09.11.2023

Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht

Vortrag beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken (Teil 2)

Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht

Vortrag beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken (Teil 2)

Die Ukraine darf sich kraft ihres Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) militärisch zur Wehr setzen.  | © diy13 - stock.adobe.com
Die Ukraine darf sich kraft ihres Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) militärisch zur Wehr setzen.  | © diy13 - stock.adobe.com

„Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht“– ein Fass ohne Boden. Dieser Beitrag möchte einige Punkte herausgreifen und muss viel Interessantes weglassen. Eine ausführliche Version mit Nachweisen finden Sie als ,Saar Expert Paper‘ beim Europa-Institut.‟1Der Text stellt eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrags der Autorin vom 04.05.2023 beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken dar. Siehe zur ausführlichen elektronischen Fassung mit Quellennachweisen: Richter, Dagmar, Der Ukraine-Krieg – strategische Abstinenz und Verantwortung für das Völkerrecht, Saar Expert Paper, 06/2023, online verfügbar unter: http://jean-monnet-saar.eu/?page_id=70. Wichtige Dokumente sind dort unmittelbar verlinkt. (Teil 2)

Dies ist eine Fortsetzung. Lesen Sie hier Teil 1 des Beitrags.

III. Recht zum Krieg und Regeln im Krieg – zwei Welten

Das Völkerrecht unterscheidet zwischen dem Recht zum Krieg (ius ad bellum) und dem Recht im Krieg (ius in bello), d. h. den Regeln über die Art und Weise der Kriegsführung. Wir sprechen heute allerdings nicht mehr vom „Krieg“, sondern vom „bewaffneten Konflikt“. Doch lebt der Kriegsbegriff in Altverträgen fort. Natürlich gibt es kein „Recht zum Krieg“ mehr, sondern nur die ausnahmsweise erlaubte Gewaltanwendung.


Weil es verboten ist anzugreifen, hat sich auch die Kriegserklärung erledigt. Es ist daher völkerrechtlich irrelevant, wenn die Russische Föderation die Verwendung des Wortes „Krieg“ bei Strafe verbietet oder sich die deutsche Außenministerin verschwatzt und vom „Krieg gegen Russland“ redet. Ein internationaler bewaffneter Konflikt liegt schon beim ersten Waffeneinsatz vor, wenn zwischen Staaten die Streitkräfte eingesetzt werden und dies eine gewisse Mindestintensität erreicht. Es kommt also nur auf die tatsächliche Lage an.

Das humanitäre Völkerrecht möchte nicht wissen, wer angefangen hat, sondern nur, ob der Einsatz von Waffengewalt regelkonform ist. Als Ius in bello ist es blind gegenüber jeder Kriegsschuld; – das ius ad bellum ist es aber gerade nicht! Wie fundamental unterschiedlich beide Regelungsbereiche bewerten, zeigt sich z. B. im Begriff des „Angriffs“. Denn damit bezeichnet das Selbstverteidigungsrecht in Art. 51 UN-Charta die unerlaubte Aggression, das humanitäre Völkerrecht jedoch sowohl die offensive als auch die defensive Gewaltanwendung gegen den Gegner (Art. 49 Abs. 1 ZP I).

IV. Wer ist „Kriegspartei“ – die falsche Frage?

Der Begriff der „Kriegspartei“ war im klassischen Kriegsrecht entscheidend. Als es noch kein Gewaltverbot gab, musste man sich für neutral erklären, um den Feindseligkeiten zu entgehen. Art. 1 der V. Haager Konvention erklärte nur das Territorium neutraler Staaten für „unverletzlich“. Die formal fortgeltenden Neutralitätsrechte sind ein Vorläufer des Gewaltverbots, setzen allerdings die Einhaltung spezieller Neutralitätspflichten voraus. Durch Waffenlieferungen an eine Kriegspartei verletzt(e) ein Staat das Neutralitätsrecht, was nach klassischem Völkerrecht militärische Gegenmaßnahmen auslösen konnte.

Heute muss das Neutralitätsrecht aber im Lichte des Gewaltverbots und des Systems der kollektiven Sicherheit interpretiert werden. Schon zu Zeiten des Briand-Kellogg-Paktes (1928) bildete sich neben neutralen und kriegsführenden Staaten eine dritte Kategorie der „nicht kriegsführenden“ Staaten heraus. Der neue Status der Nichtkriegführung („non-belligerency“) sollte sicherstellen, dass sich Vertragsparteien des Kriegsächtungspaktes gegen den Aggressor stellen konnten, ohne in Kampfhandlungen hineingezogen werden. Darauf beriefen sich auch die USA, als sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, aber vor dem eigenen Kriegseintritt, Großbritannien schwere Waffen zur Verfügung stellten.

