25.11.2022

„Brutale Kultur des organisierten Wegsehens“

PUBLICUS-Interview mit Prof. Dr. Dieter Rössner

„Brutale Kultur des organisierten Wegsehens“

PUBLICUS-Interview mit Prof. Dr. Dieter Rössner

Es gibt mit Sicherheit keine Institution in Deutschland, die in vergleichbarer Situation so ungeschoren davon käme. | © eyetronic - stock.adobe.com
Es gibt mit Sicherheit keine Institution in Deutschland, die in vergleichbarer Situation so ungeschoren davon käme. | © eyetronic - stock.adobe.com

Vier Jahre nach dem von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlichten Missbrauchsbericht (MHG-Studie) gibt es weiterhin keine nennenswerte strafrechtliche Aufarbeitung der Geschehnisse. PUBLICUS-Interview mit dem Strafrechtler Prof. Dr. Dieter Rössner.

Hintergrund MHG-Studie

Bei der MHG-Studie handelt es sich um ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland.


Zwischen 2014 und 2018 haben sich Experten universitärer Institute aus Mannheim, Heidelberg und Gießen – daher die Abkürzung MHG – in einem Forschungsverbund mit der inhaltlichen Aufarbeitung des Missbrauchskomplexes befasst. Der von den Forschern vorgelegte Abschlussbericht trägt den Titel Forschungsprojekt: Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz.

PUBLICUS: Sie haben sich kritisch mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche auseinandergesetzt. Hat sich seit Veröffentlichung des Missbrauchsberichts, mit dem Sie sich juristisch und publizistisch sehr kritisch auseinandergesetzt haben, substanziell etwas zum Besseren entwickelt?

Rössner: Ein Umdenken der katholischen Kirche ist bei der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis zwischen kirchlichem und staatlichem Strafrecht zu erkennen. Während bis zur Anzeige und auch noch unmittelbar danach die Auffassung vertreten wurde, dass die innerkirchliche Strafverfolgung Vorrang gegenüber der staatlichen habe, wird aktuell nicht mehr auf dieser Sichtweise bestanden und mehr oder weniger akzeptiert, dass das staatliche Strafrecht bei Strafnormen des StGB auch im kirchlichen Raum gilt.

Für den Vorrang des kirchlichen Strafrechts wird aber immer noch angeführt, dass dort vor allem die Opfer besser geschützt würden. Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, dass ausgerechnet die Organisation, der die Täter angehören und von der sie vielfach abgeschirmt werden, für den Schutz der Opfer zuständig sein soll. Also ein fadenscheiniges Argument zur Fortsetzung des überkommenen Vorrangs kirchlichen Rechts.

„Geschickter Versuch der fortgesetzten Vermeidung staatlicher Ermittlungen“

Hintertrieben wird das grundsätzliche Bekenntnis zur konsequenten strafrechtlichen Aufarbeitung auch durch vorgeschaltete und innerkirchlich bestimmte Kommissionen, die für die Strafverfolgung relevante Fälle ermitteln sollen. Den eigenen sogenannten Aufarbeitungskommissionen gehören dann neben gezielt ausgewählten Mitgliedern sogar kirchliche Mitarbeiter an. Vorgebliches Ziel ist wieder die Opferhilfe. Bei Licht gesehen handelt es sich aber eher um einen geschickten Versuch zur fortgesetzten Vermeidung genereller staatlicher Ermittlungen, ganz auf der Linie des Papstes, der  meint, die Kirche treibe mit der Hilfe Gottes die Verpflichtung voran, den Opfern durch strenges kanonisches Vorgehen gerecht zu werden.

Solche Selbstreinigungsprogramme sind nicht mehr glaubwürdig. Wer würde denn eine interne Aufarbeitungskommission an anderer Stelle der Gesellschaft akzeptieren, wenn die institutionell Verantwortlichen intern hohe Positionen der Institution besetzen und letztlich über die Weitergabe der Erkenntnisse entscheiden.

Nicht wesentlich anders sind die Gutachten zu beurteilen, die im kirchlichen Auftrag erstellt werden. Dabei bleibt schon offen, welche Unterlagen den Gutachtern zugänglich gemacht wurden – insbesondere im Hinblick auf belastendes Material. Objektive und verlässliche Ergebnisse sind von solchen auf Vorselektion durch die Verantwortlichen beruhenden „Aufarbeitungen“ nicht zu erwarten.

