15.11.2010

Das Stimmensplitting muss weg

Bundesverfassungsgericht fordert Reform des Abgeordneten-Wahlrechts

Das Stimmensplitting muss weg

Bundesverfassungsgericht fordert Reform des Abgeordneten-Wahlrechts

Mandate im Überhang: Wer die Wahl hat, hat die Qual. | © Greg Epperson - Fotolia
Mandate im Überhang: Wer die Wahl hat, hat die Qual. | © Greg Epperson - Fotolia

Wie bekannt, hat das Bundesverfassungsgericht das geltende Abgeordneten-Wahlrecht des Bundes verworfen (BVerfG, Urteil v. 03.07.2009 – BvC 1/07), die negative Stimmenmacht für verfassungswidrig erklärt und bis zum 30.06.2011 eine entsprechende Gesetzesänderung verlangt. Die Zeit ist also knapp, und die Fraktionen haben sich auch schon an die Arbeit gemacht, um der Vorgabe des Verfassungsgerichts nachzukommen. Dabei zeichnet sich ab, dass lediglich die Höchstzahl der Mandate pro Bundesland vorgegeben werden soll.

Die genaueren Nachforschungen über die Ursachen der negativen Stimmenmacht führen allerdings zu überraschenden Erkenntnissen. Die Wahl der Abgeordneten für den Deutschen Bundestag folgt nicht dem klassischen Prinzip: „one man one vote“. Hier gilt vielmehr der Grundsatz: „one man two votes“. Das ist bekannt, wird jedoch als Einführung der „Bigamie im Wahlrecht“ kritisiert. Und in der Tat würde man keinem Engländer erklären können, welchen Sinn es haben soll, mit einer der beiden Stimmen Labour und mit der anderen die Konservativen wählen zu können.

Das typisch deutsche Doppelstimmrecht hat deshalb seine besonderen Regeln. Die sog. Erststimme gilt den Kandidaten in den jeweiligen Wahlkreisen, die Zweitstimme den Landeslisten der politischen Parteien. Die Zweitstimme ist die wichtigere von beiden, denn aus den Anteilen der Stimmen, die auf die Landeslisten der Parteien entfallen, ergibt sich die Zahl der Sitze im Parlament, die von den Parteien errungen wurden (Listen- oder Verhältniswahl). Die Zweitstimme wird deshalb auch als „Kanzlerstimme“ bezeichnet.


Die sogenannte Erststimme dient – im Normalfall – lediglich zur Ergänzung der Zweitstimme. Denn die nach dem Prinzip der Personen- oder Direktwahl ermittelten Sieger in den Wahlkreisen werden mit Vorrang auf den Landeslisten platziert. Sie verdrängen also die von den Parteien aufgestellten Listenbewerber (Anrechnung). Dieses Anrechnungsverfahren wird aber mit Füßen getreten, wenn man mit der Erststimme einen Kandidaten in seinem Wahlkreis auswählen darf, mit der Zweitstimme aber die Landesliste einer ganz anderen, einer Konkurrenzpartei ankreuzen kann, auf die sich der Wahlkreiskandidat gar nicht anrechnen lässt (Stimmensplitting).

Kommt es wegen des – in sich vollkommen widersinnigen – Stimmensplittings sogar dazu, dass eine Partei mehr Kandidaten über die Wahlkreise als über die Landesliste erreicht, entstehen sogenannte Überhang-Mandate. Die Folge davon ist, dass nicht nur jeder Anrechnung von vornherein der Boden entzogen ist, sondern dass die Listen- in die Direktwahl überwechselt. Im Bilde gesprochen gibt es mehr Kaffee als in der Tasse Platz ist. Die Tasse fasst den Kaffee nicht mehr und fließt über. Eine Anrechnung findet nicht mehr statt. Das ist aber noch nicht alles. Die Listenwahl wird durch die Direktwahl gleichsam „weggespült“.

Während bei der Partei mit den Überhang-Mandaten auf einmal die Summe der gewonnenen Wahlkreise im jeweiligen Bundesland über die Zahl der erlangten Sitze im Parlament entscheidet, also die Direktwahl Anwendung findet, wird bei den Parteien ohne Überhang-Mandate die Zahl der errungenen Sitze weiterhin durch den Stimmenanteil der Landeslisten, also nach der Verhältniswahl ermittelt. Im Ergebnis werden die einen mit der Erst-, die anderen aber mit der Zweitstimme gewählt. Genau das ist mit dem in Art. 38 Grundgesetz niedergelegten Grundsatz der gleichen Wahl unvereinbar. Was tun?

