15.09.2011

Schulfriede in NRW!?

Reichweite des schulrechtlichen Rücksichtnahmegebots bleibt unklar

Schulfriede in NRW!?

Reichweite des schulrechtlichen Rücksichtnahmegebots bleibt unklar

Mit einem Federstrich: Die Sekundarschule kommt. Schulproblem in NRW gelöst? | © OlgaLIS - Fotolia
Mit einem Federstrich: Die Sekundarschule kommt. Schulproblem in NRW gelöst? | © OlgaLIS - Fotolia

„Historischer Kompromiss“ oder „Schulfriede bis 2023 gesichert“ – so oder so ähnlich lauten die Zeitungsüberschriften zum schulpolitischen Konsens in Nordrhein-Westfalen, mit dem sich Regierung und CDU-Opposition auf die Einführung der sogenannten Sekundarschule, die das „gemeinschaftliche und differenzierende Lernen“ in den Klassen 5 und 6 ermöglichen soll, geeinigt haben. Die Sekundarschule wird nach der zehnten Klasse mit der sogenannten Ausbildungs- oder Oberstufenreife abgeschlossen. Diesem „Schulfrieden“ war ein monatelanger Verwaltungsrechtsstreit um die Genehmigung der Gemeinschaftsschule Finnentrop vorausgegangen, der bundesweit auf Interesse gestoßen war und Fragen aufgeworfen hatte, die auch heute noch relevant sind. Ein Grund, den Rechtsstreit noch einmal zu rekapitulieren und zu fragen, ob mit dem „Schulfrieden“ auch Rechtsfrieden einkehren wird.

Ausgangslage

Im Koalitionsvertrag vom Sommer 2010 hatte die rot-grüne NRW-Landesregierung beschlossen, das gemeinsame Lernen bis zur 10. Klasse in sogenannten Gemeinschaftsschulen einzuführen. Die Praxistauglichkeit dieses neuen Konzepts sollte in Schulversuchen nach § 25 Schulgesetz (SchulG) NRW erprobt werden. Interessierte Kommunen konnten bis zum 31. 12. 2010 die Teilnahme an einem solchen Schulversuch beantragen. Das hatten zahlreiche Städte und Gemeinden getan. In einigen Nachbarkommunen regte sich jedoch die Befürchtung, dass die neuen Schulen den Bestand der eigenen Schulen gefährden könnten. Manche dieser Städte und Gemeinden beschritten den Rechtsweg. Der Streit um die Genehmigung zur Errichtung der Gemeinschaftsschule im sauerländischen Finnentrop gelangte bis zum OVG Münster (Az.: 19 B 478/11 bzw. 19 B 479/11). Die Richter erklärten die Genehmigung für rechtswidrig.

Kontroverse Rechtsfragen

Das OVG Münster hatte im Wesentlichen zwei Rechtsfragen zu klären. Die erste lautete: Ist § 25 SchulG überhaupt taugliche Rechtsgrundlage, um die Gemeinschaftsschule in NRW „auszuprobieren“? § 25 SchulG, so die Argumentation der Nachbarkommunen Finnentrops, ermögliche lediglich ergebnisoffene Schulversuche als atypische Ausnahmen. Das fragliche Vorhaben sei jedoch Teil einer systematischen, über punktuelle Projekte hinausgehenden Einführung einer neuen Schulform, was sich vor allem aus der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ergebe. Dort sei die flächendeckende Einführung der Gemeinschaftsschule vorgesehen. Ein derartiges Vorhaben unterliege jedoch dem Vorbehalt des Gesetzes; es erfordere eine entsprechende verfassungskonforme formelle Gesetzesgrundlage, die nicht vorhanden sei.


Weiter war zu klären, ob sich ein benachbarter Schulträger überhaupt gegen die Errichtung einer Gemeinschaftsschule im Rahmen eines Schulversuches wehren könne. Das hatte das VG Aachen in einem Parallelverfahren grundsätzlich verneint. Werde ein Schulversuch für die Sekundarstufe I genehmigt, erfordere es keine „Bedürfnisprüfung“ – also die Prüfung, ob nicht die vorhandenen Kapazitäten in Nachbarkommunen für eine angemessene Beschulung ausreichten.

