02.11.2023

Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht

Vortrag beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken

Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht

Vortrag beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken

Die Ukraine darf sich kraft ihres Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) militärisch zur Wehr setzen.  | © diy13 - stock.adobe.com
Die Ukraine darf sich kraft ihres Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) militärisch zur Wehr setzen.  | © diy13 - stock.adobe.com

„Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht“– ein Fass ohne Boden. Ich möchte einige Punkte herausgreifen und muss viel Interessantes weglassen. Eine ausführliche Version mit Nachweisen finden Sie als ,Saar Expert Paper‘ beim Europa-Institut.‟1Der Text stellt eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrags der Autorin vom 04.05.2023 beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken dar. Siehe zur ausführlichen elektronischen Fassung mit Quellennachweisen: Richter, Dagmar, Der Ukraine-Krieg – strategische Abstinenz und Verantwortung für das Völkerrecht, Saar Expert Paper, 06/2023, online verfügbar unter: http://jean-monnet-saar.eu/?page_id=70. Wichtige Dokumente sind dort unmittelbar verlinkt.

I. Maßstäbe des UN-Rechts: der Angriffskrieg im System der Gewaltbegriffe

Das Völkerrecht unserer Zeit verbietet die Anwendung und Androhung von Gewalt in den internationalen Beziehungen. So regelt es Art. 2 Ziffer 4 der UN-Charta. Dasselbe gilt kraft ungeschriebenen Völkergewohnheitsrechts.

Gewalt ist ein schillernder Begriff. Was „Gewalt“ i. S. d. UN-Charta bedeutet, erläutern Resolutionen der UN-Generalversammlung. Sie haben zwar nur empfehlenden Charakter. Werden sie jedoch von besonders vielen Staaten unterstützt, kann dies Indiz für inhaltsgleiches Völkergewohnheitsrecht sein. So ist es im Falle der „Friendly Relations Declaration“ der Generalversammlung von 1970, die erläutert, welche Pflichten aus dem Gewaltverbot folgen. Dasselbe gilt für die „Aggressionsdefinition“ von 1974. Diese Resolution definiert die „Angriffshandlung“, den Erstgebrauch von Gewalt, die sog. „Aggression“. Ausdrücklich in Artikel 3 erwähnte Formen der Aggression sind nicht nur die militärische Invasion und Besetzung, sondern auch die Annexion, die Seeblockade u.v.m.


Die Qualifizierung als Angriffshandlung ist sehr bedeutsam. Denn nur gegen den bewaffneten Angriff ist das Recht der Selbstverteidigung gegeben, gegen sonstige Gewalt jedoch nicht, selbst wenn sie den Weltfrieden bedroht. Geht es um das Verbot der Gewalt und die Befugnis zum Gebrauch friedenswahrender Instrumente, ist der Gewaltbegriff weiter; geht es um die Befugnis von Staaten, eine Aggression wiederum mit Gewalt abzuwehren, ist der Gewaltbegriff enger. Um Gewalt einzudämmen, operiert die UN-Charta also mit mehreren Gewaltbegriffen.

Der „bewaffnete Angriff“, der allein zur Selbstverteidigung berechtigt, setzt militärische Gewalt von einer Intensität voraus, die über einen bloßen Zwischenfall hinausgeht. Er ist mehr oder minder gleichbedeutend mit dem Begriff der „Aggression“. Dafür spricht auch die französische Fassung des bewaffneten Angriffs –„agression armée“.

Im Falle der Ukraine sehen wir schon seit 2014 Angriffshandlungen i.S. der Aggressionsdefinition. 2022 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Sache Ukraine and the Netherlands v. Russia fest, dass Russland spätestens seit dem 11.05.2014 (Datum der „Referenden“) die Kontrolle über die gesamte separatistische Operation in der Ostukraine hatte. Als erste klare Angriffshandlung ist die Annexion der Krim am 21.03.2014 anzusehen.