Diese Entwicklung schlägt sich inzwischen im Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1977 nieder, wo neben der Kriegspartei und dem neutralen Staat auch der „Staat, der keine Konfliktpartei ist“ genannt ist. Heute wird ein Staat erst dann Kriegspartei, wenn seine Unterstützung die Dimension der direkten Teilnahme an den Feindseligkeiten erreicht.

Eine „echte“ Kriegspartei muss drei Voraussetzungen erfüllen:

  • unmittelbare Teilnahme an den Feindseligkeiten, d. h. Leistung eines Beitrags mit unmittelbarem operativem Bezug,
  • konkret koordinierte Operationen (anderenfalls liegen mehrere bewaffnete Konflikte vor!) und
  • Wissen um die relevanten Fakten.

Bloßen Waffenlieferungen fehlt es am unmittelbaren Bezug zu einer schadensträchtigen Operation, egal ob dabei Helme oder Kampfjets geliefert werden. Nur eine Mindermeinung erwägt eine Ausnahme für den Fall der direkten Waffenlieferung in das Kampfgeschehen hinein. Dagegen kann die Echtzeit-Weiterleitung von Zielkoordinaten einen unmittelbaren operationellen Bezug haben. Wir sehen hier die zunehmende räumliche Entgrenzung von Kriegen. Es ist möglich, dass die USA im Kontext der Versenkung der Moskwa eine „heimliche Kriegspartei“ geworden sind. Dagegen ist Belarus vorläufig keine Kriegspartei i. S. d. humanitären Rechts, obwohl es eine Angriffshandlung i. S. d. Aggressionsdefinition begangen hat.

Deutschland ist mit seinen bisherigen Unterstützungshandlungen keinesfalls Kriegspartei geworden, sondern hat allenfalls seine Neutralität eingebüßt. Aber selbst der Verlust der Neutralität wird heute bezweifelt, soweit es um Hilfe für einen angegriffenen Staat geht. Befindet sich deutsches Personal im Kampfgebiet, kann es u. U. Ziel von russischen Angriffen werden. Hält sich das russische Militär dabei an die Regeln der Kriegsführung, begehen die beteiligten Soldat* innen zwar keine Kriegsverbrechen. Im Übrigen gelten aber immer noch die UN-Charta und allgemeines Völkerrecht. D. h. Russland verletzt das Gewaltverbot und ist aus Art. 2 Ziffer 4 UN-Charta zur sofortigen Einstellung der Kampfhandlungen verpflichtet. Es hat keinerlei Recht, die Aggression auf Staaten auszuweiten, die die Ukraine im Rahmen legitimer kollektiver Selbstverteidigung unterstützen. Denn es hat seinerseits kein Recht zur Selbstverteidigung. Kurz gefasst: „Kriegspartei oder nicht Kriegspartei? Das ist nicht die Frage!“ (Stefan Talmon).

V. Humanitäres Völkerrecht – Kriegsverbrechen im Fokus

Das humanitäre Völkerrecht („Kriegsvölkerrecht“) umfasst Regeln über die Methoden der Kriegsführung, die Behandlung Einzelner und die Rechtsstellung neutraler Staaten. Von herausragender Bedeutung sind die vier Genfer (Rotkreuz-) Abkommen von 1949 betreffend Verwundete an Land, Verwundete auf See, Kriegsgefangene und Zivilpersonen. 1977 führten zwei Zusatzprotokolle zu Verschärfungen des humanitären Schutzes.

Das „ZP I“ betreffend internationale bewaffnete Konflikte hat die Ukraine 1990 mit einer präzisierenden Erklärung zur Fact-finding Commission ratifiziert; Russland hat es 1989 ratifiziert, jedoch die Anerkennung der Zuständigkeit der internationalen Ermittlungskommission 2019 widerrufen. Will man wissen, welche Regeln des Genfer humanitären Rechts völkergewohnheitsrechtlich gelten, also auch ohne dass ratifiziert wurde, empfiehlt sich ein Blick in die 2005 vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz herausgegebene Studie „Customary International Humanitarian Law“ von Henckaerts und Doswald-Beck.

