16.11.2023

Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht

Vortrag beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken (Teil 3)

Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht

Vortrag beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken (Teil 3)

Die Ukraine darf sich kraft ihres Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) militärisch zur Wehr setzen.  | © diy13 - stock.adobe.com
Die Ukraine darf sich kraft ihres Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) militärisch zur Wehr setzen.  | © diy13 - stock.adobe.com

„Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht“– ein Fass ohne Boden. Dieser Beitrag möchte einige Punkte herausgreifen und muss viel Interessantes weglassen. Eine ausführliche Version mit Nachweisen finden Sie als ,Saar Expert Paper‘ beim Europa-Institut.‟1Der Text stellt eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrags der Autorin vom 04.05.2023 beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken dar. Siehe zur ausführlichen elektronischen Fassung mit Quellennachweisen: Richter, Dagmar, Der Ukraine-Krieg – strategische Abstinenz und Verantwortung für das Völkerrecht, Saar Expert Paper, 06/2023, online verfügbar unter: http://jean-monnet-saar.eu/?page_id=70. Wichtige Dokumente sind dort unmittelbar verlinkt. (Teil 3)

Dies ist eine Fortsetzung. Lesen Sie hier Teil 1 und Teil 2 des Beitrags.

VI. Völkerrechtliche Verantwortlichkeit

1. Individuelle und staatliche Verantwortlichkeit

Das Römische Statut über den Internationalen Strafgerichtshof regelt nur die individuelle Strafbarkeit von Personen, die für bestimmte schwere Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit in der Welt verantwortlich sind (Art. 6-8bis Röm. Statut). Russland ist nicht Vertragspartei. Die Ukraine hat die Anwendbarkeit auf ihrem Territorium zwar durch zwei bindende Erklärungen (Art. 12 Abs. 3 Röm. Statut) anerkannt, ist aber selbst dem Statut bis heute nicht beigetreten.


Kraft der ukrainischen Erklärungen unterfallen bestimmte Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermordakte der Strafbarkeit, sofern sie – von wem auch immer – seit dem 21.11.2013 in der Ukraine begangen oder dort wirksam wurden. Nach dem Komplementaritätsprinzip des Römischen Statuts (Art. 17 Abs. 1 Röm. Statut) hat die staatliche Strafverfolgung zwar Vorrang vor der internationalen. Da jedoch über vierzig Staaten den Internationalen Strafgerichtshof zu Ermittlungen aufgefordert haben (Art. 13 lit. a, Art. 14 Röm. Statut), durfte Den Haag unmittelbar aktiv werden. Im Falle des Präsidenten Putin ist das entscheidend, weil nationale Gerichte – anders als der IStGH – seine Immunität respektieren müssen. Erstmals in der Geschichte bildete der Internationale Strafgerichtshof dabei zusammen mit Einzelstaaten unter dem Dach von EUROJUST ein „Joint Investigation Team“.

Besondere Probleme verursacht das Verbrechen der Aggression (Art. 8bis Röm. Statut). Denn nur bei diesem Verbrechen muss auch der Staat, dem der Beschuldigte angehört, Vertragsstaat sein (Art. 15bis Ziffer 5 Röm. Statut). Um Präsident Putin und andere hochrangige Entscheidungsträger auch wegen des Angriffskrieges verfolgen zu können, wird daher die Errichtung eines Sondertribunals vorbereitet.

Neben die individuelle Verantwortlichkeit nach Völkerstrafrecht tritt die allgemeine Staatenverantwortlichkeit Russlands und gegebenenfalls der Ukraine für Verletzungen des Völkerrechts. Details regeln die Artikel über die Staatenverantwortlichkeit (ArtStV), die im Großen und Ganzen zu Völkergewohnheitsrecht geworden sind. Russland ist für alles verantwortlich, was innerhalb seiner Hoheitsgewalt (jurisdiction) liegt oder dieser zugerechnet werden kann. Geht es um Völkerrechtsverletzungen im Ausland wie z. B. den Krieg in der Ukraine, kommt es grundsätzlich auf die „effektive Kontrolle“ über Individuen oder – wie im Falle der Besetzung – die Gesamtkontrolle („overall control“) über ein bestimmtes Gebiet an. Im Falle der Aggression treten natürlich keine Kontrollfragen auf. Hier sagt die Aggressionsdefinition unmissverständlich: „Ein Angriffskrieg ist ein Verbrechen gegen den Weltfrieden. Eine Aggression führt zu völkerrechtlicher Verantwortlichkeit“ (Art. 5 Abs. 2).

