15.11.2010

Eine Bibliothek räumt auf

Ablageoptimierung in der Stadtbibliothek Göppingen

Eine Bibliothek räumt auf

Ablageoptimierung in der Stadtbibliothek Göppingen

Ablageoptimierung ist ein Thema, das Organisationen gerne vor sich herschieben. | © Vladimir Melnikov - Fotolia
Ablageoptimierung ist ein Thema, das Organisationen gerne vor sich herschieben. | © Vladimir Melnikov - Fotolia

Diese Geschichte erzählt man am besten vom Ende her. Am Ende stand der Ordnerplan. Ein Ordnerplan – der Fachbegriff dafür lautet von alters her „Aktenplan“ – ist eine Systematik zur Klassifizierung der Dokumente einer Bibliothek oder anderen Einrichtung, bestehend aus einem numerischen Ordnungszeichen und einer Ordnerbezeichnung. Nach dieser Systematik werden alle Dokumente der Einrichtung klassifiziert, elektronische wie Papier.

Die Systematik wird also auf der einen Seite als eine Liste elektronischer Ordner auf dem Server hinterlegt. Und sie dient auf der anderen Seite zur Beschriftung der Rücken der Papierordner.

Der Nutzen

Ein Ordnerplan erreicht verschiedene Ziele – ganz ohne besondere Software:


Zunächst Transparenz: Es gilt das Prinzip: 1 Dokument – 1 Ort. Jeder Mitarbeiter soll schnell wissen, wo ein Dokument hingehört (kein langes Überlegen bei der Ablage) und wo er ein Dokument findet (geringer Suchaufwand).

Sodann Teamfähigkeit: Bis jetzt hatte jeder Kollege „seine“ Ordnung für sich definiert, wobei viel Strukturwissen in den jeweiligen Köpfen bewahrt wurde. Jetzt aber soll eine transparente Dokumentenstruktur für das gesamte Team gültig sein.

Und schließlich die Wir-Identität: Eine Person definiert sich auch über die Ordnung, mit welcher sie den sie umgebenden Raum prägt. Im gleichen Maße kann ein Team sich nicht als Team fühlen, solange es nicht über eine gemeinsame Ordnungsstruktur in den Dingen verfügt.

Das Optimierungsprojekt

Die neue Ordnerstruktur ist Ergebnis eines Studienprojekts der Hochschule der Medien Stuttgart (HdM) im Sommersemester 2010. Die Verfasser boten das Thema „Dokumentenmanagement in einer Bibliothek“ als Bachelorprojekt
an.

Dazu suchten sie eine Bibliothek, die sich als Projektpartnerin und Versuchsobjekt zur Verfügung stellen wollte. Die Stadtbibliothek Göppingen hatte den Mut, sich in die Karten schauen zu lassen, und sah die Chance, gemeinsam mit dem Projektteam eine neue Art des Umgangs mit internen Dokumenten entwickeln zu lassen.

Die Vorgeschichte

Offiziell war für die Stadtbibliothek Göppingen der kommunale Aktenplan der Stadtverwaltung gültig. Aber wie bei vielen kommunalen Einrichtungen und Ämtern, die nicht zum traditionellen Kernbereich behördlicher Verwaltungsprozesse gehören (von Volkshochschulen über IT-Abteilungen bis zu technischen Ämtern) stellte diese Gültigkeit eine „fictio juris“ dar.

Der Aktenplan wurde nämlich in praxi nie angewendet. Die Änderungen, die in den letzten 40 Jahren im Bibliothekswesen stattgefunden hatten, waren an ihm fast spurlos vorübergegangen. Vor allem aber stellte die Einführung der EDV ab Anfang oder Mitte der 90er Jahre einen erheblichen Einschnitt dar.

Denn bei den EDV-Dokumenten herrschte von Anfang an eine individuelle Ordnung. Jeder Mitarbeiter hatte seinen eigenen PC und baute sich dort eine Ordnung auf. Als die PCs dann vernetzt wurden, behielt jeder „seinen persönlichen Ordner“ auf dem gemeinsamen Laufwerk. Dort wurden die laufenden Dokumente aus dem eigenen Aufgabenbereich und Kopien von häufig benötigten Formularen abgelegt. Nur ab und zu wurden Dateien über die Ordnergrenzen hinweg ausgetauscht. Dabei entstanden ganz selbstverständlich Kopien, die Mehrfachablage des gleichen Dokuments erschien völlig normal. Auf laufende Dokumente konnte im Vertretungsfall nicht ohne weiteres zugegriffen werden, Formularkopien in „Persönlichen Ordnern“ waren oft veraltet.

Das ging solange gut, wie die Papierdokumente das Referenzmedium bildeten, denn dort herrschte noch eine gewisse Teamsystematik. Mit Einführung der E-Mails wurde aber das Papier schlagartig entwertet und die elektronischen Dokumente zum unbestritten führenden Medium. Und plötzlich machte sich das latente Durcheinander im IT-Netz als ärgerliche Hürde in der Zusammenarbeit bemerkbar.

Dazu gehörte auch die individuelle und teilweise kryptische Namensgebung von Dokumenten und Ordnern. Für Vertretungen waren diese kaum nachvollziehbar und zogen immer wieder langwierige Recherchen nach sich. Wenn viele Dokumente Namen wie „Brief_neu.doc“ oder „Statistik_aktuell.xls“ tragen, dann ist der Inhalt aus dem Namen nicht ersichtlich. Folge: Das Dokument muss erst geöffnet werden, um festzustellen, ob es das gesuchte ist.