PUBLICUS: Wie beurteilen Sie im Kontext der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche das Handeln der Staatsanwaltschaften?

Rössner: Unter den vorgenannten Prämissen bleibt die Zurückhaltung der Staatsanwaltschaften bei der Ermittlung zum sexuellen Missbrauch im kirchlichen Raum nach wie vor schleierhaft. Auch nach der Anzeige hat es nicht eine einzige proaktive Ermittlung von Staatsanwaltschaften gegeben.

Dabei würde sich aus den intern den Kommissionen vorgelegten Fällen schon sehr häufig ein Anfangsverdacht herleiten lassen. Die Staatsanwaltschaft könnte aufschlussreiche Akten über innerkirchliche Verfahren oder Personalsachen auch in geheimen Archiven beschlagnahmen und Zeugen verhören. Auch auf Seiten der Staatsanwaltschaft scheint ein Rest kirchlicher Autonomie und daraus gefolgerter Unantastbarkeit – möglicherweise unbewusst – akzeptiert zu sein.

Keine andere Institution in Deutschland käme „so ungeschoren davon“

Es gibt mit Sicherheit keine Institution in Deutschland, die in vergleichbarer Situation so ungeschoren davonkäme. Paradox dabei ist: Es handelt sich um die, die das höchste moralische Selbstverständnis hat. Eine wirkliche Entwicklung zum Besseren ist daher bisher nicht zu sehen.

PUBLICUS: Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diese unzureichende Bereitschaft der Staatsanwaltschaften zur Strafverfolgung der Missbrauchstaten in der katholischen Kirche?

Rössner: Da spielt die traditionelle Ehrfurcht vor der Institution Kirche eine Rolle. Aus der moralischen Selbstdarstellung der Kirche wird gefolgert: So schlimm wird es wohl nicht gewesen sein.

„Brutale Kultur des organisierten Wegsehens“

Bedenken muss man, dass zudem die Beschwerdemacht der meist betroffenen Kinder und Jugendlichen in der Institution von vornherein begrenzt ist. Ein so strikt organisiertes Moralsystem ist immer der ideale Nährboden für diskrete organisierte Regelverletzungen, die die Moral der Institution infrage stellen. So entsteht die brutale Kultur des organisierten Wegsehens, die Opfern nur geringe Chancen auf Hilfe lässt.

PUBLICUS: Haben Sie Hoffnung auf Besserung bei der Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsfälle?

Rössner: Wenn man die zur ersten Frage dargestellte Realität jetzt vier Jahre nach der Anzeige nüchtern betrachtet, bleiben aktuell nur noch zwei Wege zu mehr Gerechtigkeit für die Missbrauchsopfer:

  • Die Opfer werden gesellschaftlich unterstützt und bestärkt, ihre Ansprüche auf zivilrechtlichem Weg geltend zu machen und durchzusetzen. Das wurde jetzt erkannt. Erste Klagen gibt es und auch mein Beitrag beschreibt die Erfolg versprechenden Ansätze insbesondere auch gegen Vertuscher. Auf diesem Weg kann sowohl den Opfern geholfen als auch die Verantwortlichkeit der Organisation und ihrer Repräsentanten festgestellt werden.
  • Es werden vom Staat neutrale und fachkundige Untersuchungskommissionen eingesetzt, um der Wahrheit näher zu kommen. Ein Weg, der in Spanien und Frankreich schon beschritten wird und insbesondere der Prävention weiteren institutionellen Missbrauchs in der Kirche dient.

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© privat

Zur Person:

Prof. Rössner

Prof. Dr. Dieter Rössner war zuletzt Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Philipps-Universität Marburg. Zuvor hatte er Lehrstühle an den Universitäten in Göttingen und Halle inne. Vor seiner Zeit als Hochschullehrer war Rössner Richter und Staatsanwalt in Baden-Württemberg. Zudem war er Vorsitzender des Landespräventionsrates in Hessen. Rössner ist Mitautor des Handbuchs „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder“.

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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