Am 24.02.2022 wurde eine lediglich neue Dimension eröffnet, die die UN-Generalversammlung als „full-scale invasion“ bezeichnet. Wir sehen in dieser zweiten Phase das ganze Programm der Angriffshandlungen einschließlich der Annexion von vier weiteren Regionen. Außerdem hat Belarus sein Territorium als Aufmarschgebiet für die russische Invasion zur Verfügung gestellt. Auch dies stellt eine eigenständige Angriffshandlung, nicht nur Beihilfe zur Aggression dar (Art. 3 lit. f. Aggressionsdefinition).

Die Ukraine wäre somit seit März 2014 Opfer fortdauernder russischer Aggression und seit Februar 2022 auch belarussischer Aggression geworden. Zwar behaupten beide Konfliktparteien gleichermaßen, Opfer eines Angriffs zu sein. Eine „Selbstverteidigung gegen die Selbstverteidigung“ ist aber logisch ausgeschlossen. Denn das Recht zur Selbstverteidigung setzt immer einen unerlaubten bewaffneten Angriff voraus. Hier spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass derjenige Staat den Angriff begeht, der als erster Waffengewalt unter Verletzung der UN-Charta anwendet (Art. 2 Aggressionsdefinition).

II. Russlands Rechtfertigungsversuche und geltendes Völkerrecht

Sehen wir uns die russischen Begründungen für die Gewaltanwendung genauer an.

1. Die These von der „Russischen Welt“– fehlende Eigenstaatlichkeit der Ukraine?

Der russische Präsident bezeichnete in seiner Ansprache vom 24.02.2022 das ukrainische Territorium als „unser historisches Land“, die Ukraine sei immer Teil der „russischen Welt“ (russkij mir) gewesen. Wäre sie kein eigener Staat, könnte sie auch nicht Opfer eines bewaffneten Angriffs sein. Ähnlich hatte sich auch der chinesische Botschafter in Frankreich im April 2023 eingelassen, wovon sich China dann aber doch wieder distanzierte. Die steile These ist schon historisch fragwürdig. Völkerrechtlich ist sie unhaltbar. Denn die Russische Föderation hat jahrelang diplomatische Beziehungen mit der Ukraine unterhalten und deren territoriale Unversehrtheit ausdrücklich anerkannt – z. B. im Budapester Memorandum von 1994, im Freundschaftsvertrag von 1997 und per förmlicher Erklärung im Kontext des Minsker Abkommens von 2014. Soweit hier nicht schon der Grundsatz „pacta sunt servanda“ eingreift, bewirkt das völkerrechtliche „Estoppel“-Prinzip, dass Russland sich nicht von seinen früheren vertrauensbegründenden Erklärungen loslösen kann. Insoweit gilt auch im Völkerrecht ein Verbot widersprüchlichen Verhaltens. Abgesehen davon ist die Behauptung einer Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland aufgrund UN-Rechts irrelevant. Denn sobald ein Staat wie die Ukraine Vollmitglied der Vereinten Nationen geworden ist, müssen alle anderen Mitgliedstaaten seine Staatlichkeit anerkennen. Im Einklang damit spricht Art. 51 UN-Charta im Kontext der Selbstverteidigung auch vom bewaffneten Angriff „gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“.

2. Das Recht auf Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta) und seine Grenzen

Russland selbst stützt seine sog. „Spezialoperation“ explizit auf Art. 51 UN-Charta. Die NATO schiebe sich immer weiter an die russische Grenze vor und wolle in der Ukraine Waffen stationieren, die die Sicherheit Russlands bedrohten.

Unterstellen wir einmal, dass diese Behauptung zuträfe, bleibt nur zu sagen: das reicht eben nicht für die Anwendung von Gewalt! In der Aggressionsdefinition der Generalversammlung heißt es vielmehr:

„Keine Überlegung irgendwelcher Art, sei sie politischer, wirtschaftlicher, militärischer oder sonstiger Natur, kann als Rechtfertigung für eine Aggression dienen“ (Art. 5 Abs. 1).

