02.08.2021

Kollektive Gefährdungslage Corona (1)

Die Pandemie in der Asylrechtsprechung – Teil 1

Kollektive Gefährdungslage Corona (1)

Die Pandemie in der Asylrechtsprechung – Teil 1

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Das Asylrecht schützt vor Gefahren im Herkunftsland. [1] Im Rahmen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG werden dabei auch Gefahren berücksichtigt, die keinem konkreten Akteur zugerechnet werden können. Seit März 2020 müssen die Gerichte insofern die sozio-ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie bewerten. Teil 1 der Reihe beschäftigt sich mit der Bewertung kollektiver Gefährdungslagen.

Besonders deutlich wird das in Verfahren Schutzsuchender aus Afghanistan, für die bereits vor der Pandemie überproportional viele ablehnende Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von den Verwaltungsgerichten korrigiert wurden.[2] 2020 ist dieser Anteil noch einmal gestiegen: Während das BAMF seine Entscheidungspraxis zu Abschiebungsverboten nicht geändert hat, stieg der Anteil der Abschiebungsverbote an den materiellen Gerichtsentscheidungen von 34 Prozent im Jahr 2019 auf 47 Prozent im Jahr 2020.[3]

Gut ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie sind deren Auswirkungen auf die Lebenssituation in Afghanistan unter den Verwaltungsgerichten heftig umstritten. Dabei wird die kollektive Gefährdungslage junger, alleinstehender Männer uneinheitlich bewertet, abhängig von den jeweiligen Annahmen der Gerichte zur zeitlichen Dimension der Krise sowie ihrer Kompensation durch humanitäre Unterstützung. Die Afghanistan-Entscheidungen führen damit zwei grundlegende Probleme der deutschen Asylrechtsprechung vor Augen: Die Uneinheitlichkeit bei der Bewertung vergleichbarer Fallkonstellationen und die Defizite bei herkunftslandbezogener Tatsachenfeststellung.


Vergleichbarkeit der Bewertung kollektiver Gefährdungslagen

Laut EGMR begründen „zwingende humanitäre Gründe“ die Schutzwürdigkeit nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK, wofür „ganz außergewöhnliche individuelle Umstände“ erforderlich sind.[4] Hierunter kann auch Verelendung wegen einer extrem schlechten wirtschaftlichen Situation fallen, wie durch die Auswirkungen der Pandemie auf die Lebenssituation in Afghanistan. Das BAMF und die Gerichte nehmen dabei eine Prognose vor und fragen, ob Antragsteller*innen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche Verelendung droht. Sie bewerten also ihre zukünftige Lebenssituation in Afghanistan. Dazu ermitteln sie zunächst sogenannte Basistatsachen zur derzeitigen Lage vor Ort und stützen darauf die eigentliche Prognose, ob aus den Basistatsachen die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verelendung folgt.

Gerade in Bezug auf humanitäre Notlagen ist es beinahe ausgeschlossen, genau zu bestimmen, wie die Zukunft einzelner Asylsuchender nach einer Abschiebung aussähe. Deshalb behelfen sich die Gerichte mit der Betrachtung der Situation von Kollektiven, deren Lage derjenigen der Antragsteller*in entspricht. Sie erheben beispielsweise zunächst Informationen zu den derzeitigen Lebensumständen alleinerziehender Frauen (Basistatsachen) und prognostizieren auf dieser Grundlage die Gefährdungslage dieses Kollektivs. Manche Gerichte legen ihre Bewertung der kollektiven Gefährdungslage offen und formulieren unabhängig vom Einzelfall Risiko- und Schutzfaktoren für bestimmte Kollektive. Diese geben dann die Bewertung im Einzelfall vor.[5] Zwar können diese Einzelfallentscheidungen nicht direkt verglichen werden, die vorherige Bewertung der Gefährdungslage bestimmter Kollektive dagegen schon.

Die Pandemie als kollektive Gefährdungslage

Bereits vor der Pandemie wurde Familien mit Kindern und anderen vulnerablen Personen von den meisten Gerichten ein Schutz zugesprochen. Eine Rückkehr wurde dagegen regelmäßig beim Kollektiv der jungen, alleinstehenden Männer für zumutbar gehalten. Bei ihnen haben sich durch die Pandemie Veränderungen ergeben. Dabei lassen sich die Gerichte grob drei Meinungsblöcken zuordnen. Die genaue Gewichtung der Risiko- und Schutzfaktoren innerhalb der Blöcke variiert. Die Gerichte verweisen aber umfangreich auf Entscheidungen anderer Gerichte „ihres“ Meinungsblocks und machen damit deutlich, dass die grundsätzliche Linie gleich ist.