Was heißt völkerrechtliche Verantwortlichkeit? Der Verletzerstaat kann durch Gegenmaßnahmen (counter-measures) gezwungen werden, die Verletzung abzustellen, den völkerrechtskonformen Zustand wiederherzustellen und entstandene Schäden zu kompensieren (Art. 49ff. ArtStV). Gegenmaßnahmen – früher „Repressalien“ – dürfen ihrerseits gegen Völkerrecht verstoßen, aber nicht Menschenrechte oder das Gewaltverbot verletzen (Art. 50 Abs. 1 ArtStV). Sie dürfen nur zur Erzwingung völkerrechtsgemäßen Verhaltens gebraucht werden (Art. 49 Abs. 1 ArtStV) und müssen verhältnismäßig sein.

Wird das fundamentale Gewaltverbot verletzt, gelten Besonderheiten. Erstens können alle Staaten und nicht nur der überfallene Staat Sanktionen ergreifen. Denn das Gewaltverbot ist eine „erga omnes“-Norm (vgl. Art. 49 Abs. 1 ArtStV). Allerdings bleiben gewaltsame Gegenmaßnahmen den Vorgaben des Art. 51 UN-Charta unterworfen. Zweitens stellt ein militärischer Angriff gegen einen anderen Staat den Paradefall eines „schwerwiegenden Völkerrechtsbruches“ (serious breach) dar. Bei einem solchen Bruch gilt die Pflicht zur Nicht-Anerkennung (Art. 41 Abs. 2 ArtStV). Das heißt, egal was Russland erreicht, andere Völkerrechtssubjekte dürfen die Früchte der bösen Tat nicht anerkennen und auch nicht zur Aufrechterhaltung des illegalen Zustands beitragen. Deshalb wird die Krim bis heute als Staatsgebiet der Ukraine behandelt – von allen Staaten, für die das Völkerrecht Bedeutung hat. Schon die Krim-Resolution der UN-Generalversammlung von 2014 rief alle Staaten und Organisationen zur Nicht-Anerkennung auf.

Nicht minder klar sind die beiden Resolutionen der Generalversammlung von 2022 und 2023 in diesem Punkt. Nicht-Anerkennung heißt: Es werden weder Pässe noch irgendwelche Dokumente aus der illegalen Entität anerkannt, völkerrechtliche Verträge des alten Staates bleiben anwendbar, Verträge des neuen werden nicht auf sie erstreckt, Herkunftszertifikate des neuen Staates werden im Handel nicht anerkannt, usw. Die Sache ist ernst zu nehmen. Allerdings hängen die Menschen in illegalen Entitäten oft wie Käfer zwischen Baum und Borke. Deshalb werden gewisse humanitäre Ausnahmen vom Prinzip der Nicht-Anerkennung, etwa in Bezug auf Heiratsurkunden, für erforderlich gehalten.

2. Verantwortlichkeit Deutschlands für Aktionen von Bündnispartnern, die von deutschem Staatsgebiet ausgehen

Kann Deutschland für militärische Maßnahmen von Bündnispartnern verantwortlich gemacht werden, die von deutschem Boden ausgehen? Ein Beispiel hierfür bieten die Drohneneinsätze der USA im Jemen zur gezielten Tötung von terrorverdächtigen Personen. Die Drohnen wurden aus den USA gesteuert, konnten aber wegen der Erdkrümmung nur mithilfe der Signalweiterleitung durch die Airbase Ramstein ihr Ziel erreichen. Angehörige getöteter Jeminiten klagten deshalb gegen Deutschland und forderten ein Verbot der weiteren Nutzung von Ramstein für diese Zwecke.