Wenn Russland der Meinung ist, dass seine Sicherheit bedroht ist, muss es sich der Mittel der friedlichen Streitbeilegung bedienen (Art. 2 Ziff. 3 UN-Charta).

Könnte Russland argumentieren, dass es schon vorbeugend zur Selbstverteidigung schreiten musste? Eine „präventive“ (antizipatorische) Selbstverteidigung gibt es tatsächlich im Völkerrecht. Aber sie ist nach der klassischen „Caroline-Formel“ von 1841 nur erlaubt, wenn das Handeln „sofort und in überwältigender Weise“ geboten ist, d. h., „kein Moment für Überlegung bleibt“. Eine solche Situation bestand hier eindeutig nicht. Das zeigt sich schon daran, dass Russland die Absicht einzumarschieren bis zuletzt vehement bestritt. Bisher sind alle Versuche, die präventive Selbstverteidigung auf allgemein vorbeugende Verteidigungsakte auszudehnen, gescheitert. Der UN-Sicherheitsrat hat z. B. die vorbeugende Zerstörung des schon im Bau befindlichen Kernreaktors Osirak im Irak durch Israel 1981 klar verurteilt.

3. Humanitäre Intervention? – Die Völkermord-Behauptung

Ein weiteres Argument Russlands lautete, man habe einen Völkermord im Donbass unterbinden müssen. So wie der Westen Serbien bombardiert habe, um die Bevölkerung im Kosovo zu schützen, habe Russland in der Ukraine eine „humanitäre Intervention“ durchgeführt. Ob das mit militärischer Gewalt geht, war stets umstritten. Bei der UNO ist heute von „Responsibility to Protect“ die Rede, die primär auf die Schutzverantwortung des betroffenen Staates, sekundär der Staatengemeinschaft – und keineswegs auf Russland – verweist. Egal welche Grundlage man aber heranzieht: Dass die Ukraine einen Völkermord im Donbass begangen hat, ist schon deshalb unplausibel, weil die Region seit Frühjahr 2014 fast vollständig unter russischer Kontrolle steht.

Inzwischen hat die Ukraine den Spieß umgedreht und vor dem IGH in der Sache Allegations of Genocide (Ukraine v. Russian Federation) die Feststellung begehrt, dass die Ukraine von Russland zu Unrecht des Völkermords im Donbass bezichtigt werde, um unter diesem Vorwand Gewalt auszuüben. Der IGH ordnete am 16.3.2022 in einer spektakulären Eilentscheidung an, dass die Russische Föderation die militärischen Operationen in der Ukraine unverzüglich einzustellen habe. Diese bindende Entscheidung hat Russland bekanntlich ignoriert.

4. Intervention auf Einladung?

Schließlich erklärt Russland implizit, dass es sich bei der Besetzung und Annexion der Krim 2014 sowie der Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson 2022 um eine „Intervention auf Einladung“ handele. Ein so begründeter Einsatz fremder Truppen ist zwar im Völkerrecht akzeptiert. Voraussetzung ist jedoch eine gültige Einwilligung durch eine etablierte, noch amtierende Regierung. Da die Regierung Viktor Yanukovich seit dem 22.2.2014 aus dem Amt vertrieben war, konnte sie seither keine Einladungen an Russland mehr erteilen. Ob der Sturz der Regierung Yanukovich 2014 mit der ukrainischen Verfassung vereinbar war, spielt völkerrechtlich keine Rolle. Denn ein ausländischer Staat darf in unklaren Bürgerkriegssituationen nicht intervenieren. Das Recht der Ukraine auf politische Unabhängigkeit, das Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten und das Interventionsverbot (falls Zwang im Spiel ist) verbieten es Russland, der Ukraine vorzugeben, welche Regierung sie haben soll. Die Unterstützung von Bürgerkriegshandlungen in einem anderen Staat verletzt sogar das Gewaltverbot, wenn wir hier Waffen geliefert und gewalttätige Separatisten von außen gesteuert werden oder das Gebiet gewaltsam durch eine Invasionsarmee besetzt wird. In diesem Fall spielt es auch keine Rolle mehr, ob die Bürgerkriegssituation noch unklar war oder die Separatisten schon die effektive Herrschaft erlangt hatten. Denn die Folgen der Verletzung des Gewaltverbots dürfen schlechterdings nicht anerkannt werden.