Eine Genehmigung nach § 25 SchulG NRW könne benachbarte Schulträger somit gar nicht in ihren Rechten verletzen, jedenfalls soweit ein Schulversuch die Sekundarstufe I umfasse.

Die Entscheidung des OVG Münster

Das OVG Münster entschied, dass die Gemeinschaftsschule Finnentrop kein Schulversuch im Sinne des § 25 SchulG sei. Wesensmerkmal eines Schulversuchs sei, dass er der Erprobung von Reformmaßnahmen diene.

Deshalb müsse die Schulverwaltung einen Erprobungsbedarf darlegen, also eine Ungewissheit über die Eignung der Gemeinschaftsschule als einer neuen Schulform mit der längeres gemeinsames Lernen ermöglicht und angesichts des demografischen Wandels ein wohnortnahes Schulangebot gesichert werden solle.

Lege man jedoch den Vortrag des beklagten Schulministeriums zugrunde, sei die Eignung der Gemeinschaftsschule zur Erreichung dieser Reformziele nicht zweifelhaft, sondern stehe vielmehr fest. Das Ministerium habe zwar den Bedarf für Änderungen des gegliederten Schulsystems dargelegt, nicht aber, inwiefern diese Reformen zuvor noch durch einen Schulversuch erprobt werden müssten. Im Gegenteil: Im „Leitfaden“ zur Einführung der Gemeinschaftsschule heiße es etwa, diese Schulform sei „die Antwort“ auf die dort beschriebenen Probleme. Auch habe das Ministerium nicht erläutert, welcher spezifische Erprobungsbedarf in Nordrhein-Westfalen trotz der Erkenntnisse zu Gemeinschaftsschulen in anderen Bundesländern noch bestehe. Zur in den vorangegangenen Verfahren viel diskutierten Frage, ob § 25 SchulG NRW noch dem Wesentlichkeitsgrundsatz genüge, brauchte sich das Gericht mit dieser Argumentation gar nicht zu äußern.

Weiter stellten die Richter klar, dass Schulministerium und Schulträger bei ihren Entscheidungen die Interessen der benachbarten Schulträger zu berücksichtigen hätten. Auch im Rahmen eines Schulversuches gelte das schulrechtliche Rücksichtnahmegebot des § 80 Abs. 2 SchulG NRW (entsprechend). Nach dieser Vorschrift sind die Schulträger gehalten, in enger Abstimmung und gegenseitiger Rücksichtnahme auf ein regional ausgewogenes, differenziertes Angebot zu achten. Dabei sei das Rücksichtnahmegebot nicht nur im Falle der Gefährdung des Bestandes einer benachbarten Schule verletzt. Rücksichtslos könnten ebenso schulorganisatorische Maßnahmen mit nachteiligen Auswirkungen sein, denen keine rechtlich geschützten Interessen zugrunde lägen. Ein solches rechtlich geschütztes Interesse könne die Finnentroper Gemeinschaftsschule schon deshalb nicht vorweisen, weil sie zu Unrecht nach § 25 SchulG genehmigt worden sei und sich schon allein deshalb als rücksichtslos erweise.

Ausblick

Mit dem „Schulfrieden“ und der Einführung der Sekundarschule wird ein Streitpunkt des Verwaltungsgerichtsverfahrens mit dem berühmten Federstrich des Gesetzgebers gelöst: Die Sekundarschule wird gesetzlich verankert. Eines Rückgriffs auf die Versuchsklausel des § 25 SchulG bedarf es nicht mehr, um längeres gemeinsames Lernen einzuführen.

