30.10.2023

Digitalisierung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung 2022/23

Anforderungen an die elektronische Verwaltungsakte

Digitalisierung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung 2022/23

Anforderungen an die elektronische Verwaltungsakte

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Die in Verwaltung und Justiz weiter voranschreitende Digitalisierung spiegelt sich zunehmend in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wider. Dem tragen die Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg, die sich dem Thema Digitalisierung der Verwaltung und der Verwaltungsrechtsprechung in wiederkehrenden Abständen widmen werden, mit dem vorliegenden Beitrag Rechnung. Der Beitrag und die von ihm behandelten Entscheidungen befassen sich mit den Themen der elektronischen Verwaltungsaktenführung der Behörden und deren Übermittlungspflicht, der Beweiskraft gescannter Postzustellungsurkunden sowie der elektronischen Kommunikation zwischen Behörde und Gericht.

I. Die elektronische Verwaltungsakte

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 07.12.2022 – 3 K 2295/22 –1 sowie der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21.01.2023 – A 19 K 304/23 –2 setzen sich beide u. a. mit den Anforderungen der elektronischen Behördenaktenführung sowie der Aktenvorlage auseinander, der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg im Rahmen eines Konkurrentenstreitverfahrens um eine Dienstpostenbesetzung, der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe in einem Dublin-Verfahren.

1. Die Pflicht zur Aktenvorlage

§ 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO verpflichtet die Behörde zur Vorlage der Akte. Diese Vorlagepflicht wird durch die Aktenanforderung durch das Gericht ausgelöst.3 Hierbei ist die Akte im Original vorzulegen.4 Dies bedeutet bei einer Behördenakte in Papierform, dass das Papieroriginal dem Gericht vorzulegen ist. Der Vorlagepflicht hinsichtlich einer Papierakte wird nicht genügt, wenn diese Akte für die Übermittlung an das Gericht eingescannt und (nur) das Scanprodukt übermittelt wird.


Wird die Behördenakte in elektronischer Form geführt, ist in den Blick zu nehmen, dass die digitale Welt kein „Original“ im Sinne der analogen Welt kennt. Hier werden stets digitale Kopien übermittelt, die zudem in unterschiedliche Formen und Formate überführt werden können. Im Idealfall wird die elektronische Behördenakte in Form von Einzeldokumenten samt Metadaten und einem vom Gericht auslesbaren Strukturdatensatz übermittelt.5

Derzeit scheitert diese Form der Übermittlung oft noch an den unterschiedlichen Standards, die Behörden und Gerichte für die elektronische Aktenführung verwenden.6 Als Alternative werden die Behördenakten in Form eines oder mehrere PDF-Bänder übermittelt. Zu beachten ist, dass § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO in der Fassung ab dem 01.01.2024 verlangt, dass elektronische Behördenakten soweit technisch möglich als digital durchsuchbare Dokumente vorzulegen sind,7 um u. a. die Suche nach Schlagwörtern zu erleichtern.8

Eine mögliche weitere Form der Aktenführung ist die hybride Aktenführung, bei der die jeweilige Akte sowohl teils in elektronischer Form als auch teils in Papierform geführt wird. In diesem Fall erfordert die vollständige Aktenführung, dass beide Teile vorgelegt werden. 9 Die Art und Weise der Aktenführung steht weitestgehend im Organisationsermessen der Behörden. Weist die Aktenführung selbst Mängel auf, ist die Vorlagepflicht aus § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO erfüllt, wenn die mangelhaft geführte Akte vollständig übermittelt wurde.10 In dem Verfahren A 19 K 304/23 scheint sich die Beklagte selbst nicht bewusst gemacht zu haben, ob sie eine hybride Akte mit (auch) Papierbestandteilen führt oder eine rein elektronische Akte. Im Fall einer hybriden Aktenführung hat sie ihrer Aktenvorlagepflicht nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht genügt, nachdem sie vom Gericht ausdrücklich zur Vorlage der „vollständigen und nummerierten Originalakten – einschließlich Zustellungsnachweisen“ aufgefordert worden war.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe weist auch darauf hin, dass bei einer hybriden Aktenführung zudem ein gravierender Mangel gegeben ist, wenn anhand der einzelnen Teile der Akte – vorliegend anhand des elektronischen Aktenteils – nicht erkennbar ist, dass es sich nicht um die vollständige Akte handelt und noch weitere Aktenbestandteile existieren. Im Verfahren 3 K 2295/22 des Verwaltungsgerichts Freiburg haben sich Mängel in der elektronischen Aktenführung gezeigt. Wesentliche Vorgänge des in Streit stehenden Auswahlverfahrens sind nicht in die Verwaltungsakte gelangt, die zudem offenbar auch teilweise erst im Rahmen der Vorlage an das Gericht zusammengestellt wurde.11

Auch dieser Fall gibt Anlass zu einem Hinweis auf die Bedeutung der Überprüfbarkeit der Vollständigkeit der vorgelegten Akte, die bei der Papierakte regelmäßig durch die fortlaufende Paginierung der einzelnen Seiten der Akte gewährleistet ist und bei elektronischer Aktenführung auch auf andere Weise sichergestellt werden kann.12 Erst dies ermöglicht dem Gericht, zu unterscheiden, ob es eine mangelhaft geführte Akte erhalten hat oder die Vorlagepflicht des § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vollständig erfüllt wurde. Im letztgenannten Fall kann das Gericht durch eine Hinweisverfügung auf die vollständige Aktenvorlage hinwirken.

