15.09.2011

Vertrag von Lissabon – mehr Demokratie

Europa: Neue Legitimation durch den Einfluss nationaler Parlamente

Vertrag von Lissabon – mehr Demokratie

Europa: Neue Legitimation durch den Einfluss nationaler Parlamente

Die Möglichkeit der Einwirkung nationaler Parlamente auf die Gesetzgebungsakte des Europäischen Parlaments wächst. | © Sven Hoppe - Fotolia
Die Möglichkeit der Einwirkung nationaler Parlamente auf die Gesetzgebungsakte des Europäischen Parlaments wächst. | © Sven Hoppe - Fotolia

Der Kampf um Rettungspakete für notleidende Eurostaaten zeigt, dass sich die Staats- und Regierungschefs auf europäischer Ebene nicht nur untereinander einigen müssen, sondern auch die nationalen Parlamente überzeugen müssen. Dies führt zu einer verstärkten Einbeziehung der europäischen Öffentlichkeit in die nationale Parlamentsarbeit.

Dies entspricht auch der Intention des Lissabonner Vertrags. Für das Ziel einer besseren demokratischen Legitimation stärkte man das Europäische Parlament (Publicus 2011.7 Seite 34 ff.) und integrierte erstmals die nationalen Parlamente in die Gesetzgebung. Die nationalen Parlamente sollen dabei als „Transmissionsriemen“ zwischen Unionsbürgern und EU-Organen fungieren. Sie sollen durch Plenardebatten die Öffentlichkeit informieren und so die Meinungsbildung zu europäischen Themen fördern.

Denn bisher arbeitet die europäische Gesetzgebung, wie vom Luxemburger Premierminister Juncker beschrieben (Der SPIEGEL 52/1999, S. 136): „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt um Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ Zudem sollen die nationalen Parlamente die Arbeit des Rates kontrollieren und die Rolle des Hüters der Subsidiarität einnehmen.


Verankerung der neuen Rechte in den Verträgen

Durch den Lissabonner Vertrag bekamen die nationalen Parlamente mit Art. 12 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) erstmals einen eigenen „Paragrafen“ im EUV.

Zudem sind für sie die Protokolle des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Nr. 1 („Über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union“) und Nr. 2 („Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“) relevant.

Mit der Einführung des Art. 12 EUV versuchte man der zunehmenden Übertragung von nationalen Kompetenzen an die EU und dem stärkeren Einfluss von EU-Gesetzgebung auf die nationale Gesetzgebung angemessen Rechnung zu tragen.

Bessere Information durch EU-Organe

Gemäß Art. 12 lit. a EUV müssen die nationalen Parlamente direkt von den EU-Organen über deren Gesetzgebungsakte informiert werden. Details sind im Protokoll Nr. 1 zum AEUV geregelt. Gleichzeitig wird seitens der EU auch von den nationalen Parlamenten mehr Engagement bei der europäischen Gesetzgebung erwartet (Präambel zu Protokoll Nr. 1).

Die Informationen werden von den EU Organen versendet. Der Europäische Rat beispielsweise unterrichtet über Initiativen gem. Art 48 Abs. 7 UAbs. 1 und 2 EUV (Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit) „mindestens sechs Monate vor dem Erlass eines Beschlusses“ (Art. 6 Protokoll Nr. 1).

Aufwertung der Prinzipen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit

Den nationalen Parlamenten wird aufgetragen, sich für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, die in Art. 5 Abs. 2 bis 4 EUV verankert sind, einzusetzen (Art. 12 lit. b EUV i.V.m. Art. 1 Protokoll Nr. 1). Diese Prinzipien dienen als Kompetenzausübungsschranke, d. h. nationale Parlamente sollen so als „Gegengewicht“ zu EU-Institutionen Kompetenzübertragungen von nationaler Ebene auf die supranationale Ebene aktiv mitgestalten.

Die Subsidiarität bedeutet, dass die Union in Bereichen mit nicht ausschließlicher Zuständigkeit nur handelt, wenn die Mitgliedstaaten ein Problem nicht selbst auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene regeln können (Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV). Die Kontrolle über die Wahrung der Subsidiarität erfolgt gemäß den Regelungen des Protokolls Nr. 2 sowohl „ex-ante“ durch das Frühwarnsystem und die Subsidiaritätsrüge als auch „ex-post“ durch die Subsidiaritätsklage.

Subsidiaritätsrüge

Das so genannte Frühwarnsystem bindet die nationalen Parlamente schon frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess ein. Nach der Übermittlung der Gesetzentwürfe bleiben den nationalen Parlamenten acht Wochen, um eine begründete Stellungnahme abzugeben (Art. 4 Protokoll Nr. 1), ehe der Gesetzentwurf auf die Tagesordnung des Rates gesetzt werden darf.

