30.10.2023

Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Untersagung einer Meinungsäußerung

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Untersagung einer Meinungsäußerung

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

Eine Tageszeitung veröffentlichte in seiner Onlineausgabe einen Artikel über eine sektenähnliche Gemeinschaft. Der Beitrag wurde aufgrund fehlender tatsächlicher Anknüpfungstatsachen vom zuständigen Oberlandesgericht untersagt. Die Herausgeberin der Tageszeitung wandte sich gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts und beklagte eine Verletzung ihrer Meinungs- und Pressefreiheit.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin ist Herausgeberin einer Tageszeitung, in deren Onlineausgabe sie am 04.09.2020 einen Beitrag mit dem Titel „Aussteiger packen aus: So geht es in der Guru–Gemeinschaft zu“ veröffentlichte. Der Bericht beleuchtet kritisch inhaltliche Ausrichtung, Strukturen und Hierarchien innerhalb einer aus Sicht ehemaliger Mitglieder sektenähnlichen Gemeinschaft, der der Antragsteller des Ausgangsverfahrens vorstehe. In dem Beitrag heißt es unter Bezugnahme auf die Aussage einer ehemaligen „Schülerin“: „Den Staat lehne [der Antragsteller] (…) – der sich seine Seminargebühren auch in bar bezahlen lässt – ab (…)“. Anders als die Ausgangsinstanz untersagte das Oberlandesgericht die Verbreitung der angegriffenen Äußerung. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts und rügt eine Verletzung ihrer Meinungs- und Pressefreiheit.

GG – Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 2, Art. 5 Abs. 2


BGB – § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 Satz 2

EMRK – Art. 10 Abs. 1

  1. Trotz des grundsätzlichen Vorrangs freier Meinungsäußerung ist eine Aussage unzulässig, wenn kein „Mindestbestand an tatsächlichen Anknüpfungstatsachen“ festzustellen ist.
  2. Dem geforderten „Mindestmaß an tatsächlichen Anknüpfungstatsachen“ kommt unterschiedliches Gewicht zu, je nachdem, ob die Beschwerdeführerin bloß die Einschätzung der Informantin wiedergibt oder ob sie sich eine Äußerung zu eigen macht.

Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 09.11.2022 – 1 BvR 523/21

Aus den Gründen

Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten auf Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG.

1. Hinsichtlich des Inhalts der Berichterstattung ergeben sich Umfang und Grenzen des grundrechtlichen Schutzes aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit, wobei die Aufgabe der Presse, die Öffentlichkeit über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu informieren, eine Verstärkung des durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Schutzes begründen kann. In Fällen der vorliegenden Art ist eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungs- und Pressefreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits vorzunehmen. Sofern eine Äußerung, in der Tatsachen und Meinungen sich vermengen, durch die Elemente des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sind, wird sie als Meinung von dem Grundrecht geschützt. Im Rahmen der Abwägung ist dann die Richtigkeit ihrer tatsächlichen Bestandteile von maßgeblicher Bedeutung.

2. In Fällen der vorliegenden Art ist eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungs- und Pressefreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits vorzunehmen. Im Zuge der Abwägung sind die grundrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen. Maßgebend sind dabei eine Reihe von Prüfungsgesichtspunkten und Vorzugsregeln, die in der Rechtsprechung entwickelt worden sind, um eine größtmögliche Wahrung der beiderseitigen grundrechtlichen Positionen und Interessen bei der Beurteilung und Entscheidung über Fälle von Meinungsäußerungen zu ermöglichen. Das Ergebnis dieser Abwägung lässt sich wegen der Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls nicht generell und abstrakt vorausbestimmen.

Inhalt der Äußerung maßgebend

a) Weichenstellend für die Prüfung einer Grundrechtsverletzung ist die Erfassung des Inhalts der beanstandeten Äußerung, insbesondere die Klärung, in welcher Hinsicht sie ihrem objektiven Sinn nach das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen beeinträchtigt. Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Maßgeblich ist daher weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren. Mehrdeutige Äußerungen sind auszuscheiden.

Äußerung als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik

b) Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik im verfassungsrechtlichen Sinne einstufen mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind. Während Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit geprägt werden und der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich sind, handelt es sich bei einer Meinung um eine Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist. In Fällen, in denen beide Äußerungsformen miteinander verbunden werden und erst gemeinsam den Sinn einer Äußerung ausmachen, ist der Begriff der Meinung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes weit zu verstehen.

Wahrheitsgehalt

c) Bei Tatsachenbehauptungen hängt die Abwägung vom Wahrheitsgehalt ab. Wahre Aussagen müssen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind, unwahre dagegen nicht. Für die Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen gibt es in der Regel keinen rechtfertigenden Grund.

Äußernde Person

d) Von Bedeutung kann innerhalb der Abwägung auch sein, ob Äußerungen vom Äußernden selbst getätigt werden oder er Äußerungen Dritter verbreitet. So darf bei überwiegendem Informationsinteresse auch über eine unzweifelhaft rechtswidrige Äußerung eines Dritten berichtet werden, sofern sich der Verbreiter die berichtete Äußerung nicht zu eigen gemacht hat. Ein solches Zueigenmachen liegt insbesondere vor, wenn die Äußerung eines Dritten in den eigenen Gedankengang so eingefügt wird, dass dadurch die eigene Aussage unterstrichen werden soll. Auch bei der Bemessung etwaiger im Rahmen der Abwägung insoweit maßgeblicher Sorgfalts- oder Distanzierungspflichten haben die Fachgerichte allerdings die Ausstrahlungswirkungen des Grundrechts der Meinungs- und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG zu berücksichtigen und hierbei ferner, dass die Verbürgungen des Art. 10 Abs. 1 EMRK in ihrer Auslegung, die sie durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfahren haben, einer generellen Obliegenheit der Presse, sich von dem Inhalt einer wiedergegebenen Äußerung zu distanzieren, möglicherweise entgegenstehen.

[…]

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie im Neuen Polizeiarchiv 08/2023, Lz. 102.

 

Claudia Tiller

Regierungsdirektorin, Erfurt
n/a