Das OVG Münster (4 A 1361/15) gab der Leistungsklage 2019 zwar zunächst statt, indem es eine entsprechende Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG ableitete. 2020 erklärte jedoch das Bundesverwaltungsgericht (6 C 7.19) das rein technische Übermittlungsgeschehen angesichts noch unklarer Völkerrechtsverstöße für nicht ausreichend. Der Fall ist inzwischen beim Bundesverfassungsgericht (2 BvR 508/ 21) anhängig. Aus völkerrechtlicher Sicht ist zu sagen: Deutschland kann nach dem Recht der Staatenverantwortlichkeit durchaus mit der Bereitstellung seines Territoriums auch für bloß technische Zwecke Beihilfe zu einem Völkerrechtsdelikt leisten.

3. „Sanktionen“ gegen Russland und private Unterstützende der russischen Aggression

Schon seit 2014 haben die EU und weitere Staaten Sanktionen gegen Russland ergriffen, die nach dem Angriff 2022 erheblich intensiviert wurden. Wirtschaftssanktionen sind allerdings nicht unproblematisch. Denn sie können die Prinzipien der Nicht-Intervention und Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten sowie die Freiheit des internationalen Handels und der Schifffahrt verletzen. Die UN-Generalversammlung hat aus diesen Gründen zuletzt 2022 mit 185 Jastimmen (!) das langjährige Wirtschaftsembargo gegen Cuba verurteilt. Sind Russland und Cuba vergleichbar? Handelt es sich um einen Doppelstandard des Westens, der nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA in den Irak keine Sanktionen ergriffen hatte?

Die Gleichsetzung der Fälle führt allerdings in die Irre. Denn es gibt nur ein Recht, aber keine Pflicht zur Sanktionierung. Ob davon gebraucht gemacht wird, liegt im politischen Ermessen. Selbst wenn der Einmarsch in den Irak zum Zwecke des Sturzes der Regierung Hussein völkerrechtswidrig war und Sanktionen gegen die intervenierenden Staaten angezeigt gewesen wären, folgte aus dem damaligen Unterlassen nichts für den heutigen Fall. Denn Sanktionen können nicht dadurch völkerrechtswidrig werden, dass sie in einem anderen Fall zu Unrecht oder in nur moralisch-politisch angreifbarer Weise unterblieben sind. Zudem hinkt der Vergleich gewaltig. Denn im Falle der Ukraine geht es um deren gewaltsame Eroberung zur Wiederherstellung eines Weltreichs, genannt „russische Welt“. Die massiven Sanktionen gegen Russland korrespondieren mit einer Verletzung des Völkerrechts, wie sie die Welt seit dem II. Weltkrieg nicht gesehen hat.

Problematischer erscheinen die sogenannten „Smart Sanctions“ gegen natürliche und juristische Privatpersonen. Die Verordnung (EU) 269/2014 friert Vermögenswerte aller Art ein, wobei die Anzahl der Gelisteten unaufhörlich wächst. Erfasst werden u. a. auch Akteure, die lediglich mit gelisteten Personen und Einrichtungen „verbunden“ sind. Nicht immer konnten die Entscheidungen des Rates dabei überzeugen. So hat z. B. das EuG am 08.03.2023 im Falle der Mutter von Yevgenij Prigozhin (Violetta Prigozhina v. Rat der EU) entschieden, dass die erforderliche „Verbindung“ zu einer sanktionierten Person nicht allein durch verwandtschaftliche Nähe begründet werden kann. Es müsse vielmehr durch Fakten belegt sein, dass auch die eingefrorenen Vermögenswerte zur Zeit der Entscheidung über das Einfrieren eine Beziehung zur sanktionierten Person hatten.

Brisant ist die Frage, ob die eingefrorenen Vermögenswerte konfisziert werden dürfen, um sie der Ukraine als Reparationsmittel zu übergeben. Soweit es Staatsvermögen von Russland und Belarus betrifft, geht die h. M. davon aus, dass nur das Einfrieren und nicht die dauerhafte Verwertung als Gegenmaßnahme gegen die Aggression erlaubt sei. Das Problem liegt dabei nicht in der Unverletzlichkeit des Staatsvermögens als Folge der Staatenimmunität. Denn eine erlaubte Gegenmaßnahme darf ja ihrerseits Völkerrecht verletzen. Das Problem liegt vielmehr darin, dass Gegenmaßnahmen nur Erzwingungscharakter haben, also nicht zum „Sofortvollzug“ legitimieren.