Oder die diversen Ordner „Fotos“: „Hier wurden alle Fotos unter ‚Fotoarchiv’ gespeichert. Es gibt keine Unterscheidung zwischen internen oder externen Veranstaltungen. Auch eine Zuordnung zum jeweiligen Veranstaltungsordner wurde scheinbar überhaupt nicht in Betracht gezogen. (…) Auf Außenstehende wirkt die elektronische Ablage der Stadtbibliothek Göppingen wie ein großes, undurchschaubares Durcheinander – fast wie ein Puzzle, bei dem noch alle Teile durcheinander vor einem liegen.“

Der Projektverlauf

Im Projekt wurde durch das Projektteam der HdM und die Mitarbeitenden der Stadtbibliothek Göppingen eine völlig neue Dokumentenordnung erarbeitet, die auf dem Konzept des Prozessorientierten Ablagesystems (PAS) beruht. Das Projektdesign folgte dem klassischen Aufbau eines Organisationsprojektes: Ist-Analyse, Entwicklung eines Soll-Konzepts, Implementierung und Nachbetreuung.

Die Ist-Analyse bestand aus einer Befragung der Mitarbeitenden, einer Analyse der aktuell vorhandenen Ordnerstruktur sowie zwei Interviewstaffeln mit Vertreterinnen und Vertretern aller Arbeitsbereiche der Bibliothek.

In einer Mitarbeiterbefragung sowie durch begleitende Einzelinterviews, die die Studierenden führten, wurde erhoben, wie die Mitarbeitenden ihren Umgang mit elektronischen und gedruckten Dokumenten zu Beginn des Projekts einschätzen. Dabei wurde übereinstimmend – mit unterschiedlichen Akzenten – Handlungsbedarf für die Organisation gesehen: Vor allem das Fehlen gemeinsamer Regeln, die damit einhergehende Unsicherheit bei der Vertretung von Arbeitsgebieten, dem Wechsel von Mitarbeitern oder bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter wurden als Defizit benannt. Festgestellt wurde auch, dass das Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses für den Umgang mit Team-Dokumenten ein Spiegel für das Gelingen des gemeinsamen Arbeitens ist.

Dennoch wurde der bevorstehende Übergang zu einer neuen Ordnung auch mit gemischten Gefühlen betrachtet. Besonderes Unbehagen löste die Vorstellung aus, auf den „Persönlichen Ordner“ verzichten zu müssen.

Bei Entwicklung des Soll-Konzepts durch das Projektteam wurde deshalb Wert darauf gelegt, die Befürchtungen der Mitarbeitenden ernst zu nehmen und dafür Abweichungen von der „reinen Lehre“ des Prozessorientierten Ablagesystems in Kauf zu nehmen. Speziell zu den „Persönlichen Ordnern“ wurde die Festlegung getroffen:

„1. Die persönlichen Ordner in ihrer bisherigen Struktur fallen insofern weg, als nicht mehr mit Kopien gearbeitet wird. Wenn sich jemand eine eigene Ordnung schaffen möchte, so ist das erlaubt, aber nur mit Verknüpfungen.

2. Das Anliegen, die besonders häufig benötigten Dateien und Ordner auch ganz schnell zugreifbar zu haben und nicht immer im ganzen Ordnerbaum herumklicken zu müssen, wird künftig besser unterstützt als bisher.

Lernen Sie, wie man Verknüpfungen auf dem Desktop anlegt, wie man sie mit Tastenkombinationen verbindet usw. Dazu wird eine Fortbildung im Umgang mit Windows und dem Explorer angeboten.“

Das Ergebnis – Alles in Ordnung?

Das neue System wurde im Juni 2010 in der Stadtbibliothek implementiert: Die neuen Windows-Ordner wurden angelegt und die Mitarbeitenden im Umgang mit der prozessorientierten Struktur geschult. Eine erste Evaluation ist für den Dezember 2010 vorgesehen.

Damit hat die Stadtbibliothek einen Sprung nach vorne gemacht. Denn Ablageoptimierung ist ein Thema, das Organisationen gerne vor sich herschieben. Das Thema Ordnung gilt als verstaubt („nur Googeln ist schick“) und ist zudem aufgrund vielfältiger leidvoller Kindheitserfahrungen („jetzt räum’ bitte endlich dein Zimmer auf“) auch in unserem limbischen System meist nicht positiv konnotiert.

Hier müssen Umwertungen stattfinden, wenn ein Projekt gelingen soll. Ordnung muss nicht rigide und unflexibel sein, sie kann elastisch und dynamisch sein und trotzdem den Menschen im Team Orientierung bieten. Dann kann sie sogar Spaß machen. Und dann ist sie nicht nur modern, sondern wird gerade in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit unverzichtbar.

Arbeit an der Ordnerstruktur ist deshalb in der Regel auch Arbeit an individuellen und Teamerfahrungen: Die Ablagestruktur ist durch das Projekt Thema im Team geworden. Es wird darüber gesprochen: „Wo kommt denn das wohl hin?“, und gemeinsam werden Zweifelsfälle entschieden. So wird auch der Ordnerplan selber nicht als unveränderliches Schema, sondern als ein sich entwickelndes System verstanden.

Gut aufgesetzte Dokumentenmanagement-Projekte wollen Wege weisen zu geordneten Beziehungen: Beziehungen zwischen Menschen und Dingen und Beziehungen zwischen Menschen. Als sicherer Boden unter den Füßen, um im Alltagsstress zu „bestehen“.

 

Dipl.-Volksw. Wolf Steinbrecher

Unternehmensberater für Ablage-optimierung, Dokumentenmanagement und Activity-Flow-Management, balanceX GmbH, Karlsruhe
 

Prof. Cornelia Vonhof

Professorin für Public Management, Studiengang Bibliotheks- und Informationsmanagement, Hochschule der Medien Stuttgart
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