2. Die (besonderen) Anforderungen an die elektronische Behördenaktenführung

Die Pflicht der Behörde, überhaupt Akten zu führen (sog. Gebot der Aktenmäßigkeit), wird von § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorausgesetzt. Sie ergibt sich aus der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz und der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Pflicht zur Objektivität.13 Die Behördenakte erfüllt dabei mehrere Funktionen, u. a. die Sicherung gesetzmäßigen Verwaltungshandelns; sie ist weiter die Grundlage für die Wahrnehmung der Rechts- und Fachaufsicht und dient der parlamentarischen Kontrolle des Verwaltungshandelns.

In Bezug auf die gerichtliche Kontrolle ermöglicht sie dem Gericht, eine angegriffene Behördenentscheidung eigenständig nachzuvollziehen. Je nach zugrunde liegendem Verwaltungsvorgang kommen konkrete weitere Funktionen hinzu. So wird in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 07.12.2022 ausgeführt, dass im Bewerberauswahlverfahren nur durch eine schriftliche Fixierung der wesentlichen Auswahlerwägungen ein Mitbewerber in die Lage versetzt wird, sachgerecht darüber befinden zu können, ob er die Entscheidung des Dienstherrn hinnehmen soll oder ob Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung seiner Bewerbung bestehen und er gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen will.

Die erforderliche Kenntnis kann sich der unterlegene Mitbewerber durch eine Akteneinsicht gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 (L)VwVfG verschaffen. All dies verpflichtet die Behörde, den wesentlichen sachbezogenen Geschehensablauf objektiv, vollständig, nachvollziehbar und wahrheitsgemäß zu dokumentieren (sog. Gebote der Aktenverständlichkeit, Aktenwahrheit, Aktenvollständigkeit und Aktenbeständigkeit).14 Ebenso wie die Papierakte hat auch eine elektronische Behördenakte alle genannten Anforderungen zu erfüllen.15 Insoweit ergeben sich für die elektronische Formen der Aktenführung keine Besonderheiten.

Sowohl das Verwaltungsgericht Freiburg als auch das Verwaltungsgericht Karlsruhe verweisen darüber hinaus darauf, dass bei der elektronischen Aktenführung „durch den Einsatz geeigneter technischer Anwendungen und flankierender organisatorischer Regelungen“ sicherzustellen ist, dass alle genannten Anforderungen erfüllt werden (können). Diese Anforderung findet sich als einfachrechtliche Vorgabe auch in den E-Government- Gesetzen von Bund und Land. § 6 Satz 3 EGovG des Bundes gibt vor, dass durch geeignete technisch-organisatorische Maßnahmen nach dem Stand der Technik sicherzustellen ist, dass die Grundsätze ordnungsgemäßer Aktenführung eingehalten werden; nach § 6 Abs. 3 Satz 1 EGovG Baden-Württemberg sind durch geeignete technisch-organisatorische Maßnahmen gemäß dem Stand der Technik u. a. die Integrität und Authentizität, die kurzfristige Verfügbarkeit und die Vertraulichkeit der Akte und die Einhaltung der Grundsätze ordnungsgemäßer Aktenführung sicherzustellen.

Die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Software zur Führung einer elektronischen Behördenakte geht deutlich über eine reine Dateiablage elektronischer Dokumente hinaus.16 Rein organisatorische Anweisungen zur Einhaltung der genannten Anforderungen sind bei der elektronischen Aktenführung nicht hinreichend, wenn diese keine Entsprechung in der konkreten Softwareumsetzung des Behördenaktenverwaltungsprogramms finden. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg gibt hierfür weiterführende Hinweise, indem er auf den Bericht der Arbeitsgruppe Elektronische Verwaltungsakte „Anforderungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit an die Führung elektronischer Verwaltungsakten – eine Orientierungshilfe“ vom 18.02.201117 und auf das Positionspapier „Aktenführung und E-Akte“ der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder vom 01.09.202018 verweist.

Entscheidungen wie die vorliegenden sind umso wichtiger, weil die Umsetzung der rechtsstaatlichen Anforderungen in Programmzeilen Zeit benötigt. Anders als rein organisatorische Regelungen, die unmittelbar umgesetzt werden können, erfordert die Berücksichtigung der rechtsstaatlichen und einfachrechtlichen Vorgaben bei einer Software für die elektronische Aktenführung der Konzeption, Programmierung, Pilotierung und Einführung. Diese Vorgaben sollten möglichst bereits in der Entwicklungsphase der Software Berücksichtigung finden. Die erst nachträgliche Implementierung in eine bereits fertiggestellte Software dauert erfahrungsgemäß länger und ist teurer.

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Den vollständigen Beitrag lesen Sie in den Verwaltungsblättern Baden-Württemberg, 10/2023, S. 403.

 

Dr. Carsten Ulrich

Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe
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