Dass sich die Separatistengebiete 2014 und 2022 noch schnell zu unabhängigen Staaten erklärt und dann der Russischen Föderation angeschlossen hatten, ändert nichts an dieser Bewertung. Denn erstens verletzt die sog. „vorzeitige Anerkennung“ separatistischer Gebiete das Recht des Altstaates auf territoriale Unversehrtheit. Zweitens darf die Staatengemeinschaft sie nicht anerkennen, wenn ihre Existenz auf Gewalt beruht. Und drittens besaßen die Separatistengebiete zu keinem Zeitpunkt eine effektive Staatsgewalt. Staatlichkeit entsteht eben nicht durch Schein-Referenden, die in einer Besatzungssituation unter Missachtung demokratischer Prinzipien, nach der Vertreibung Andersdenkender und ohne Beteiligung des „Altstaats“ abgehalten werden.

5. Ergebnisse, Konsequenzen und Position der Staatengemeinschaft

Sämtliche Gründe, die Russland für sich reklamiert, gehen am Wesen des Selbstverteidigungsrechts vorbei. Denn sie begründen nicht, worauf es allein ankommt: einen „bewaffneten Angriff“ der Ukraine bzw. der Ukraine in Verbindung mit NATO-Staaten auf Russland. Alle weiteren Rechtsgrundlagen (humanitäre Intervention, Intervention auf Einladung) scheitern daran, dass grundlegende Voraussetzungen offensichtlich nicht erfüllt sind.

Das hat auch die Staatengemeinschaft so gesehen. Inzwischen drei Resolutionen der UN-Generalversammlung von 2014 (Res. 68/262), 2022 (Res. ES-11/1) und 2023 (Res. ES-11/6) sprechen mit überwältigender Mehrheit von einer „Aggression“ Russlands und fordern den Rückzug russischer Truppen von ukrainischem Territorium in seinen international anerkannten Grenzen. Das beinhaltet auch die Krim.

Die Ukraine darf sich kraft ihres Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) militärisch zur Wehr setzen und andere Staaten dürfen ihr dabei Hilfe leisten (kollektive Selbstverteidigung). Die Verteidigungsmaßnahmen dürfen sich auch auf militärische Ziele innerhalb der Russischen Föderation erstrecken, sofern sich dies als erforderlich zur Abwehr der Aggression erweist. Sollten einzelne Maßnahmen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzen oder in sonstiger Weise unzulässig (z. B. bloß sanktionierend oder nur noch vorbeugend) sein, würde die Ukraine zwar das Gewaltverbot verletzen (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta), aber nicht ihrerseits einen „bewaffneten Angriff“ (Art. 51 UN-Charta) gegen Russland führen. Der Angreiferstaat bleibt somit in seiner Rolle, er wird nicht selbst zum Opfer einer Aggression.

Der Beitrag wird fortgesetzt.

Dieser Beitrag stammt aus dem BDVR-Rundschreiben 3/2023.

 

Apl. Prof. Dr. Dagmar Richter

Universität Heidelberg/Universität des Saarlandes.
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    Der Text stellt eine leicht überarbeitete Fassung des Vortrags der Autorin vom 04.05.2023 beim 10. Kleinen Verwaltungsgerichtstag in Saarbrücken dar. Siehe zur ausführlichen elektronischen Fassung mit Quellennachweisen: Richter, Dagmar, Der Ukraine-Krieg – strategische Abstinenz und Verantwortung für das Völkerrecht, Saar Expert Paper, 06/2023, online verfügbar unter: http://jean-monnet-saar.eu/?page_id=70. Wichtige Dokumente sind dort unmittelbar verlinkt.
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