Den weitreichendsten Schutz gibt der erste Meinungsblock (im Folgenden: Block Netzwerk/Geld): Danach ist wegen der Auswirkungen der Pandemie grundsätzlich auch alleinstehenden, jungen Männern eine Rückkehr nicht zumutbar, soweit sie nicht über erhebliche finanzielle Ressourcen oder ein tragfähiges soziales Netzwerk in Afghanistan verfügen (besondere Schutzfaktoren). Allein eine „robuste Konstitution“ oder besondere berufliche Fähigkeiten reichen nicht (unter anderem: VGH Baden-Württemberg; VG Karlsruhe; VG Hannover; VG Lüneburg).[6]

Nicht ganz so weitgehend sind die Veränderungen eines zweiten Meinungsblocks (Block Durchsetzungsfähigkeit): Auch er fordert bei jungen, alleinstehenden Männern besondere Schutzfaktoren, hält aber nicht in jedem Fall erhebliche finanzielle Ressourcen oder ein soziales Netzwerk für erforderlich. Es komme auf eine besondere Durchsetzungsfähigkeit an, die auch aus beruflichen Fähigkeiten oder einer Sozialisation in Afghanistan folgen kann (wiederum mit Unterschieden im Detail: z. B. OVG Bremen; OVG Rheinland-Pfalz; VG Hamburg).[7]

Eine dritte Gruppe (Block unverändert) geht davon aus, dass die Pandemie nicht zu einer neuen Bewertung der Lage in Afghanistan zwingt. Auch junge, alleinstehende Männer, die nicht über Schutzfaktoren wie ein nennenswertes Vermögen, ein stützendes Netzwerk oder besondere berufliche Fähigkeiten verfügen, können sich danach in Afghanistan trotz der derzeitigen Lage eine Existenz aufbauen (z. B. VGH Bayern; VG Ansbach; VG Freiburg; VG Düsseldorf).[8]

Die Festlegung von Risiko- und Schutzfaktoren für bestimmte Kollektive korrespondiert mit den Basistatsachen zu den Auswirkungen der Pandemie, die die Gerichte ihrer Prognose zugrunde legen. Deutliche Unterschiede sind dabei zwischen den Blöcken Netzwerk/Geld und Durchsetzungsfähigkeit einerseits und dem Block unverändert andererseits zu beobachten. Zwar gehen weitgehend alle Gerichte davon aus, dass die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung sowohl die Lage auf dem labilen afghanischen Arbeitsmarkt verschlimmern als auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Unterkünften für Rückkehrer*innen negativ beeinflussen, allerdings unterscheiden sich die Entscheidungsgründe hinsichtlich der Verwendung von Herkunftslandinformationen zur zeitlichen Dimension dieser Auswirkungen, sowie der Bedeutung ihrer Kompensation durch lokale, nationale und internationale humanitäre Unterstützung.

 

Ein Beitrag aus dem BDVR-Rundschreiben 3/2021

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

 

[1]     Geringfügig überarbeitete Fassung des am 08.04.2021 zuerst auf dem Verfassungsblog erschienen Beitrags (https://verfassungsblog.de/corona-asyl/). Grundlage des Beitrags ist eine Analyse aller zwischen März 2020 und März 2021 auf juris veröffentlichten Hauptsacheentscheidungen (ohne Eilverfahren und Berufungszulassungsentscheidungen) zu Abschiebungsverboten nach Afghanistan (n=93). Die ungekürzte Studie ist zwischenzeitlich in der Ausgabe 5/2021 der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) erschienen (ZAR 2021, 196ff.).

[2]     Zusammenfassend: Feneberg/Pukrop Asylmagazin 2020, 355ff.

[3]     Vgl. BAMF, Asylgeschäftsstatistik 1-12/2020; BT-Drs. 19/18498, S. 45; BT-Drs. 19/28109, S. 38. Nimmt man die gerichtlichen Entscheidungen zu Flüchtlingsschutz und subsidiären Schutz hinzu, wurden 2020 60 Prozent der BAMF-Entscheidungen zu afghanischen Schutzsuchenden von den Gerichten korrigiert, vgl. ebd. Materielle Entscheidungen bilden die bereinigte Schutzquote ab, also alle Entscheidungen abzüglich sonstiger Verfahrenserledigungen.

[4]     VGH BW Urt. v. 11.04.2018 – A 11 S 1729/17, Rn. 23, beruhend auf den Maßstäben des EGMR, vgl. etwa EGMR Urt. v. 13.12.2016 – 41738/10 (Paposhvili ./. Belgien), Rn. 174. Kritisch zur Differenzierung bei der Zurechenbarkeit der Notlage: VG München Urt. v. 09.04.2020 – M 6 K 17.32718, Rn. 28ff. Alle im Folgenden zitierten Entscheidungen lassen sich bei juris finden.

[5]    Besonders deutlich beim VGH Bay. Urt. v. 29.10.2020 – 13a B 20.30347, Rn. 31, dort wird von einem „Regelfall“ gesprochen, zu der sich die Rechtsprechung des Senats gebildet hat; sowie beim VGH BW Urt. v. 03.11.2017 – A 11 S 1704/17, Rn. 463, der bei der Einzelfallentscheidung von einer „Subsumtion“ unter die zuvor formulierten Risiko- und Schutzfaktoren spricht. Außerdem beim VG Hamburg Urt. v. 7.8.2020 – 1 A 3562/17, Rn. 61: „Eine Existenzsicherung mit Hilfe eines Netzwerks ist wie folgt zu prüfen (…)“. Auch beim britischen System der Country Guidances wird von „risk factors“ gesprochen: Thomas, Administrative Justice and Asylum Appeals, 2011, S. 212ff.; Mitsch, Das Wissensproblem im Asylrecht, 2020, S. 283.

