15.09.2011

Vergaberechtsreform 2009/2010

Die Praxis unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung

Vergaberechtsreform 2009/2010

Die Praxis unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung

Durch Fach- und Teillosvergabe sollen mittelständische Interessen bevorzugt berücksichtigt werden. | © Celeste-RF - Fotolia
Durch Fach- und Teillosvergabe sollen mittelständische Interessen bevorzugt berücksichtigt werden. | © Celeste-RF - Fotolia

Das am 24.04.2009 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts hat zahlreiche Änderungen in Bezug auf die Durchführung von Vergabeverfahren mit sich gebracht (vgl. hierzu Stemmer, in: Publicus 2010.2, Seite 12). Mit der Reform der Vergabevorschriften wurden vor allem der Regelungsumfang durch die sachliche Zusammenführung von Paragrafen gestrafft und eine einheitliche Aufbaustruktur geschaffen. Die Abschnitte 3 und 4 der VOB/A und VOL/A finden sich nun in der neuen Sektorenverordnung wieder.

Ziel des Gesetzes war es außerdem, die Verfahren transparenter und mittelstandsfreundlicher zu gestalten. Letztlich steuerte der Gesetzgeber der ausufernden Rechtsprechung des OLG Düsseldorf hinsichtlich der Ausschreibungspflicht bei Grundstücksveräußerungen mit Bauverpflichtungen entgegen.

Im Folgenden sollen ein kurzer Überblick über die Auswirkungen der wesentlichen Änderungen des Vergaberechts auf die Vergabepraxis gegeben und unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung die Herausforderungen beleuchtet werden, denen sich der öffentlichen Auftraggeber nunmehr stellen muss.


Fach-/Teillosvergabe oder Gesamtvergabe?

Die in § 97 Abs. 3 GWB verankerte Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers zur vornehmlichen Berücksichtigung mittelständischer Interessen durch Fach- und Teillostrennung kollidiert mit dem in § 97 Abs. 5 GWB festgeschriebenen Wirtschaftlichkeitsgrundsatz, wonach der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt wird. Das Gebot der sparsamen Verwendung von Steuergeldern erfordert daher eine einzelfallbezogene Interessenabwägung, die im Vergabevermerk genau zu dokumentieren ist. Bei der Interessenabwägung sind die Interessen mittelständischer Unternehmen am Erhalt des Zuschlags durch Fach- und Teillosvergabe dem Interesse des öffentlichen Auftraggebers an einer Gesamtvergabe aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen gegenüberzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass den Mittelstandsinteressen gesetzlich eine hervorgehobene Stellung eingeräumt wird.

Die Rechtsprechung hat bislang im Wesentlichen als technische Gründe für eine Gesamtvergabe anderenfalls entstehende erhebliche und nicht hinnehmbare Verzögerungen des Vorhabens, das Erfordernis der Koordination unterschiedlicher fachlicher Beratungsleistungen durch einen Gesamtberater (beispielsweise ÖPP-Projekte) oder eindeutig erkennbare und objektiv nachweisbare unverhältnismäßige Kostennachteile wegen nicht berücksichtigter Synergieeffekte anerkannt.

Voraussetzung ist allerdings, dass diese technischen Gründe einzelfallbezogen dargestellt werden. Ein wirtschaftlicher Grund kann bei einem sehr geringen Auftragswertverhältnis eines möglichen Fachloses (dort: 5 %) vorliegen. Kostenvorteile, die vorab nicht ohne Weiteres eindeutig nachweisbar seien, könnten dadurch dargestellt werden, dass die Lose zusammengefasst werden, allerdings verbunden mit dem Vorbehalt der losweisen Vergabe, wenn die im Rahmen der Wertung vorgesehene Wirtschaftlichkeitsbetrachtung dies gebiete.

Eingeschränkte Ausschreibungspflicht bei Grundstücksveräußerung mit Bauverpflichtung

Mit § 99 Abs. 3 und 6 GWB hat der Gesetzgeber auf die von der Rechtsprechung geforderte förmliche Ausschreibungspflicht bei der Veräußerung von Grundstücken mit einer Bauverpflichtung reagiert. Entgegen der bislang vorherrschenden Rechtsprechung, die die Anwendung der Bestimmungen der EU-weiten Ausschreibung unabhängig davon vorsah, ob der öffentliche Auftraggeber wirtschaftliche Interessen oder lediglich städtebauliche Ziele verfolgte, hängt eine Ausschreibungspflicht ab Erreichen des EU-Schwellenwertes nunmehr davon ab, ob die Leistung dem Auftraggeber wirtschaftlich zugutekommt. Dafür reicht die Ausübung städtebaulicher Regelzuständigkeiten nicht aus.