Das humanitäre Völkerrecht enthält zwar keine subjektiven Rechte, sondern nur Staatenverpflichtungen. Auch in bewaffneten Konflikten bleiben jedoch die Menschenrechte anwendbar, soweit sie nicht durch Spezialregelungen des humanitären Völkerrechts modifiziert werden. Werden Regeln des humanitären Völkerrechts missachtet, verletzt der verantwortliche Staat auch korrespondierende Menschenrechte wie z. B. das Recht auf Leben, sodass die Sache deswegen z. B. beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verhandelt werden kann. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist auf die kriegsbedingte Flucht zwar nicht anwendbar (Art. 1 GFA). Die vor Krieg und Bürgerkrieg Flüchtenden genießen aber i. d. R. sog. „subsidiären Schutz“. Im Falle der Ukraine gewähren Spezialregelungen des Unionsrechts den Schutz pauschal innerhalb der EU.

Der bewaffnete Konflikt beginnt mit der Aufnahme der Feindseligkeiten. Ab diesem Moment gilt humanitäres Völkerrecht. Spezielle Regeln über die militärische Besetzung werden anwendbar, sobald eine Konfliktpartei die Kontrolle über ein fremdes Gebiet erlangt (Art. 42 HLKO). Es ist einer Besatzungsmacht verboten, das Rechtssystem im besetzten Gebiet zu verändern, Eigentum an sich zu bringen oder Menschen zwangsweise zu verschicken, soweit nicht benannte zwingende Gründe dies gebieten (Art. 47ff. GK IV, Art. 42ff. HLKO). Und sie ist verpflichtet, die Versorgung, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten (Art. 55ff. GK IV, Art. 69 ZP I).

Diese negativen und positiven Pflichten einer Besatzungsmacht treffen Russland in allen besetzten Regionen der Ost- und Südukraine wie auch auf der Krim. Aus der Fülle von Verstößen gegen das Genfer Recht können hier nur einige exemplarisch aufgegriffen werden.

1. Kombattanten- und Kriegsgefangenenstatus: Internationale Legion und „Gruppe Wagner“

Interessant ist zunächst die Frage, wer Kombattantenrechte genießt. Das sogenannte „Kombattantenprivileg“ beinhaltet zwar „kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes“ (Art. 22ff. HLKO), Kämpfende der gegnerischen Macht dürfen aber grundsätzlich getötet werden. Außerdem steht Kombattanten der Kriegsgefangenenstatus mit besonderen Schutzrechten zu, sofern sie bestimmte Voraussetzungen (Art. 1 HLKO) erfüllen. „Söldner“ sind jedoch sowohl vom Kombattanten- als auch vom Kriegsgefangenenstatus ausgeschlossen (Art. 47 ZP I). Sie können deshalb für alle Schäden belangt werden, selbst wenn sie die Regeln der Kriegsführung beachten. Ihnen steht lediglich eine menschliche Behandlung nach der „Martens’schen Klausel“ (Abs. 9 Präambel des II. Haager Abkommens 1899) und allgemeinen Menschenrechten zu.

Auf ukrainischer Seite stellt sich die Frage, ob die Angehörigen der „International Legion of Territorial Defense“ als Kombattanten oder Söldner zu behandeln sind. Russland kündigte nämlich an, diese Personen als Söldner und wie Kriminelle zu behandeln. Was sagt das Völkerrecht?

Gemäß Art. 47 ZP I ist Söldner nur, wer speziell angeworben ist, tatsächlich an den Feindseligkeiten teilnimmt, dies in Gewinnerzielungsabsicht tut, eine „wesentlich höhere Vergütung“ als in den regulären Truppen zugesagt erhält, Staatsangehöriger eines unbeteiligten Staates ist und auch nicht amtlich entsandt wurde. Alle Anforderungen müssen kumulativ erfüllt sein. Um es kurz zu machen: Bei der internationalen Legion der Ukraine mangelt es schon an der Zusage einer „wesentlich höhere Vergütung“ (Art. 47 Abs. 2 lit. c ZP I). Das hat die Ukraine im März 2015 gesetzlich festgelegt. Es dürfte sich nach Einordnung in die Streitkräfte sogar um ein reguläres Freiwilligenkorps i. S. v. Art. 4 A GA III handeln. Zudem wird nach humanitärem Völkerrecht vermutet, dass eine Person, die an Feindseligkeiten teilgenommen hat und gefangen genommen wird, den Kriegsgefangenenstatus beanspruchen kann (Art. 45 Abs. 1 ZP I). Ob auf russischer Seite z. B. Angehörige der „Gruppe Wagner“ Söldner oder schutzberechtigte Freiwillige sind, kann hier nicht beurteilt werden. Es gelten dieselben Kriterien.

2. Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Ziele

Das humanitäre Völkerrecht verbietet Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Ziele (Art. 51f. ZP I) und gebietet, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden (Art. 48 ZP I), die Verhältnismäßigkeit zwischen Schaden und militärischem Nutzen zu wahren (Art. 35 ZP I) und entsprechende Vorkehrungen bei Angriffen zu treffen (Art. 57 ZP I). Es gilt die Verpflichtungstrias „Unterscheidung – Verhältnismäßigkeit – Vorsorge“.

Werden wie in der Ukraine ungewöhnlich viele zivile Personen und Objekte betroffen oder fehlt es an Anhaltspunkten für einen militärischen Vorteil, lässt dies auf verbotene Angriffe, d. h. Kriegsverbrechen schließen. Massenweise (Kollateral-)Schäden sind jedenfalls bei regelkonformer Planung vermeidbar. Eine OSZE-Expertenkommission stellte bereits in den ersten Kriegswochen massive Verletzungen fest (Report On Violations Of International Humanitarian And Human Rights Law, War Crimes And Crimes Against Humanity Committed In Ukraine Since 24 February 2022).

3. Angriffe auf medizinische Einrichtungen

Krankenhäuser und Ambulanzen genießen einen verstärkten Schutz im bewaffneten Konflikt (Art. 18 GA IV; Art. 12 Abs. 1, Art. 18 ZP I). Sollten sie diesen Schutz verloren haben, weil sie zu militärischen Objekten umfunktioniert wurden, muss die angreifende Partei eine Warnung aussprechen und eine Frist zur Wiederherstellung des Schutzstatus setzen (Art. 19 GA IV; Art. 13 Abs. 1 ZP I).

Im Falle der Ukraine soll es nur in einem Fall eine nicht hinreichend präzisierte Vorwarnung Russlands gegeben haben. In keinem Falle kam Russland seiner Beweispflicht (vgl. Art. 13 ZP I) für den Missbrauch der jeweils konkreten Einrichtung nach. Die zahlreichen Attacken auf ukrainische Gesundheitseinrichtungen werden inzwischen im WHO Surveillance System for Attacks on Health Care (SSA) dokumentiert.

4. Angriffe auf die Infrastruktur

Seit dem Herbst 2022 attackiert die Russische Föderation gezielt die Energie-Infrastruktur in der Ukraine, namentlich Heizkraftwerke und stromerzeugende Anlagen. Diese Angriffe werden von Russland offen zugegeben, wobei von „militärischen Zielen“ die Rede ist. Art. 54 ZP I schützt die „für die Zivilbevölkerung lebenswichtigen Objekte“ (indispensable objects). Genannt werden Objekte „wie“ Nahrungsmittel, Trinkwasser- und Bewässerungsanlagen (Absatz 2). Schon die Formulierung „wie“ stellt klar, dass die Auflistung nicht abschließend ist. Russlands Argument, die Wärme- und Energieversorgung diene militärischen Zwecken, ist im Kontext dieser Regelung ungenügend. Denn das humanitäre Recht schränkt das Verbot der Zerstörung nur für den Fall ein, dass die attackierten Objekte „ausschließlich zur Versorgung der Angehörigen ihrer Streitkräfte“ (Art. 54 Abs. 3 lit. a ZP I) oder mindestens „zur unmittelbaren Unterstützung einer militärischen Handlung“ (lit. b) benutzt werden. Die bloße Mitbenutzung durch die Streitkräfte reicht für Buchstabe a nicht, deren allgemeine Versorgung für Buchstabe b nicht. Zudem greift das allgemeine Prinzip der Immunität ziviler Objekte (Art. 52 ZP I). Danach sind Angriffe „streng auf militärische Ziele zu beschränken“. Das sind nur Ziele, „die wirksam zu militärischen Handlungen beitragen“ und deren Zerstörung einen eindeutigen militärischen Vorteil (definite military advantage) darstellt (Art. 52 Abs. 2 Satz 1 ZP I). Dieser Vorteil muss gerade auch in Bezug auf das jeweils zerstörte Objekt bestehen.