Könnte die Konfiskation russischen Staatsvermögens alternativ auf das Recht zur Selbstverteidigung gestützt werden? Argumentiert wird, dass Art. 51 UN-Charta auch den Einsatz indirekter bzw. nichtmilitärischer Mittel zur Selbstverteidigung erlaube, d. h. die Konfiskation russischen Staatsvermögens zum Zwecke der Finanzierung der Selbstverteidigung der Ukraine. Wenn sogar militärische Gewalt gegen Russland als kollektive Selbstverteidigung gerechtfertigt ist, sollte doch erst recht die bloße Konfiskation von Staatsvermögen – auch durch Drittstaaten – erlaubt sein. Staaten, die nur zur Konfiskation greifen, üben schließlich nicht mehr, sondern weniger Gewalt aus als ihnen erlaubt ist. Immerhin steht der Angreiferstaat der ganzen Völkergemeinschaft gegenüber in der Pflicht, jegliche Aggression zu unterlassen. Es handelt sich auch nicht um eine unzulässige Selbsthilfe, die das System der Gegenmaßnahmen unterlaufen würde. Denn es geht nicht um die Entschädigungspflicht als Folge irgendeiner Völkerrechtsverletzung, sondern um Verteidigung gegen eine Aggression.

Die Konfiskation von Staatsvermögen auf der Basis des Art. 51 UN-Charta zu Zwecken der Verteidigung ist also unabhängig von der daneben bestehenden Entschädigungspflicht für Völkerrechtsverletzungen. Gleichwohl dürften die Unterstützerstaaten der Ukraine vor diesem Weg zurückschrecken. Denn es steht die Frage im Raum, ob auch diese Form der Berufung auf Selbstverteidigung die Pflicht zur Einschaltung des Sicherheitsrats (Art. 51 Satz 2 UN-Charta) auslöst und sie sich gerade damit – in der irrigen Vorstellung von Teilen der Öffentlichkeit – als Kriegspartei darstellen könnten.

Soweit Privatvermögen konfisziert werden soll, müssen die Grund- und Menschenrechte beachtet werden. Eine entschädigungslose Enteignung kommt allenfalls als Nebenfolge einer strafrechtlichen Verurteilung in Betracht, etwa wegen der Verletzung oder Umgehung von Sanktionen. Diese Straftat wurde inzwischen in den Katalog des Art. 83 AEUV aufgenommen. Nach einem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission über die Abschöpfung und Einziehung von Vermögenswerten sollen darunter auch Rechtsberatung, Vertrauensdienste und Steuerberatung fallen können. Das kann man kritisch sehen.

VII. Vom Wert des Völkerrechts in Kriegszeiten

Ist das Völkerrecht nach der Wiederkehr des Angriffskrieges am Ende? Der IGH hält der vorschnellen Resignation im Nicaragua-II-Urteil von 1986 Folgendes entgegen: „Wenn ein Staat in einer Weise handelt, die prima facie mit einer anerkannten Regel unvereinbar ist, aber sein Verhalten mit Ausnahmen oder Rechtfertigungen verteidigt, die in der Regel selbst enthalten sind, dann hat diese Haltung … die Bedeutung, die Regel eher zu bestätigen als zu schwächen.“ (§ 186)

Vielleicht sehen wir ja nur ein Zerrbild des Völkerrechts: Seine Verletzung erzeugt Lärm, seine Befolgung jedoch nicht. Der in Russland geborene US-amerikanische Völkerrechtler Louis Henkin bemerkte dazu: „Wahrscheinlich ist es so, dass fast alle Staaten fast alle Grundsätze des Völkerrechts und fast alle ihre Verpflichtungen fast immer einhalten“ (How Nations Behave: Law and Foreign Policy. New York 1970).

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie im BDVR-Rundschreiben 3/2023, S. 4.

 

Apl. Prof. Dr. Dagmar Richter

Universität Heidelberg/Universität des Saarlandes.
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    Der Text stellt eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrags der Autorin vom 04.05.2023 beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken dar. Siehe zur ausführlichen elektronischen Fassung mit Quellennachweisen: Richter, Dagmar, Der Ukraine-Krieg – strategische Abstinenz und Verantwortung für das Völkerrecht, Saar Expert Paper, 06/2023, online verfügbar unter: http://jean-monnet-saar.eu/?page_id=70. Wichtige Dokumente sind dort unmittelbar verlinkt.
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