15.11.2011

Ein Gespenst geht um

Die Bürgerversicherung – verfassungsrechtlich bedenklich

Ein Gespenst geht um

Die Bürgerversicherung – verfassungsrechtlich bedenklich

Wohin verschwinden die Milliarden – kann die Bürgerversicherung helfen? | © reinobjektiv - Fotolia
Wohin verschwinden die Milliarden – kann die Bürgerversicherung helfen? | © reinobjektiv - Fotolia

Ein Gespenst geht um im deutschen Gesundheitssystem.
In der aktuellen Debatte um die neueste Gesundheitsreform
wurde es wieder gesichtet. Klaffende Milliarden-Euro-
Löcher soll zunächst jedoch allein die im Vordergrund stehende
Reform zur „nachhaltigen und sozial ausgewogenen
Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV)
stopfen. Ausgabenkonsolidierung, mehr Eigenverantwortung
der Versicherten und höhere Beitragssätze sollen die
defizitären Kassen wieder klingeln lassen. Die Gegner des
neuen Gesetzes beschwören die Abschaffung von Solidarität
und dunkelmalerisch gar des Sozialstaates. Deren angeblich
allheilende Alternative lautet bündig: „Bürgerversicherung“
(BV). Aber ist diese der Stein der Weisen für die Sanierung
des Gesundheitssystems oder nur eine sinnbildlich geisterhafte
Idee? Wie soll sie rechtlich ausgestaltet und umgesetzt
werden? Und: Steht sie überhaupt im Einklang mit der geltenden
Verfassung? Gehen wir auf Geisterjagd.

Die Zwei: Klassischer Dualismus

Seit den 80er und 90er Jahren wurde die GKV mit knapp
7000 Einzelbestimmungen zusammengefasst in 50 Gesetzen
unermüdlich immer neu geformt. An den Grundprinzipien
des deutschen Gesundheitssystems hat sich kaum etwas
geändert. Abhängig Beschäftigte sind innerhalb der sogenannten
Jahresverdienstgrenze in der GKV pflichtversichert;
Selbständige, Beamte und Arbeitnehmer jenseits dieser
Grenze können sich privat versichern oder freiwilliges Mitglied
in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden.

Wegen dieses bislang ehernen Dualismus finden sich
verstärkt schlechte Risiken in der GKV. Insbesondere diejenigen
mit geringem Einkommen, mit kostenlos mitversicherten
Kindern und schlechten Krankheitsrisiken (wie etwa chronisch
Erkrankte und Menschen mit Behinderung) fallen in
das Auffangbecken GKV. Zudem verlieren die Lohneinkommen
als Haupteinnahmequelle weiter an Bedeutung. Die chronische
Finanzmisere der GKV ist nur eingeschränkt auf
steigende Ausgaben im Gesundheitswesen zurückzuführen.
In den letzten 30 Jahren fußt sie vornehmlich auf der Erosion
des Normalarbeitsverhältnisses. Die Gesamtausgaben für
den Gesundheitssektor betrugen von 1980 bis 2005 konstant
6 bis 7 % des Bruttoinlandsproduktes und sind nur entsprechend
der allgemeinen Kostenentwicklung gestiegen.


Moderne Zeiten: Zweiteilung wirkt veraltet

Das alt gediente Sozialversicherungssystem hat mit der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht Schritt gehalten.
Kleine Einkommen werden heute auch in teils prekären
selbständigen Existenzen erwirtschaftet. Die Grenzen zwischen
Arbeitnehmern und Selbständigen sind insoweit
fließend. Teile der Einkünfte vieler Menschen stammen aus
Vermietung, Kapitalanlagen oder anderen Quellen. Dies alles
führt zu einer Verteilungsungerechtigkeit bei den Beiträgen.
Verfügbare Einkünfte sind nicht mit entsprechenden Beiträgen
verbunden. Das Kriterium „abhängige Beschäftigung“
deckt sich nicht mit der Schutzbedürftigkeit. An all diesen
Strukturproblemen gehen die bisherigen Reformen vorbei.
Nur das Geld soll besser verteilt oder die Versicherten mehr
an den Ausgaben beteiligt werden (Stichwort: Selbstverantwortlichkeit).
So wird letztlich nur mehr Geld auf die ausgetretenen
Pfade der sozialversicherungsrechtlich gestalteten
GKV ausgebracht.

