bietet sich an, für die Umsetzung weiter auf eine Zusammenarbeit zwischen den Kooperationspartnern, insbesondere der Landesfeuerwehrschule und dem Karlsruher Institut, zu setzen, die über komplementäre Kenntnisse und Erfahrungen in diesem Themenfeld verfügen und an vorhandene Angebote anknüpfen können.

 

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Die Serie: Lageorientiertes Führen

 

1

Folge 1

Lageorientiertes Führen (Teil 1)

2

Folge 2

Lageorientiertes Führen (Teil 2)

3

Folge 3

Lageorientiertes Führen (Teil 3)

4

Folge 4

Lageorientiertes Führen (Teil 4)

 

 

 

Thomas Berg

Ehemals Generalsekretär der Führungsakademie Baden-Württemberg a. D.
Dr. Herbert O. Zinell

Dr. Herbert O. Zinell

Senator E.h. Dr. Herbert O. Zinell, Ministerialdirektor a.D. und Oberbürgermeister a.D
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