14.11.2022

Was wird aus den verfassungswidrigen Corona-Bußgeldern? (3)

Folgen der Nichtigkeitserklärung von Straf- und Ordnungswidrigkeitenvorschriften durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof (Teil III)

Was wird aus den verfassungswidrigen Corona-Bußgeldern? (3)

Folgen der Nichtigkeitserklärung von Straf- und Ordnungswidrigkeitenvorschriften durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof (Teil III)

Ein Beitrag aus »Thüringer Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Thüringer Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Am 01.03.2021 hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof (ThürVerfGH) durch Urteil die Coronaschutzverordnungen für Mai 2020 ganz und für Juni bis November 2020 teilweise für mit der Thüringer Landesverfassung unvereinbar und nichtig erklärt. Durch Beschluss vom 14.12.2021 hat er zudem einzelne Bestimmungen einer Coronaschutzverordnung von Dezember 2020 für nichtig erklärt (Teil III).

D. Möglichkeit der Wiederaufnahme von Ordnungswidrigkeitsverfahren

II. Erstreckung des allgemeinen Rechtsgedankens auf Ordnungswidrigkeiten

Wie bereits bei den Strafurteilen im engeren Sinne könnte es auch für Ordnungswidrigkeitenentscheidungen einen allgemeinen Rechtsgedanken geben, der der Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG bzw. dessen oben gewonnener Auslegung entspricht und der zur Füllung der Lücke im Thüringer Landesrecht herangezogen werden kann, ohne Bundesrecht zu benutzen.

Die Grundkonstellation bei Ordnungswidrigkeitenentscheidungen entspricht dabei dem bei Strafurteilen: Es steht das Interesse des Verurteilten, der keine Verfassungsbeschwerde erhoben hat, an einer Aufhebung dem fiskalischen Interesse an der Vermeidung des Wiederaufnahmeverfahrens und dem Interesse des Verurteilten, die Sache ruhen zu lassen, entgegen. Staat und Gesellschaft haben kein Interesse, eine offenkundig fehlerhafte Bußgeldentscheidung aufrechtzuerhalten.


Es gibt aber durchaus ein öffentliches Interesse an der Durchsetzung der Verfassung im Einzelfall, also auch der Aufhebung einer verfassungswidrigen Bußgeldentscheidung, auch zur Stärkung des Bildes vom verfassungstreuen und korrekturbereiten Rechtsstaat in der Öffentlichkeit. Das Interesse des Betroffenen wie des Staates an der Aufhebung ist dabei geringer als bei Strafurteilen (vgl. I 5.).

Dem entgegenstehend kann der Betroffene selbst ein Interesse daran haben, die Angelegenheit ruhen zu lassen. Die Möglichkeit, das gezahlte Bußgeld zurückzuerhalten, mag ihm unwichtig erscheinen im Vergleich zu dem praktischen und emotionalen Aufwand, der mit einer Wiederaufnahme verbunden ist. Wenn es zu einer neuen Hauptverhandlung kommt, ist der Betroffene verpflichtet, zu erscheinen (§ 73 Abs. 1 OWiG) oder einen Antrag auf Entbindung von dieser Pflicht zu stellen und einen Verteidiger zu schicken (§ 73 Abs. 2, 3 OWiG).

In der Konstellation des § 79 BVerfGG wird allerdings oftmals ein Freispruch ohne neue Hauptverhandlung nach § 371 Abs. 2 StPO in Betracht kommen, der für den Betroffenen deutlich weniger Aufwand verursacht. Der Staat hat außerdem ein fiskalisches Interesse gegen die Wiederaufnahme, da durch solche Verfahren Justizressourcen gebunden werden und bei einem Freispruch die zuvor eingenommenen Bußgelder und Gebühren zurückerstattet werden müssen.

Diese Interessen werden am besten zum Ausgleich gebracht, wenn das Wiederaufnahmeverfahren zugelassen wird. Dem Interesse des Betroffenen am Ruhenlassen der Sache kann dadurch Rechnung getragen werden, dass die Staatsanwaltschaft von ihrem Recht, auch gegen den Willen des Betroffenen die Wiederaufnahme zu seinen Gunsten zu beantragen,123 im Rahmen ihres Ermessens nur Gebrauch macht, wenn dies im Einzelfall ein erhebliches öffentliches Interesse an der Durchsetzung des Verfassungsrechts durch Wiederaufnahme erfordert.