Während dieser acht Wochen darf es also nicht zu einer Einigung über den Gesetzentwurf kommen. Zwischen der Stellungnahme und der relevanten Sitzung müssen dann weitere zehn Tage liegen. Wenn in diesen acht Wochen die nationalen Parlamente eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes feststellen, können diese eine begründete Stellungnahme (Subsidiaritätsrüge) an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rates abgeben.

Je größer die Einigkeit unter den nationalen Parlamenten ist, dass der Gesetzentwurf nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, desto wirksamer ist die Rüge.

Beim „Gelbe-Karte-Verfahren“ genügt dem EU-Gesetzgeber lediglich eine Begründung, um sich über die Meinung der nationalen Parlamente hinwegsetzen zu können. Einzelne Stellungnahmen müssen von den EU-Institutionen dann lediglich „berücksichtigt“ werden (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Protokoll Nr. 2). Eine zwingende Überprüfung des eingereichten Gesetzgebungsaktes kann nur durch ein Drittel aller Stimmen (jedes Land hat zwei Stimmen) erreicht werden (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 Protokoll Nr. 2). Eine Ausnahme bildet der Bereich des Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 Protokoll Nr. 2). In diesem Bereich genügt ein Viertel der Stimmen für ein suspensives Veto. Wenn dieses Votum erfolgt ist, muss das EU-Organ, welches den Vorschlag für einen Rechtsetzungsakt eingebracht hat, seinen Vorschlag erneut unter dem Aspekt der Subsidiarität überprüfen. Das weitere Vorgehen muss das Organ schriftlich begründen (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 Protokoll Nr. 2).

Wesentlich effektiver ist das sogenannte „Rote-Karte-Verfahren“. Wenn über 50 % der Stimmen der nationalen Parlamente, momentan wären das 28, eine begründete Stellungnahme einreichen, muss die Kommission den Vorschlag überprüfen (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 Protokoll Nr. 2). Wenn die Kommission ihren Vorschlag weiterverfolgt, muss sie ebenfalls eine begründete Stellungnahme abgeben.

Diese wird zusammen mit den anderen Stellungnahmen der nationalen Parlamente und dem Entwurf des Gesetzgebungsaktes dem Rat und dem Europäischen Parlament vorgelegt (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 Protokoll Nr. 2). Diese Gesetzgebungsorgane überprüfen die Stellungnahmen (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 lit. a Protokoll Nr. 2). Durch eine Mehrheit von 55 % im Rat oder eine einfache Mehrheit im Europäischen Parlament kann die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips festgestellt werden. Nach diesem Beschluss, den die beiden Organe auch unabhängig voneinander fällen können, muss das Gesetzgebungsverfahren gestoppt werden!

Subsidiaritätsklage

Die Subsidiaritätsklage ist ein Instrument für die nationalen Parlamente, nach Erlass eines Rechtsetzungsaktes gegen diesen vorzugehen. Sie ist eine spezielle Form der Nichtigkeitsklage, die gemäß Art. 8 Abs. 1 Protokoll Nr. 2 i.V.m. Art. 263 AEUV vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erhoben werden kann. Die Klage müssen die Mitgliedstaaten entweder in ihrem eigenen Namen oder im Namen der nationalen Parlamente erheben. Die Möglichkeit der Klage hängt dabei nicht von einer Subsidiaritätsrüge ab. Man will so sicherstellen, dass auch gegen Änderungen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vorgegangen werden kann.

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit

Beim Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV) geht es um das „Wie“ der inhaltlichen und formalen Ausgestaltung der Gesetzgebungsentwürfe. Allerdings ist die Anwendung der oben genannten Mechanismen auf die Kontrolle des Prinzips der Verhältnismäßigkeit umstritten.

Beteiligung an Vertragsänderungen

Die Mitwirkung an Vertragsänderungen (Art. 12 lit. d EUV i.V.m. Art. 48 EUV) ist für die Parlamente ein wichtiges Instrument der Einflussnahme, das über die bisherige Ratifizierungspflicht (Art. 48 Abs. 2 EUV a.F.) hinausgeht.

Bei der Brückenklausel des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 1 EUV beschließt der Europäische Rat, dass der Rat in einem Bereich, in dem Einstimmigkeit vorgesehen ist, mit qualifizierter Mehrheit abstimmen darf. Die Brückenklausel kann im Titel V des EUV und im gesamten AEUV angewendet werden. Gegen die Nutzung der Brückenklauseln des Art. 48 Abs. 7 EUV können die nationalen Parlamente innerhalb von sechs Monaten ein Veto einlegen (Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV). Wie oben erwähnt werden die nationalen Parlamente über die Initiativen des Europäischen Rates informiert.