[6]     VGH BW Urt. v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20, Rn. 102ff.; VG Karlsruhe Urt. v. 15.05.2020 – A 19 K 16467/17 (Leitsatz); VG Hannover Urt. v. 09.07.2020 – 19 A 11909/17, Leitsatz und Rn. 17ff.; VG Lüneburg Urt. v. 05.02.2021 – 3 A 190/16, Rn. 53. Außerdem: VG Cottbus Urt. v. 29.05.2020 – 3 K 633/20.A, Rn. 53; VG Cottbus Urt. v. 21.08.2020 – 2 K 1561/16.A, Rn. 72; VG Stuttgart Urt. v. 24.8.2020 – A 15 K 78/18 Orientierungssatz und Rn. 50ff.; VG Potsdam Urt. v. 25.02.2021 – 13 K 3478/17.A, Rn. 24; VG Köln Urt. v. 18.02.2021 – 14 K 378/17.A, Rn. 50. Die 3. Kammer des VG Cottbus ging Ende März noch davon aus, dass die Pandemie nicht zu einem Wandel der Entscheidungspraxis zwingt (Urt. v. 26.03.2020 – 3 K 1392/17.A, Rn. 62). Ohne klare Risiko- und Schutzfaktoren aber wohl mit ähnlicher Tendenz: VG Magdeburg Urt. v. 28.05.2020 – 4 A 123/20 MD, Rn. 50; VG Arnsberg Urt. v. 02.07.2020 – 6 K 2576/17.A, Rn. 50.

[7]     OVG Bremen Urt. v. 22.09.2020 – 1 LB 258/20, Rn. 52ff.; OVG RhPf Urt. v. 30.11.2020 – 13 A 11421/19, Rn. 136 (im konkreten Fall wurde die hinreichende Durchsetzungsfähigkeit des Klägers angenommen); VG Hamburg Urt. v. 7.8.2020 – 1 A 3562/17, Rn. 60; VG Hamburg Urt. v. 18.11.2020 – 1 A 5933/18, Rn. 53 (Kläger ist nicht hinreichend durchsetzungsfähig, weil er nicht in Afghanistan sozialisiert ist). Das VG Cottbus Urt. v. 26.8.2020 – 6 K 710/17.A, S. 15 verweist auf das VG Hamburg und bildet ähnliche, aber weniger deutliche Maßstäbe. Auch beim VG Gelsenkirchen Urt. v. 17.8.2020 – 5a K 11323/17.A, Rn. 88 werden bloß die besondere Bedeutung von sozialer Verwurzelung und Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen betont, ohne dass die genauen Anforderungen deutlich werden.

[8]     VGH Bay. Urt. v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004, Rn. 43ff.; VGH Bay. Urt. v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087, Rn. 42ff.; VG Ansbach 18. Kammer (im Wesentlichen gleich in: Urt. v. 26.05.2020 – AN 18 K 17.31944, Rn. 44; Urt. v. 5.8.2020 – AN 18 K 17.30124, Rn. 53; Urt. v. 03.09.2020 – AN 18 K 17.30328, Rn. 63); VG München Urt. v. 31.08.2020 – M 15 K 17.39104, Rn. 45; VG München Urt. v. 28.09.2020 – M 24 K 17.38700, Rn. 25; VG München Urt. v. 04.11.2020 – M 6 K 17.38927, Rn. 34; VG Würzburg 1. Kammer (im Wesentlichen gleich in: Urt. v. 02.09.2020 – W 1 K 20.30872, Rn. 21 und Urt. v. 26.11.2020 – W 1 K 20.31152, Rn. 45); VG Freiburg 8. Kammer (im Wesentlichen gleich in: Urt. v. 19.05.2020 – A 8 K 9604/17, Rn. 39; Urt. v. 08.09.2020 – A 8 K 10988/17, Rn. 37; Urt. v. 05.03.2021 – A 8 K 3716/17, Rn. 43, dort mit umfangreichen Rspr.-Nachweisen); VG Freiburg Urt. v. 21.07.2020 – A 15 K 2291/17 (Leitsatz); VG Köln Urt. v. 25.08.2020 – 14 K 1041/17.A, Rn. 119; VG Düsseldorf Urt. v. 9.3.2021 – 25 K 1234/19.A, Rn. 243. Die 14. Kammer des VG Köln hat später eine Entscheidung veröffentlicht, die dem Block Netzwerk/Geld zuzuordnen ist und damit ihre Bewertung ausdrücklich verändert (VG Köln Urt. v. 19.02.2021 – 14 K 3838/17.A, Rn. 51ff.).

 

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Die Serie: Kollektive Gefährdungslage Corona 

 

 

 

Valentin Feneberg

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Integrative Research Institute Law & Society der Humboldt-Universität zu Berlin
 

Paul Pettersson

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Winfried Kluth an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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