Drei Musketiere: Bürgerversicherung – eine für alle

Das Konzept der Bürgerversicherung folgt einem radikal
anderen Ansatz: Entgegen dem Wortlaut handelt es sich
nach der Idee um eine einheitliche Krankenversicherung für
alle Einwohner in Deutschland. Die Zweiteilung in private
und gesetzliche Versicherung entfällt. Die PKV könnten nur
noch Zusatzversicherungen (wie etwa Einzelbettzimmer
oder Chefarztbehandlung) anbieten oder zu einheitlichen
Tarifen mit vorgeschriebenem Leistungskatalog und Kontrahierungszwang
selbst Anbieter der BV werden. Die bisherige
Versicherungspflichtgrenze würde aufgehoben werden. Die
Beiträge zu einer solchen Versicherung würden einem festen
Prozentsatz sämtlicher Einkünfte eines Versicherten entsprechen.
Es wären nicht nur Beiträge auf die Lohneinkommen,
sondern z. B. auch auf Mieteinnahmen, Zinsen, Gewerbeeinkünfte
usw. zu erheben. Nach Voraussagen der
Protagonisten der BV könnte der Beitragssatz so um bis zu
3,1 % sinken. Durch die Berücksichtigung von Kapitaleinkünften
würden tendenziell vor allem Rentner, die solche
Einkünfte erzielen, aber über ansonsten niedrige Renten
verfügen, stärker an der Finanzierung des Gesundheitssystems
beteiligt – ein intergenerativer Ausgleich. Über die
gleiche Belastung der verschiedenen Einkunftsarten wäre
eine höhere Beitragsgerechtigkeit von bisher unterschiedlich behandeltenfreiwillig und gesetzlich Versicherten gewährleistet.

Zurück in die Zukunft: Fragen bleiben offen

Diese Konzepte würden mehr Geld in die Kassen der GKV
und später der BV spülen. Alle Einwohner wären gleich
belastet. Die Probleme der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
und des Bedeutungsverlustes der Lohneinkommen
am BIP würden gelöst. Einige Fragen sind noch offen:
Etwa wie die Verbreiterung der neuen Einkunftsarten durchgeführt
werden soll und wie die Beiträge berechnet und
einzogen werden sollen. Gegner der BV bezweifeln ferner,
ob sie eine wirtschaftlich entlastende Beitragssatzsenkung
erreichen kann. Die BV liefert keine überzeugende Antwort
auf das Problem des demographischen Wandels und den
technisch-medizinischen Fortschritt. Im Schnitt werden die
Menschen in Deutschland tendenziell immer älter und verursachen
immer höhere Behandlungskosten. Die ambivalente
Kehrseite medizinischen Fortschritts: Immer mehr Krankheiten
können durch immer aufwendigere Verfahren besser
behandelt werden. Die verfassungsrechtliche Kompatibilität
steht auf einem anderen Blatt.

Mission Impossible: Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz

Verfassungsrechtliche und damit besonders erhebliche
Probleme bringt vor allem das Verhältnis zwischen der
(gesetzlich verpflichtenden) BV und den Bestandsverträgen
der PKV-Unternehmen mit sich. Beschränkte man die PKV
auf die Rolle als Zusatzversicherer, ist neben Art. 14 Abs. 1
GG für die Bestandsfälle auch deren Berufsfreiheit aus Art.
12 GG betroffen. Zudem könnten sich bei einer Zwangsversicherung
in die BV die bisher privat Versicherten
auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG berufen.
Diese Grundrechtspositionen hinweg fegende überragende
Gründe des Gemeinwohls könnten wohl allein bei einem
drohenden Kollaps des bisherigen Systems angenommen
werden. Alternativ wäre daher abgemildert ein Bestandsschutz
für bestehende private Verträge zu überdenken.
Darüber hinaus berührt die Einführung der BV in der Kompetenz
des Bundes liegende Zuständigkeiten. Diese folgte
für die GKV bisher aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Das Neukonzept
einer einheitlichen BV für alle würde möglicherweise
den dort zentralen Kompetenzbegriff der Sozialversicherungüberspannen.

Die PKV-Unternehmen als gleichwertige
Anbieter der BV unterfallen nicht dem Kompetenztitel „Sozialversicherung“.
Denn nach Art. 87 Abs. 2 GG muss es sich
bei den Versicherungsträgern um öffentlich-rechtliche
Institutionen handeln. Nicht möglich ist es, die Kompetenz
für die Beteiligung der PKV an der BV aus der Kompetenz für
das privatrechtliche Versicherungswesen (Art. 74 Abs. 1
Nr. 11 GG) herzuleiten. Kontrahierungszwang, vorgeschriebene
Tarife und festgelegter Leistungskatalog in der BV
lassen sämtliche Charakteristika der Privatautonomie vermissen.
Schließlich rückt die Erhebung der Beiträge auf alle
Einkünfte verbunden mit der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze
die BV in gefährliche Nähe zu einer Steuer und
bietet daher Konfliktpotenzial mit der bestehenden Finanzverfassung.
Die BV hebt unmittelbar im Gesundheitssystem,
nicht in der Gesellschaft die Klassen auf. Die Kranken haben
mehr zu verlieren als ihre Ketten. Gewinnen können sie nur
bei einer dauerhaften solidarischen und finanzfesten Absicherung
im Krankheitsfall. Die Bürgerversicherung steht
verfassungsrechtlich auf schwankendem Boden. Sie wird
wohl Gespenst bleiben. Nur als Kompromiss kann sie Gestalt
annehmen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag gibt die persönliche
Meinung der Autoren wieder.

 

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
 

Jennifer Musil

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Köln
n/a