Gleichwohl verbleiben unter Zugrundelegung der aktuellen Rechtsprechung Ausschreibungspflichten, etwa bei der Veräußerung eines Grundstücks unter Wert oder der gleichzeitigen Erstellung von Parkplätzen im Rahmen der Gesamtmaßnahme, die der Allgemeinheit oder dem Auftraggeber dienen; in diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob eine im Vergleich geringe Leistung zu Gunsten des öffentlichen Auftraggebers bereits zu einer Ausschreibungspflicht führen kann oder ob insoweit auf die dem EU-Vergaberecht nicht fremde Schwerpunkttheorie abgestellt werden kann, wofür durchaus Gründe sprechen.

Einführung weiterer vergabefremder Kriterien

Die erweiterte Regelung des § 97 Abs. 4 GWB überfrachtet das Vergaberecht mit weiteren vergabefremden Kriterien zur Umsetzung allgemeiner politischer Ziele. Dies hat zur Folge, dass eine Ausrichtung des Wirtschaftlichkeitsziels an den Kriterien der Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit immer mehr in den Hintergrund gerückt wird.

Während die vorgesehene nachhaltige und innovative Beschaffung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung Bedeutung erlangt, führen sozialpolitische Kriterien – vom Mindestlohn bis zur Frauenförderung – zu höheren Kosten, welche sich nicht ohne Weiteres mit einer vergaberechtlichen Fiktion monetärer Vorteile begründen lassen.

VOB/A-Wertgrenzen und Direktkauf nach VOL/A

Die in § 3 VOB/A festgeschriebenen Wertgrenzen für Beschränkte Ausschreibungen mit gleichzeitiger Verpflichtung zur ex-ante-Transparenz (§ 19 Abs. 5 VOB/A) und Freihändige Vergaben lassen eine eher verhaltene Umsetzung erkennen, werden sie doch von jeweils höheren Werten in den Konjunkturprogrammerlassen sowie Landesgesetzen und -erlassen überlagert.

Die VOL/A enthält keine Wertgrenzen, sondern eröffnet die Möglichkeit eines sog. Direktkaufs (§ 3 Abs. 6), dem aber im Hinblick auf die gleichzeitige Notwendigkeit der Beachtung der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gleichwohl der Wettbewerbsgedanke innewohnt.

Eignungsnachweise der Bieter

Zum Nachweis der Eignung eines Bieters bestimmen § 6 Abs. 3 VOL/A sowie § 5 Abs. 2 VOF – anders als die VOB/A – den Vorrang von Eigenerklärungen und die Zulassung von Eignungsnachweisen sowohl durch Bundes- als auch Landespräqualifikationsverfahren (§ 6 Abs. 4 VOL/A). Demgegenüber werden in der VOB/A die Nachweismöglichkeiten gleichgestellt. Das Präqualifikationsverfahren nimmt allerdings ausschließlich auf das Bundespräqualifikationsverzeichnis Bezug. Im Unterschwellenbereich können die Länder aber auch andere Präqualifikationsverzeichnisse zulassen. Insbesondere von der Vorlage der Eigenerklärungen wird zwischenzeitlich Gebrauch gemacht, auch wenn im Hinblick auf die verlangten Angaben im Vergabehandbuch des Bundes (VHB Bund 2008 – Stand Mai 2010 – EFB 124) ein erheblicher Erklärungsumfang verlangt wird.

Sicherheitsleistung nur ab Auftragssumme von 250.000 €

Eine Benachteiligung der öffentlichen Auftraggeber durch die Auferlegung des Insolvenzrisikos des Auftragnehmers resultiert aus § 9 Abs. 7 VOB/A (Sicherheitsleistung). Unterhalb einer Auftragssumme von 250.000 € ist auf eine Sicherheitsleistung für die Vertragserfüllung und in der Regel auch für Mängelansprüche zu verzichten.