Will man trotzdem am gewohnten Zwei-Stimmen-Wahlrecht mit Stimmensplitting festhalten, muss man de lege ferenda davon ausgehen, dass zwei Stimmen auch zwei Wahlen sind und dass deshalb von der Anrechnung der Erst- auf die Zweitstimmen-Mandate abzulassen ist. Stattdessen ist die unverfälschte Doppelwahl ohne Anrechnung zulassen – also nach dem sog. „Graben-System“ zu verfahren. Bei diesem System sind die beiden von einander völlig unabhängig behandelten Stimmen gleichsam durch einen tiefen Graben voneinander getrennt. Eine Anrechnung findet dann nicht mehr statt.

Wohlgemerkt: Durch eine Verdopplung der Wahl würde das Gewicht der Großparteien natürlich verdoppelt. Und das ist der „Pferdefuß“ des Systems. Um dem zu entgehen, kann de lege ferenda umgekehrt aber auch das Stimmensplitting fallen gelassen werden. Bei der ersten Bundestagswahl von 1949 war das schon so gehandhabt worden. Damals waren beide Stimmen fest aneinander gekettet. Der Wähler musste mit dem Kandidaten im Wahlkreis immer auch die dazu gehörende Landesliste seiner Partei ankreuzen. So wurde sichergestellt, dass die von der Partei aufgestellten Listenkandidaten dem Sieger im Wahlkreis zu weichen hatten, der Wähler also die Reihenfolge auf der Liste beeinflussen konnte.

Dies würde wohl die einfachste Lösung sein, wenn da nicht noch ein Haken wäre. Es lässt sich nämlich nicht übersehen, dass gerade die kleineren Parteien wie die Partei der Grünen in den allermeisten oder wie die FDP sogar in allen 16 Bundesländern überhaupt keine Direktmandate erreichen und schon deshalb in der ganz überwiegenden Zahl der Bundesländer das Anrechnungsverfahren insoweit von vornherein ins Leere greift, weil es oftmals gar keinen direkt gewählten Kandidaten gibt, den man auf die Landesliste anrechnen könnte. So haben z. B. 2009 in Bayern vier von fünf, in Baden-Württemberg drei von fünf Bundestagsparteien kein einziges Direktmandat erlangt. Hier gibt es einfach nichts, was man anrechnen könnte.

Wie auch immer, für ein verfassungskonformes Mehrstimmen-Wahlrecht gilt die Maxime: entweder Stimmensplitting oder Anrechnung – aber nicht beides zusammen. Im gegenwärtigen Wahlrecht des Bundes ist jedoch beides zusammen verwirklicht. Man kann deshalb vor dem Verfassungsgericht dagegen angehen. Denn die Erststimmen-Mandate – so es welche gibt! – sollen ja auf die Landesliste angerechnet werden, man kann aber auch beide Stimmen auf verschiedene Parteien aufteilen und sich damit über den Zweck des Doppelstimmrechts vollkommen hinwegsetzen. Das passt nicht zusammen.

Streitgegenstand vor Gericht ist das Stimmensplitting in Kombination mit dem Anrechnungsverfahren, die beide miteinander unverträglich sind und im Fall von Überhangmandaten sogar dazu führen, dass die Abgeordneten in verfassungswidriger Weise nach zweierlei Recht gewählt werden. De lege ferenda kann man sich natürlich auch von dem Wahlrecht mit zwei Stimmen ganz verabschieden und einfach nach dem Prinzip „one man one vote“ entweder nach den Grundsätzen der Verhältnis- oder aber der Direktwahl abstimmen.

Klageberechtigt ist nach Art. 41 GG in Verbindung mit dem Wahlprüfungsgesetz jeder Wahlberechtigte. Seine Beschwerde muss schriftlich erfolgen und ist innerhalb einer Frist von acht Wochen nach dem Wahltermin beim Deutschen Bundestag einzureichen. Gegen die Entscheidung des Bundestags steht dem Beschwerdeführer der Weg zum Verfassungsgericht offen.

Gesetzt den Fall, die Koalitionsparteien einigen sich – wie zu erwarten – auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und lassen den bestehenden Konstruktionsfehler des sinnwidrigen Stimmensplittings in Kombination mit der Anrechnung der Erst- auf die Zweitstimmen-Mandate bei der Gesetzesnovelle weiterhin fortbestehen, dann ist damit zu rechnen, dass es bei der nächsten, der 18. deutschen Bundestagswahl, Wahlprüfungsverfahren nur so hagelt.

 
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