Im Fall der Brückenklausel des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 2 EUV beschließt der Europäische Rat die Abänderung von einem besonderen in ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren.

Mit dieser Regelung will der Gesetzgeber sicherstellen, dass die nationalen Parlamente sich schon im Frühstadium mit einer Vertragsänderung beschäftigen können und nicht erst bei der Ratifizierung in Kenntnis gesetzt werden.

Beispiel für Anwendung der neuen Rechte:Einlagensicherung

Die erste Subsidiaritätsrüge seit ihrer Einführung ging von Bundestag und Bundesrat aus. Gerügt wurde der Kommissionsentwurf KOM(2010) 368. Mit diesem Entwurf sollten die Einlagensicherungssysteme reformiert werden. Er sieht vor, dass Sparereinlagen bis zu einer Summe von 100.000 Euro abgesichert werden. Die Absicherung darf danach in Zukunft nur durch den einheitlichen Einlagensicherungsfonds erfolgen. Die bisher als gleichwertig eingestuften Garantiegemeinschaften der Genossenschaftsbanken und die Institutsgarantie der Sparkassen werden nicht weiter als ausreichend eingestuft.

Die Finanzierung und die Beitragsbemessung für den einheitlichen Einlagensicherungsfonds hielten Bundestag und Bundesrat für unverhältnismäßig. Die Institutsgarantie sei diesem Fonds mindestens gleichwertig. Um das Ziel des einheitlichen Schutzniveaus zu erreichen, reiche statt der geplanten Vollharmonisierung auch eine Mindestharmonisierung. Die maximale Deckungssumme von 100.000 Euro bedeute für den Kunden eine Verschlechterung, da die Institutsgarantie bei der Erstattung von Einlagen keinen Maximalwert vorsehe.

Die Rüge der Bundesregierung ist am 19. 10. 2010 den Mitgliedern des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments zugeleitet worden. Europaweit reichten neben Bundestag und Bundesrat noch die Parlamente von Dänemark und Schweden eine begründete Stellungnahme ein. Damit wurde das Quorum für eine zwingende Überprüfung durch die Kommission verpasst (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 Protokoll Nr. 2). Die Kommission muss jetzt die Stellungnahme der Parlamente im weiteren Gesetzgebungsverfahren lediglich berücksichtigen (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 Protokoll Nr. 2).

Der Beschluss des Bundestages zur Subsidiaritätsrüge war historisch. Denn der Bundestag zeigte mit dieser Entscheidung, dass er sich aktiv in die Europapolitik einschalten will und auch dazu im Stande ist. Die Erfolgsaussichten dieser Rüge waren aber nicht gut. Die meisten anderen Staaten haben eine andere Struktur der Banken und kennen das Sparkassen- und Genossenschaftsbankensystem nicht. Der Kommissionsvorschlag bedeutete für die meisten Bankkunden der EU eine Verbesserung, da für sie die Deckungssumme steigt und europaweit die gleichen Regelungen gelten. Deshalb muss unseres Erachtens das deutsche Interesse an einer Ausnahmeregelung hier zurückweichen. Die Kommission wird deshalb ihren Vorschlag auch nicht ändern.

Fazit und Ausblick

Durch die Stärkung der Rechte der nationalen Parlamente ist eine Stärkung der Demokratie in der EU gelungen. Es wurde erreicht, dass über Gesetzentwürfe stärker und früher in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Viel wird in Zukunft davon abhängen, wie stark die nationalen Parlamente grenzüberschreitend zusammenarbeiten, z. B. um das nötige Quorum für das „Rote-Karte-Verfahren“ zu erreichen.

Eine interessante Initiative starteten die deutschsprachigen Landesparlamente aus Österreich, Deutschland und Italien (Südtirol) in der „Wolfsburger Erklärung“. In dieser Erklärung wurde am 07. 06. 2011 eine Zusammenarbeit in europäischen Themen unter dem Motto „Starke Länder in einem starken Europa“ vereinbart (siehe http://www.europaeische-bewegung.de/fileadmin/files_ebd/Regional/EBD_REG_20110607_Wolfsburger_Erklaerung.pdf).

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem Auszug aus der Diplomarbeit von Stefan Borst.

 

Stefan Borst

Student an der Hochschule für den Öffentlichen Dienst in Bayern
 

Prof. Dr. Peter Schäfer

LL.M., Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern
n/a