Ob in einem Fall, in dem der Auftraggeber gleichwohl eine Vertragserfüllungssicherheit fordert, ihm die Geltendmachung mit Hinweis auf die Vorschrift versagt werden würde oder – wie in der Entscheidung des BGH zur Nachteilsvoraussetzung im Zusammenhang mit der Geltendmachung einer Vertragsstrafe (Urt. v. 30. 03. 2006, VII ZR 44/05) – die fehlende Rechtsnormqualität sowie die fehlende Verletzung eines schutzwürdigen Vertrauens auf Seiten des Bieters/Auftragnehmers in den Vordergrund gestellt werden würde, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist dem Auftraggeber zu empfehlen, bei einer fehlenden Vertragserfüllungssicherheit im Zusammenhang mit Abschlagszahlungen insbesondere auf den Nachweis der erbrachten Leistungen zu achten. Im Zusammenhang mit der Sicherheit für Mängelansprüche sind die möglichen Abweichungen vom Regelfall („Soll-Vorschrift“), wie beispielsweise bei umfangreichen, technisch anspruchsvollen bzw. besonders mängelanfälligen Maßnahmen, zu dokumentieren.

Fehlende Erklärungen und Nachweise können nachgereicht werden

Neu gefasst worden sind auch die Regelungen über die Wertung der Angebote (§ 16 VOB/A und VOL/A): Das Fehlen geforderter Erklärungen und Nachweise sowie Preise führt nicht mehr zwangsläufig zum zwingenden Ausschluss des Angebots in der 1. Wertungsstufe. Allerdings sind die Regelungen in der VOB/A und der VOL/A sehr unterschiedlich ausgestaltet:

Fehlen geforderte Erklärungen oder Nachweise bei einer VOB/A-Ausschreibung, muss der Auftraggeber diese nachfordern. Ein Ausschluss des Angebots kommt erst dann in Betracht, wenn der Bieter der Aufforderung nicht fristgerecht nachkommt.

Bei einer VOL/A-Ausschreibung steht dem Auftraggeber dagegen ein Ermessen zu: Er kann die Erklärungen und Nachweise bis zum Ablauf einer zu bestimmenden Nachfrist nachfordern, muss dabei aber den Gleichbehandlungsgrundsatz sowohl im Zusammenhang mit dem aktuellen Vergabeverfahren als auch der Durchführung paralleler und nachfolgender Verfahren beachten. Werden die fehlenden Erklärungen oder Nachweise nicht nachgefordert, darf der Zuschlag nicht für das unvollständige Angebot erfolgen. Anders als in der VOB/A kann der Auftraggeber eine angemessene Vorlagefrist bestimmen; er kann sich dabei an der VOB/A-Frist (6 Kalendertage) orientieren.

Kein zwingender Angebotsausschluss bei fehlender Preisangabe für eine einzige Position

Ebenfalls unterschiedliche Wege gehen die beiden Vergabenormen bei der Behandlung von Angeboten mit fehlenden Preisen: Die VOB/A lässt eine Wertung nur zu, wenn in einer einzigen unwesentlichen Position ein Preis fehlt und durch die Außerachtlassung dieser Position der Wettbewerb und die Wertungsreihenfolge auch bei Berücksichtigung dieser Position mit dem höchsten Positionspreis nicht beeinträchtigt werden. Der Auftraggeber muss damit im Ergebnis prüfen, ob das Angebot mit dem fehlenden Positionspreis vom nachfolgenden Angebot preislich so weit entfernt liegt, dass auch unter Berücksichtigung des höchsten Wettbewerbspreises (nicht Spekulationspreises) bei der entsprechenden Position die Wettbewerbsreihenfolge auf keinen Fall beeinträchtigt werden kann. Es muss sich also um einen eindeutigen Preisunterschied handeln. Allerdings ist dies nur möglich beim Fehlen eines einzigen Einheitspreises. In den Fällen, in denen mehrere Einheitspreise mit einer insgesamt sehr niedrigen Positionssumme fehlen und der erhebliche Abstand zum nachfolgenden Angebot gewahrt ist, darf gerade keine Wertung des Angebots durch Rückgriff auf den höchsten Wettbewerbspreis jeder einzelnen nicht deklarierten Position erfolgen.

Diese auf Seiten der öffentlichen Auftraggeber nicht ohne Weiteres nachvollziehbare Situation löst die VOL/A anders: Dort wird die Nachforderung von Preisen nicht auf die Anzahl der fehlenden Einheits- beziehungsweise Positionspreise reduziert, sondern davon abhängig gemacht, ob es sich um unwesentliche Positionen handelt, deren Summe der Einzelpreise – im Vergleich zum nachfolgenden Angebot – den Wettbewerb und die Wertungsreihenfolge nicht beeinträchtigen.

 

Johannes-Ulrich Pöhlker

Referent beim Hessischen Städte- und Gemeindebund, Mühlheim am Main
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