Ein anderes Problem bleibt jedoch bestehen: Wie ist die Reichweite des schulrechtlichen Rücksichtnahmegebots konkret zu verstehen? Und vor allem: Wie ist das Rücksichtnahmegebot in der Praxis umzusetzen? Im entschiedenen Fall hatte die Gemeinde Finnentrop ihr Möglichstes getan. Die benachbarten Kommunen waren angeschrieben worden, sich zur Neugründung zu äußern, der Schulentwicklungsplan war weiterentwickelt worden etc. Die Frage nach der Reichweite des Rücksichtnahmegebots interessiert nicht zuletzt vor folgendem Hintergrund: Was kann und muss eine Gemeinde mit verhältnismäßig kleiner Verwaltung tun, um dem schulgesetzlichen Rücksichtnahmegebot zu genügen? Bedeutet das Rücksichtnahmegebot, dass neue Ideen nur noch mit einer Heerschar von Schulentwicklungsplanern und Juristen umgesetzt werden können? Können nur noch große Städte mit entsprechender Verwaltungskraft neue Schulmodelle umsetzen? Das kann nicht richtig sein, zumal das demografische Problem gerade im ländlichen Bereich drückt und dort nach zukunftsfähigen Lösungen gesucht wird.

Das OVG Münster musste diese Fragen nicht beantworten, weil die Richter schon das Ausnutzen einer rechtswidrigen Genehmigung als rücksichtslos werteten. In einer früheren Entscheidung (Az. 19 B 484/09) verwiesen die Richter auf die „allgemeinen Grundsätze“ des insbesondere aus dem Baurecht bekannten Rücksichtnahmegebots. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründe, hänge wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab.

Auch das aktuelle schulpolitische Konsenspapier äußert sich wenig erhellend. Die Gründung einer Sekundarschule, so heißt es dort, sei möglich, wenn hierfür ein Bedürfnis bestehe. Sie werde „in Abstimmung mit ggf. betroffenen benachbarten kommunalen Schulträgern beschlossen“. Dabei sei der Verfahrensvorschlag des Städte- und Gemeindebundes NRW zur Findung eines regionalen Konsens zugrunde zu legen, der u. a. ein „Moderationsverfahren“ zwischen den beteiligten Kommunen und ein Letztentscheidungsrecht der jeweiligen Bezirksregierung vorsieht. Die Bezirksregierung soll bewerten, ob die von den Nachbarkommunen eingewandten Bedenken gegen die neue Sekundarschule „durchgreifen“.

Da auch das Letztentscheidungsrecht der Bezirksregierung justiziabel sein muss, Art. 19 Abs. 4 GG, wird Rechtsfrieden wohl erst dann einkehren, wenn die Rechtsprechung abschließend klärt, wie das schulrechtliche Rücksichtnahmegebot konkret auszulegen ist. Vorzugswürdig wäre es aber, wenn der Gesetzgeber selbst die Rahmenbedingungen entsprechender Verfahren vorgibt und auch den materiellen Aussagegehalt des Rücksichtnahmegebotes konkreter fasst. Die Empfehlungen der nordrhein-westfälischen Bildungskonferenz zum Thema „Schulstruktur in Zeiten demografischen Wandels“ und ein (zwischenzeitlich zurückgezogener) Gesetzentwurf der CDU-Landtagsfraktion gehen jedenfalls in diese Richtung.

Zum Stichwort „Rücksichtnahme auf nachbarliche Interessen“ sei schließlich noch Folgendes erwähnt: Im Rat der Stadt Attendorn, die das Verfahren gegen die Finnentroper Gemeinschaftsschule hauptsächlich mit dem Argument des Rückgangs der Schülerzahlen im Allgemeinen und der Bestandsgefährdung ihrer eigenen Schulen im Besonderen geführt hatte, wird mittlerweile darüber diskutiert, selbst eine weitere eigene Schule zu gründen.

 

Dr. Florian Hartmann

Rechtsanwalt, Kapellmann und Partner Rechtsanwälte, Düsseldorf
 

Dr. Kai Zentara

Referent für Schule, Kultur und Sport beim Landkreistag NRW, Düsseldorf
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