16.11.2023

Gewaltprävention im Öffentlichen Dienst

Was Ausbildung oder Studium nicht vermittelt

Gewaltprävention im Öffentlichen Dienst

Was Ausbildung oder Studium nicht vermittelt

Dauerhafte Konflikt- oder einzelne Gewalterfahrungen können sich gravierend auf das psycho-physische Wohlergehen auswirken. | © Andrii Zastrozhnov - stock.adobe
Dauerhafte Konflikt- oder einzelne Gewalterfahrungen können sich gravierend auf das psycho-physische Wohlergehen auswirken. | © Andrii Zastrozhnov - stock.adobe

Berufsgruppen, die für die Gesellschaft und den Bürger eintreten, geraten immer mehr in den Fokus von Gewalt. Menschen, die Bürger mit ihrem Wissen und Handeln unterstützen, widerfährt ein stetig wachsendes Ausmaß an Provokation. Ausbildung oder Studium bereiten hingegen nur in einem geringen Umfang auf diese Situation in der öffentlichen Verwaltung vor.

Gewaltfördernde Faktoren

Soziologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgebungsbedingungen und weitere situative auslösende Aspekte können zu einer spannungsgeladenen Ausgangssituation führen. Fehlende Regularien, Passivität, Gleichgültigkeit, Verharmlosen, Infragestellen von Regeln oder eingeschränkte tatsächliche Möglichkeiten des Handelns fördern abweichendes Verhalten. Oder umgekehrt: Je mehr Kontrollinstanzen durch die Konfliktbeteiligten bewusst wahrgenommen werden und je weniger anonym die Situation ist, desto ruhiger verläuft ein Konflikt. Empfinden jedoch Bürger das belastende Verhalten von Beschäftigten als absichtlich, ungerecht oder vermeidbar, entsteht Frustration, die zur Aggression führen kann. Damit liegt es auch am Handeln (oder Nichthandeln) von Beschäftigten, wie sich Situationen entwickeln.

Drastische Folgen

Dauerhafte Konflikt- oder einzelne Gewalterfahrungen können sich gravierend auf das psycho-physische Wohlergehen auswirken. Die Betroffenen haben ungute Gefühle auf der Arbeit und fühlen sich unsicher im Umgang mit Kunden. Dadurch benötigen Betroffene mehr Arbeitszeit oder es entstehen Ausfallzeiten. Stresssymptome wie Schlaf- und Angststörungen, depressive Verstimmungen, Traumata, Berufswechsel und Berufsunfähigkeit können die Folgen sein.


Schlüsselfaktor Kommunikation

Jede zielorientierte und sichere kommunikative Lösung stellt einen Erfolg für den Beschäftigten der Behörde dar. Lern- und Erfahrungsfortschritte werden zu positiven Erlebnissen im Arbeitsumfeld und tragen somit zur Berufszufriedenheit bei. Um dies zu erreichen, müssen alle Kommunikationsformen gemeinsam beachtet und beherrscht werden: non-, para- und extraverbale sowie verbale Kommunikation. Um die Botschaften erfolgreich werden zu lassen, sollten sie bedürfnisorientiert, souverän, zielgerichtet und reflektiert sein.

An den Bedürfnissen orientiert

Bedürfnisorientiert bedeutet, sich den Gesamtkomplex zu erschließen. Hierzu ist Einfühlungsvermögen in die Lebenssituation des Kunden erforderlich. So ist an die Gewährung der Unterstützungsleistung das bereits versprochene Geburtstagsgeschenk für das Kind des Antragsstellers und der gefühlte Gesichtsverlust der Eltern geknüpft. Der Reisepass ist für eine Urlaubsreise erforderlich, für die bereits viel Geld investiert wurde. Die Schulfreistellung dient eben nicht nur zur Geldersparnis (Rückreise außerhalb der Saison), sondern auch dazu, den neunzigsten Geburtstag der Großmutter im Heimatland mitzuerleben. Und für den Garagenbau wurden bereits Handwerker bestellt, obwohl der Bauantrag noch nicht vorliegt. All diese Begleitumstände müssen aus verwaltungsrechtlichen Gründen eher nicht beachtet werden. Es ist jedoch jedem empathischen Menschen verständlich, wenn ein Kunde in einer solchen Situation mehr als üblich auf sein vermeintliches oder tatsächliches Recht beharrt und in einer Diskussion streitlustig wirkt. Selbstverständlich wäre es hilfreich, wenn Kunden die gesamten Begleitumstände offenlegen, damit Beschäftigte einer Behörde sofort einen Perspektivwechsel vollziehen können. Einem solch transparenten Verhalten stehen jedoch Scham, Unwissenheit oder fehlende kommunikative Fähigkeiten gegenüber. Behördliche Kommunikation folgt häufig einer einfachen linearen Logik (Antrag stellen – Antrag genehmigen – alle zufrieden), die Lebensrealität kann jedoch komplexer gestaltet sein und erfordert daher ein differenziertes Denken und Handeln der Beschäftigten im kommunikativen Bereich. Nutzt beispielsweise ein Bürger im Konflikt Neutralisationstechniken („Wie kann man mich so lange warten lassen.“), sind Äußerungen wie „Beruhigen Sie sich“ kontraproduktiv.