Zudem gilt eine Rechtsvermutung, wonach ein „in der Regel für zivile Zwecke bestimmtes Objekt“ im Zweifel nicht dazu verwendet wird, wirksam zu militärischen Handlungen beizutragen (Art. 52 Abs. 3 ZP I). Selbst wenn im Einzelfall eine duale – zivile und militärische – Funktion bestimmter Energieanlagen vorliegt, müssten der militärische Nutzen und der Schaden für die Zivilbevölkerung abgewogen werden. Daran fehlt es aber in aller Regel. Kernkraftwerke oder Staudämme dürfen selbst im Falle der militärischen Nutzung nicht angegriffen werden, wenn dies gefährliche Kräfte und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung bewirken kann (Art. 56 ZP I).

5. Ukrainische Kinder in Russland: Rettung oder Verschleppung?

Aus der Ukraine sind offenbar einige Tausend Kinder vor allem aus dem Donbass nach Russland verschleppt worden. Dieser Tatkomplex hat am 17.03.2023 zu den ersten Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs geführt, gegen Vladimir Putin und die russische „Kommissarin für Kinderrechte“ Maria Lvova-Belova. Die Besonderheit des Römischen Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof liegt darin, dass die sonst bestehende völkerrechtliche Immunität des Staatspräsidenten nicht greift (Art. 27 Röm. Statut). Beide Beschuldigte müssen daher in 123 Ländern der Welt mit Verhaftung rechnen. Die Kinderkommissarin behauptet demgegenüber, nur von ihren Eltern verlassene Kinder gerettet zu haben. Reicht das zur Rechtfertigung?

Das humanitäre Recht verbietet es den Konfliktparteien, Kinder anderer Staatsangehörigkeit in ein fremdes Land zu verbringen, es sei denn, es handelt sich um eine vorübergehende Evakuierung aus zwingenden Gründen der Gesundheit oder Sicherheit (Art. 78 ZP I). Für eine Evakuierung ist das Einverständnis der Sorgeberechtigten nach Möglichkeit einzuholen. Stets sind jedoch dem Zentralen Suchdienst des IKRK die Personendaten jedes evakuierten Kindes zu übermitteln, „um die Rückkehr der … evakuierten Kinder zu ihren Familien und in ihr Land zu erleichtern“ (Art. 78 Abs. 3 ZP I). In besetzten Gebieten können Sicherheitsgründe nicht für eine Evakuierung geltend gemacht werden.

Vielmehr verpflichtet das IV. Genfer Abkommen Besatzungsmächte, Einrichtungen für Kinder im Benehmen mit den Landesbehörden zu betreiben, Maßnahmen zur Identifizierung zu treffen und die Betreuung der von ihren Eltern getrennten Kindern sicherstellen, „wenn möglich durch Personen gleicher Nationalität, Sprache und Religion, sofern nicht ein naher Verwandter oder Freund für sie sorgen kann“ (Art. 50 GA IV). Hier fehlt es an jeglichen Versuchen, Sorgeberechtigte zu finden, die Rückführung zu ermöglichen oder auch nur den Suchdienst des Roten Kreuzes zu informieren.

Ferner wurde das strikte Verbot der Änderung des Personenstands von Kindern durch eine Besatzungsmacht (Art. 50 Abs. 2 GA IV) missachtet, indem ukrainische Kinder im Schnellverfahren in Russland adoptiert und eingebürgert wurden. Die „gewaltsame Überführung von Kindern“ einer nationalen Gruppe in eine andere Gruppe kann sogar den Tatbestand des Völkermords erfüllen, wenn die Überführung „in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (Art. II lit. e).

Eine solche Absicht könnte in Maßnahmen zur systematischen Russifizierung ukrainischer Kinder zum Ausdruck kommen. Darüber hinaus kommt eine Verletzung des Rechts auf Familienzusammenführung gemäß Art. 10 der Kinderrechtekonvention in Betracht. Art. 25 der Konvention gegen das Verschwindenlassen, der verschwundene Kinder betrifft, kann mangels Ratifikation durch Russland nicht angewendet werden.

Anmerkung: Dieser Beitrag wird fortgesetzt.

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie im BDVR-Rundschreiben 3/2023, S. 4.

 

Apl. Prof. Dr. Dagmar Richter

Universität Heidelberg/Universität des Saarlandes.
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    Der Text stellt eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrags der Autorin vom 04.05.2023 beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken dar. Siehe zur ausführlichen elektronischen Fassung mit Quellennachweisen: Richter, Dagmar, Der Ukraine-Krieg – strategische Abstinenz und Verantwortung für das Völkerrecht, Saar Expert Paper, 06/2023, online verfügbar unter: http://jean-monnet-saar.eu/?page_id=70. Wichtige Dokumente sind dort unmittelbar verlinkt.
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