10.11.2022

Tabuthema sexualisierte Gewalt gegen Kinder

PUBLICUS-Interview mit Sigrun von Hasseln-Grindel

Tabuthema sexualisierte Gewalt gegen Kinder

PUBLICUS-Interview mit Sigrun von Hasseln-Grindel

•	Opfer von sexuellem Missbrauch möchten oft weiterhin in ihrem Familienverbund leben.  | © M-Production - stock.adobe.com
• Opfer von sexuellem Missbrauch möchten oft weiterhin in ihrem Familienverbund leben.  | © M-Production - stock.adobe.com

Der Jugendschutzprozess vom Erstverdacht bis zum Strafurteil, Opferentschädigung und Opferprävention wurden jetzt erstmals in einem Handbuch aufbereitet. PUBLICUS-Interview mit der ehemaligen Jugendschutzrichterin, Sigrun von Hasseln-Grindel, die Herausgeberin des Handbuchs ist.

PUBLICUS: Sie waren lange als Vorsitzende Richterin einer Jugendschutzkammer mit dem Thema Missbrauch befasst: Welche Erfahrungen und Eindrücke haben Sie im Rahmen dieser Arbeit besonders geprägt?

von Hasseln-Grindel: Ich habe das Missbrauchsverfahren in vier Bundesländern aus fast allen Perspektiven kennengelernt: als Jugend-Staatsanwältin, als Jugendeinzelrichterin, als Vorsitzende eines Jugendschöffengerichts beim Amtsgericht, als Richterin in der Revisionsinstanz beim Oberlandesgericht, als Vorsitzende Richterin einer Jugendschutzkammer beim Landgericht und seit einiger Zeit als Opferanwältin.


Als bedrückend empfinde ich das strafrechtliche Jugendschutzverfahren, weil es sowohl im Hinblick auf die Wahrheitsfindung als auch im Hinblick auf die Verfahrensvorschriften sehr komplex und kompliziert ist und deshalb nicht immer sofort bearbeitet wird. Das führt manchmal dazu, dass notwendige Beweismittel verloren gehen.

PUBLICUS: Was war für Sie der entscheidende Impuls, dieses Handbuch herauszugeben?

von Hasseln-Grindel: Die große Unkenntnis in der Bevölkerung und das große Angstpotenzial bei Betroffenen und ihren Angehörigen darüber, was passiert, wenn der Verdacht eines Missbrauchs angezeigt wird. Eigentlich ist nur Fachleuten klar, dass mit der Anzeigeerstattung ein Komplexverfahren beginnt, an welchem neben zahlreichen Ämtern das Strafgericht, das Familiengericht, das Zivil-, Verwaltungs- und das Sozialgericht beteiligt sind.

Und es stoßen zwei Welten aufeinander.

  • Opfer von sexuellem Missbrauch möchten oft weiterhin in ihrem Familienverbund leben. Sie haben Panik davor, dass Ämter und Gerichte ihre Familie auseinanderschlagen. Opfer möchten meist nur darin unterstützt werden, dass die (oft) jahrelange Quälerei endlich aufhört. Deshalb ist es Opfern wichtig, dass Beschuldigte überführt werden; schon deshalb, damit sie als Opfer nicht als Lügner dastehen. Wie hoch die Beschuldigten verurteilt werden, ist Opfern meist nicht so wichtig.
  • Werden Beschuldigte überführt, ist in der Regel die bürgerliche Existenz kaputt. Denn die drastischen Strafen lassen meist kaum noch Spielraum für ein Geständnis und eine Strafaussetzung zur Bewährung.

Es sollte eine politische Diskussion darüber angestrengt werden, ob in leichteren Fällen des sexuellen Missbrauchs ein besser überwachter Kontakt zwischen elterlichem Täter oder elterlicher Täterin und Kind für das Kindeswohl besser ist als die strikte Trennung vom Elternteil. Kaum ein Mensch ist gern Kind eines „Knastis“.

Monika Paulat, Mitautorin des Handbuchs und Präsidentin des Sozialgerichtstages; Marcus Preu, Leiter des juristischen Lektorats des Richard Boorberg Verlages.

PUBLICUS: Wo sehen Sie aktuell die größten Defizite in der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen?

von Hasseln-Grindel: Insgesamt sollte bei den Strafverfolgungsorganen und bei der Justiz mehr geschultes Personal eingestellt werden.

Altfälle, unter anderem in der katholischen Kirche, sollten mit Mindeststrafen und großzügigen Entschädigungsleistungen zügig beendet und dafür ein umfassendes Präventionskonzept erarbeitet werden, in welchem ein Paradigmenwechsel vom „Kind als Besitz und Eigentum“ zum „Kind als Rechtspersönlichkeit auf Augenhöhe“ stattfindet.

Die Strafrahmen sind teilweise so hoch, dass der Verteidigung jede Möglichkeit genommen wird, sich geständig einzulassen und damit für Rechtsfrieden und für die Aufrechterhaltung einer bürgerlichen Existenz ihrer Mandanten zu sorgen. Das gilt insbesondere nach der Heraufstufung einiger Tatbestände zum Verbrechen im Jahr 2021 schon deshalb, weil damit den Ermittlern ein flexibles Instrumentarium aus der Hand genommen wurde, Verfahren in bestimmten Konstellationen – ggf. gegen Auflagen (§§ 153, 153a Strafprozessordnung) – auch einzustellen.

Null Toleranz sollte allerdings bei § 184b StGB „Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte“ bleiben. Denn das Zustandekommen dieser Bilder ist oft nur möglich, wenn den auf den Bildern zu sehenden abscheulichen Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung bereits Kindesentführungen, Kinderhandel, Kinderprostitution, Körperverletzungen und Kindesmisshandlung vorangegangen sind, womit Milliardengeschäfte gemacht werden.

Generell sollte das Jugendschutzverfahren dahin reformiert werden, dass alles, was im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt zu entscheiden ist, in ein eigenes Jugendschutz-Komplexverfahren fließt. Es sollten möglichst alle Behörden in einem Gebäude- (Komplex) (wie beim Haus des Jugendrechts) untergebracht werden.

 

PUBLICUS: Wen wollen Sie mit diesem Buch erreichen, wen sollte das Buch erreichen?

von Hasseln-Grindel: Zielgruppe für dieses Praxishandbuch sind u.a. Ärzte, Betreuer, Eltern, Erzieher, Führungskräfte aus sozialen, pädagogischen und medizinischen Bereichen, Heimleiter, Krankenschwestern und Pfleger, Lehrkräfte, Medienvertreter, Polizeibeamte, Politiker, Psychologen, Rechtsanwälte, junge Richter und Schöffen, Sozialarbeiter, Sozial-, Jugendamts- und Kirchenmitarbeiter, Sporttrainer, Staatsanwälte und Therapeuten.

 

© privat

Zur Person:

Sigrun von Hasseln-Grindel

Rechtsanwältin Sigrun von Hasseln-Grindel war rund 40 Jahre Richterin in Hamburg, Niedersachsen und Brandenburg mit dem Schwerpunkt Jugendschutz. Bis 2018 war sie Vorsitzende Richterin der Jugendschwurgerichts- und Großen Jugendschutzkammer eines Landgerichts. Seit 2018 engagiert sie sich als Opferanwältin. Zudem war von Hasseln-Grindel Lehrbeauftragte der BTU Cottbus-Senftenberg. Sie ist Mitglied zweier Kommissionen des Deutschen Sozialgerichtstages (sozialgerichtstag.de).

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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