Man mag zwar rechtspolitisch das fiskalische Interesse am Unterlassen eines Wiederaufnahmeverfahrens zumindest für bestimmte (Bagatell-)Konstellationen für gewichtiger halten als das Interesse des Betroffenen an der Wiederaufnahme. Ein solcher Schutz der Staatsfinanzen vor den berechtigten Interessen des Bürgers müsste aber seinen Ausdruck in einer gesetzgeberischen Entscheidung gefunden haben (wie etwa § 85 Abs. 2 OWiG). Ohne eine solche – wie hier für das Thüringer Verfassungsprozessrecht – kann sich dieses Interesse nicht durchsetzen.

Auch bei einer Füllung der Lücke im Thüringer Landesrecht durch allgemeine Rechtserwägungen ist somit eine Wiederaufnahme von Ordnungswidrigkeitenentscheidungen nach der Nichtigerklärung der Norm, auf die sie gestützt war, durch den ThürVerfGH zulässig. Die genannten Erwägungen gelten wiederum nicht für die Verwarnung.

E. Praktische Folgen

Nach diesen Erkenntnissen sind alle auf die von ThürVerfGH für nichtig erklärten Normen der Corona-Schutzverordnungen gestützten Bußgeldentscheidungen (außer Verwarnungen) der Wiederaufnahme zugänglich. In den allermeisten Fällen wird in der Wiederaufnahme freizusprechen sein. In Einzelfällen mag es eine zugleich anwendbare Bußgeldbestimmung geben, die nicht für nichtig erklärt wurde und auf die das Bußgeld stattdessen gestützt werden kann. Für die Einzelheiten des Verfahrens kann dabei auf die strafprozessuale und ordnungswidrigkeitenrechtliche Literatur verwiesen werden.124

Nur einige Punkte sollen herausgegriffen werden: Zuständiges Gericht ist beim nicht angefochtenen Bußgeldbescheid das örtliche Amtsgericht (§§ 85 Abs. 4 Satz 1, 68 OWiG). Bei gerichtlich bestätigten Entscheidungen entscheidet ein anderes Amtsgericht gemäß dem Beschluss des Präsidiums des Oberlandesgerichts nach § 140a GVG.125

Der Antrag kann vom Betroffenen durch einen Rechtsanwalt oder Verteidiger oder zu Protokoll der Geschäftsstelle gestellt werden (§ 366 Abs. 2 StPO). Um die Rechtsstaatlichkeit und die Bereitschaft zur selbstkritischen Umsetzung verfassungsgerichtlicher Urteile deutlich zu machen, bietet es sich aber an, von staatlicher Seite selbstständig die Wiederaufnahme anzustrengen – zumindest soweit kein entgegenstehender Wille des Betroffenen bekannt ist.

Die Verwaltungsbehörden, die die Bußgeldverfahren durchgeführt haben, sind verpflichtet, bei Bekanntwerden eines die Wiederaufnahme zulassenden Umstands die Akten der Staatsanwaltschaft zu übersenden (§ 85 Abs. 4 Satz 2 Var. 2 OWiG), die dann über die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags zugunsten des Betroffenen entscheidet. Diese Situation dürfte mit der Veröffentlichung der Entscheidungen des ThürVerfGH vorliegen, soweit die Verwaltungsbehörde der hier vertretenen Rechtsauffassung folgt. Zwecks einer effektiven und gleichmäßigen Abwicklung dieser Verfahren wäre eine Absprache zwischen Verwaltungsbehörden und Staatsanwaltschaft unter Einbeziehung der zuständigen Ministerien über die Einzelheiten des Vorgehens anzustreben. 126

Eine andere Möglichkeit zum Umgang des Staates mit dieser Lage wäre, das Gnadenrecht (Art. 78 Abs. 2 LVerf) zu nutzen und darüber die Bußgelder zurückzuzahlen.127 Zwar tilgt eine gnadenweise Rückzahlung des Bußgeldes nicht den Makel des Schuldausspruches im Bußgeldbescheid,128 die meisten Betroffenen würden sich aber vermutlich damit zufrieden geben.129 Dann könnte die Staatsanwaltschaft problemlos im Rahmen ihres Ermessens auf die Beantragung der Wiederaufnahme verzichten und es dem Betroffenen überlassen, die vollständige Tilgung der Bußgeldentscheidung anzustrengen. Schließlich könnte auch der Landtag durch Gesetz ein einfacheres Verfahren zur Rückabwicklung der Bußgeldentscheidungen einführen und so die Justiz entlasten.

