15.11.2010

Kammerzwang im Binnenmarkt

Die IHK-Pflichtmitgliedschaft und das Europarecht

Kammerzwang im Binnenmarkt

Die IHK-Pflichtmitgliedschaft und das Europarecht

Kammerzwang im Binnenmarkt: Exklusivität grenzt aus. | © vaso - Fotolia
Kammerzwang im Binnenmarkt: Exklusivität grenzt aus. | © vaso - Fotolia

Der Deutsche Industrie- und Handelkammertag als Dachorganisation der 80 deutschen Industrie- und Handelskammern interpretiert die bundesgesetzlich fixierte Pflichtmitgliedschaft der 3,6 Millionen gewerblichen Unternehmen positiv als „Selbstverwaltung der Wirtschaft“. Er rechtfertigt sie mit dem Hinweis darauf, dass nur im Falle einer Mitgliedschaft aller Unternehmen die Industrie- und Handelskammern auch das Interesse aller Gewerbetreibenden vertreten könnten.

Dies sehen mehrere hundert sogenannte Kammerverweigerer anders. Sie halten die Pflichtmitgliedschaft für verfassungswidrig. Von einer wirksamen Vertretung der einzelnen Berufsgruppen mit zum Teil widerstreitenden Interessen durch die Kammern könne nicht gesprochen werden und eine Erforderlichkeit der Pflichtmitgliedschaft könne schon deswegen nicht bestehen, weil die Aufgaben genauso gut durch private Berufsverbände mit freiwilliger Mitgliedschaft erfüllt werden könnten. Im Streit um die Pflichtmitgliedschaft hat auf nationaler Ebene das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss v. 07.12.2001, Az. 1 BvR 1806/98) ein „Schlusswort“ gesprochen: Es hat die Verfassungsmäßigkeit der beitragsfinanzierten Pflichtzugehörigkeit in den Industrie- und Handelskammern unter Rückgriff auf seine vor vierzig Jahren begründete Rechtsprechung (BVerfG Beschluss v. 19.12.1962, Az. 1BvR 541/57) bestätigt.

Auf rechtssicherem Boden steht die IHK-Pflichtmitgliedschaft damit aber noch nicht. Ein Blick auf das Europarecht zeigt, dass die Vereinbarkeit der Pflichtmitgliedschaft, anders als ihre Befürworter bekunden, mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 Abs. 1 AEU), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 Abs. 1 AEU), Art. 14 Ziff. 2 der Dienstleistungsrichtlinie und dem Demokratieprinzip (Art. 2 EU) in Konflikt steht.


Der Zielsetzung des Binnenmarktes (siehe Art. 26 Abs. 1 AEU), „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ zu verwirklichen (siehe Art. 3 Abs. 3 EU) und alle marktrelevanten Schranken zu beseitigen, entspricht es, den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit auch auf solche Sachverhalte auszudehnen, die keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen. Auch reine Inlandssachverhalte können die Niederlassungsfreiheit beschränken. Ein freier, die Binnengrenzen überwindender Wettbewerb kann sich erst dann einstellen, wenn den Marktbürgern eine Entscheidung über den Ort der Ausübung ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ermöglicht wird.

Die unkündbare und beitragspflichtige IHK-Pflichtmitgliedschaft stellt eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Als grundsätzlich unzulässige Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gelten nach zwischenzeitlich verfestigter Rechtsprechung des EuGH nationale Maßnahmen, die die Ausübung der garantierten Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können. Die Kammerpflichtigen empfinden ihre Zwangsmitgliedschaft als Behinderung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit. Das belegen schon die geringen Beteiligungen bei den Wahlen zur Vollversammlung als dem Hauptorgan der Industrie- und Handelskammern und auch ein in zahlreichen Print-, Fernseh- und Online-Beiträgen zum Ausdruck kommendes steigendes Akzeptanzdefizit.

Dass die Pflichtmitgliedschaft bei alledem nicht nur eine zu vernachlässigende Bagatellbeschränkung ist, wird bei einem Blick auf die von den Gewerbetreibenden zu entrichtende Beitragspflicht deutlich. Auch wenn ein durchschnittlicher Jahresbeitragssatz von 240 Euro für sich genommen nicht hoch zu Buche schlägt, sind fünf- und sechsstellige Jahresbeiträge einzelner umsatz- und ertragsstarker Unternehmen keine Seltenheit. Aber ganz abgesehen davon, darf schon die alternativlose, verpflichtende Kammerzugehörigkeit als solche als massive, die Bagatellgrenze deutlich überschreitende Beschränkung gewertet werden. Eine Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit käme nach der Rechtsprechung des EuGH im Fall von zwingenden Allgemeinwohlgründen in Betracht. Es lässt sich jedoch nicht stichhaltig begründen, weshalb die den Industrie- und Handelskammern per Gesetz zugewiesenen Aufgaben wie die Wahrnehmung des Gesamtinteresses der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden (die im Übrigen höchst unterschiedliche Interessen verfolgen), die Förderung der gewerblichen Wirtschaft, die Erstellung von gutachterlichen Stellungnahmen für Behörden und Gerichte oder die Vereidigung von Sachverständigen notwendigerweise und unverzichtbar gerade von den Industrie- und Handelskammern zu erfüllen wären. Zwingende Allgemeinwohlgründe fordern dies nicht. Vielmehr ließen sich die Aufgaben auch anderen öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Einrichtungen überantworten, ohne dass daran eine obligatorische Mitgliedschaft aller Gewerbetreibenden zu knüpfen wäre.