Grundregeln beachten

Die menschliche Kommunikation unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, aus denen sich konkrete Regeln ableiten lassen, die Kommunikation vereinfachen und diese für alle Beteiligten begreifbarer werden lässt:

  • Wenn Sie über ein bestimmtes Thema nicht sprechen wollen, sagen Sie dies offen und direkt.
  • Regeln Sie Beziehungskonflikte zuerst, damit Sachdiskussionen zielgerichtet geführt werden können.
  • Arbeiten Sie heraus, dass die Ursache für Probleme auf allen Seiten liegen kann oder dass sich alle einig sind, worin die Ursache liegt.
  • Achten Sie auf nonverbale Signale und ordnen Sie sie in den Kontext der Kommunikation ein, um die Bedeutung zu verstehen und angemessen darauf reagieren zu können.
  • Beachten Sie, dass Ihre dominante Kommunikation mit dem Bürger von seinem Einverständnis abhängig ist.

Insbesondere der letzte Punkt ist dafür verantwortlich, dass Situationen weiter eskalieren. In der Regel wird in einer komplementären Beziehung mit dem Kunden kommuniziert. Dies ist jedoch immer vom Einverständnis des Bürgers abhängig. Er muss sich unterordnen. Wenn er sich nicht unterordnet und sich widersetzt, kann dies zu Konflikten und Spannungen in der Kommunikation führen. Es könnte auch dazu führen, dass Beschäftigte versuchen, ihre Dominanz zu verstärken, indem sie die Kommunikation einschränken oder den Bürger ignorieren. Es ist wichtig, dass beide Kommunikationspartner ihre Rollen und Verantwortlichkeiten verstehen und respektieren, um eine positive und produktive Kommunikation zu führen.

Und wenn das alles nicht hilft?

Sollten in einer Situation die zur Verfügung stehenden Kommunikationsstrategien erfolglos sein und Deeskalationstechniken keine oder nur geringe Wirkung zeigen, ändert sich der Charakter der Beziehung zwischen Kunden und Beschäftigten. Die innere Zielsetzung des Beschäftigten muss sich dann weg von der Kundenzufriedenheit hin zu einem vorrangigen Sicherheitsdenken verändern. Sobald das Ziel in Richtung Sicherheit geändert wird, sind die Beweggründe des Konfliktgegners für sein Verhalten unwichtig. Es ist von größter Bedeutung, sein aktuelles Verhalten zu analysieren und zu bewerten, anstatt Zeit damit zu verbringen, die Gründe dafür zu erforschen. Durch die Schaffung einer mentalen Distanz zu den persönlichen Beweggründen wird Freiraum für die Nutzung eigener geistiger Ressourcen geschaffen, die in den jetzt kommenden Phasen des Konflikts von entscheidender Bedeutung sein können. Hierzu müssen Beschäftigte auf die eigenen Emotionen achten und sie ernst nehmen, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Denn selbst bei einer bekannten Person ist es für niemanden möglich, die tatsächlichen Beweggründe und damit die aktuelle Bereitschaft zur Gewalt mit absoluter Gewissheit einzuschätzen. Und weil diese Ungewissheit zur tatsächlichen Gewaltbereitschaft, insbesondere in der andauernden Situation, nicht ausgeräumt werden kann, bleibt zum Erhalt der eigenen Sicherheit nichts anderes übrig, als den Konfliktpartner so zu behandeln, als wäre er absolut gewaltbereit. Hierzu sollten Beschäftigte auf weniger zustimmungsbedürftige Interventionsformen wie die psychologische Deeskalation oder die physische Notintervention zurückgreifen.

Die wichtigste Empfehlung

Das Kernelement maximaler Sicherheit ist ein größtmöglicher Abstand zwischen dem Beschäftigten und dem konfliktbereiten Kunden:

  • Körperliche Distanz kann dazu beitragen, dass sich die Beteiligten des Konflikts besser auf die Lösung des Problems konzentrieren können; wenn sich zwei Personen in unmittelbarer Nähe zueinander befinden, kann es schwierig sein, sich auf das Problem zu konzentrieren und Lösungen zu finden, da die Emotionen hochkochen können;
  • Die Beteiligten können sich besser auf ihre Körpersprache und Gestik konzentrieren; wenn sie voneinander entfernt sind, kann dies dazu beitragen, dass sie besser verstehen können, was der andere möchte und fühlt;
  • Sie können eher entspannen und ihre Emotionen beruhigen und somit sind sie eher in der Lage, konstruktiv miteinander zu kommunizieren. Ansonsten kann dies dazu führen, dass sie sich bedroht fühlen und ihre Wut und Angst steigt.

Wie sich eine solche Empfehlung in alltäglichen Situationen im Büro oder im Außendienst umsetzen lässt und welche weiteren wichtigen Regeln verinnerlicht werden sollten, lässt sich dem Werk entnehmen:

Gewaltprävention und Eigensicherung im Öffentlichen Dienst

von Rudi Heimann, Dr. Jürgen Fritzsche Richard

Boorberg Verlag, 2023, 1. Auflage, 244 S.

 

Rudi Heimann

Polizeivizepräsident, Polizeipräsidium Südhessen
n/a