Sollte es zu Meinungsverschiedenheiten über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme in der hier diskutierten Konstellation kommen, entscheidet auf sofortige Beschwerde (§ 372 Satz 1 StPO) letztinstanzlich das Landgericht. Eine für die Rechtseinheit wünschenswerte Entscheidung des Oberlandesgerichts im Wege der Rechtsbeschwerde (§ 79 OWiG) gegen die neue Entscheidung des Amtsgerichts ist wegen der Bindungswirkung der Entscheidung über die Zulassung der Wiederaufnahme für das weitere Verfahren nicht möglich.130

F. Fazit

Auch bei einer Nichtigerklärung eines Gesetzes durch den ThürVerfGH gilt eine dem § 79 Abs. 1 BVerfGG entsprechende Regelung, und die Wiederaufnahme von auf der Norm beruhenden Strafurteilen ist möglich. Die genaue Begründungslinie über eine quasi-analoge Anwendung des § 79 Abs. 1 BVerfGG oder einen allgemeinen Rechtsgedanken kann dabei offenbleiben.

Die Wiederaufnahmemöglichkeit gilt auch für Ordnungswidrigkeitenentscheidungen – auf Bundes- wie auf Thüringer Landesebene. Deshalb ist konkret gegen die Bußgeldbescheide, die auf den für nichtig erklärten Normen der Corona-Schutzverordnungen beruhen, eine Wiederaufnahme zulässig, und das Land sollte sich eine Strategie überlegen, wie es damit umgeht.

Neben einer Analyse für andere Bundesländer ist weitere Forschung für eine verwandte Frage notwendig: Ist § 79 Abs. 1 BVerfGG auch anwendbar, wenn Verordnungen nicht durch Verfassungsgerichte, sondern durch die Oberverwaltungsgerichte im Verfahren des § 47 VwVGO für nichtig erklärt werden?

Auch das wird angenommen,131 verdient aber eine gründlichere Untersuchung auch im Verhältnis zur fehlenden Gerichtsbarkeit der Verwaltungsgerichte über Ordnungswidrigkeitennormen.132

 

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung.

Entnommen aus ThürVBl. 8/2022, S. 173.

 

123 Schmidt (Fn. 17), § 365 Rn. 3.

124 Speziell zu dieser Konstellation Göhler, wistra 1984, 89, 91 f.

125 Geschäftsverteilungsplan des Thüringer Oberlandesgerichts ab dem 01.02.2022, Abschn. V, S. 38, https://gerichte.thueringen.de/media/tmmjv_ gerichte/Oberlandesgericht/Wir_ueber_uns/Geschaeftsverteilung/ Dokumente/2022/Geschaeftsverteilung2022.02.01.pdf (21.02.2022).

126 Eine massenhafte Wiederaufnahme auf Weisung der Generalstaatsanwaltschaften – allerdings zum Austausch der Rechtsgrundlage – gab es bereits, vgl. Bahlmann, MDR 1963, 541, 543 Fn. 24.

127 Dieser Weg wurde bereits bei der fehlerhaften StVO-Novelle 2020 (damals ohne verfassungsgerichtliche Entscheidung) in Brandenburg beschritten, Pressemitteilung des Ministeriums des Innern und für Kommunales Nr. 044/2020 vom 20.07.2020, https://mik.brandenburg.de/mik/de/detailpm- und-meldungen/~20-07-2020-gnadenerlass-fuer-falschebussgeldbescheide# (21.02.2022).

128 Für Strafurteile AG Dinkelsbühl, Beschl. v. 29.01.1952, NJW 1952, 1190, 1191.

129 Kleinknecht, NJW 1952, 1191.

130 Göhler, wistra 1984, 89, 92.

131 VGH Kassel, Beschl. v. 30.08.1979, NJW 1980, 2723; Bethge (Fn. 12), § 79 Rn. 39; Hug, in: Kopp (Begr.)/Schenke (Hrsg.), VwGO, 27. Aufl., 2021, § 47 Rn. 18, 20 m. w. N.; offenlassend für § 79 Abs. 2 BVerfGG Steiner (Fn. 9), 636.

132 BVerwG, Urt. v. 17.02.2005, NVwZ 2005, 695, 696; W.-R. Schenke/R. P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO (Fn. 131), § 183 Rn. 2.

 

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Kilian Herzberg

Stud. Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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