Auch für eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Pflichtmitgliedschaft lassen sich keine zwingenden Allgemeinwohlerfordernisse ausmachen. Die Dienstleistungsfreiheit schützt nicht nur vor Beschränkungen durch den Staat des Leistungsempfängers, sondern auch vor solchen, die der Staat des Dienstleistungserbringers diesem auferlegt. Dabei kann das grenzüberschreitende Element bei mehreren Konstellationen vorliegen: beim Erbringen der Dienstleistung in einem anderen EU-Mitgliedstaat entweder auf Bestellung des dort ansässigen Leistungsempfängers hin oder bei gemeinsamer Grenzüberschreitung des Dienstleistungserbringers und -empfängers (z.B. wenn sich ein Reiseunternehmen mit einer Reisegruppe ins Ausland begibt) oder beim Erbringen der Dienstleistung für einen Dienstleistungsempfänger, der sich zur Inanspruchnahme der Leistung ins Land des Dienstleistungserbringers begibt. Für einen in Deutschland ansässigen Dienstleistungserbringer ist das Erbringen einer grenzüberschreitenden Dienstleistung geradezu unattraktiv. Sie kann nicht ohne Beeinträchtigung erbracht werden, da sich der Kammerbeitrag auch am Unternehmensertrag orientiert. Dass mitgliedstaatliche Regelungen, die geeignet sind, grenzüberschreitende Dienstleistungen weniger attraktiv zu machen, Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit sind, hat der EuGH bereits mehrfach entschieden.

Die Dienstleistungsrichtlinie, die auf eine Beseitigung von Hemmnissen für die Niederlassungs- und Dienstfreiheit zielt, ordnet in Verfolgung dieses Ziels in Art. 14 Ziff. 2 an, dass Doppelregistrierungen in berufsständischen Vereinigungen mehrerer Mitgliedstaaten ausgeschlossen sein sollen. Erfüllt wird dieses Ziel jedoch in all den Fällen nicht, in denen ein Dienstleistungserbringer, der in einem EU-Mitgliedstaat mit ebenfalls obligatorischer Kammermitgliedschaft (z. B. in Österreich) ansässig ist, auch in Deutschland eine Betriebsstätte eröffnet. Er wird automatisch beitragspflichtiges Mitglied auch in der zuständigen deutschen Industrie- und Handelskammer – ein Fall, der mit Art. 14 Ziff. 2 der Dienstleistungsrichtlinie, der bislang von Deutschland noch nicht umgesetzt wurde, gerade verhindert werden sollte.

Ohne an dieser Stelle auf sämtliche rechtlichen Einzelausprägungen des europarechtlich verankerten Demokratieprinzips eingehen zu wollen, lässt sich jedenfalls festhalten, dass die Binnenorganisation der Industrie- und Handelskammern mit dem demokratischen Wahlgrundsatz der gleichen Wahl, der auch in allen Selbstverwaltungskörperschaften Geltung beansprucht, nicht in Einklang steht. Für die Industrie- und Handelskammern ist bei der Wahl der Mitglieder der Vollversammlung das System der Gruppenwahl gesetzlich festgelegt. Das bedeutet, dass das Stimmengewicht nach Branchengruppen differenziert wird – vorgeblich wirtschaftlich bedeutendere Gruppen dürfen mehr Repräsentanten in die Vollversammlung wählen als weniger starke Branchen. Ein solches Zensus-Wahlrecht widerspricht einer demokratischen Wahl und trägt im Übrigen auch nicht zu einer Vertretung des Gesamtinteresses der Kammerzugehörigen bei, wie es zentrale Aufgabe und erklärtes Ziel der Industrie- und Handelskammern ist.

Dass die deutsche IHK-Pflichtmitgliedschaft mit Blick auf die konkrete Aufgabenstellung der Industrie- und Handelskammern gegen geltendes Unionsrecht verstößt, haben jüngst mehrere Unternehmen mit einer Beschwerde an die Kommission der Europäischen Union substantiiert dargelegt. Es bleibt abzuwarten, ob die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einleiten wird. Deutschland wäre jedenfalls gut beraten, sich an der Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten zu orientieren und auf eine Pflichtmitgliedschaft zu verzichten.

 

Dr. iur. Yvonne Dorf

Leitende Regierungsdirektorin
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