15.10.2010

Quo vadis Eingliederungshilfe?

Verschlungene Wege zur drängenden Reform

Quo vadis Eingliederungshilfe?

Verschlungene Wege zur drängenden Reform

Wo findet sich der Königsweg? | © LVI - Fotolia
Wo findet sich der Königsweg? | © LVI - Fotolia

Viele Wege führen nach Berlin; nicht selten lange und beschwerliche: Wandeln auf Irr-, Um- und Seitenwegen verzögert die parlamentarische Ankunft, Uneinigkeit hindert das legislative Vorankommen und finanzpolitische Brocken versperren die Richtung.

Dies gilt derzeit besonders für sozialpolitische Vorhaben im Hinblick auf behinderte Menschen. Bereits 2005 hatte die damalige große Koalition verabredet, die sogenannte Eingliederungshilfe für behinderte Menschen als wichtigste Sozialleistung weiter zu entwickeln. Diese ist im Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) geregelt, dem Leistungsgesetz für Sozialhilfe. Das SGB XII umfasst neben der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII weitere Leistungen in „besonderen Lebenslagen“ (etwa Pflegebedürftigkeit und Krankheit) und existenzsichernde Hilfen zum Lebensunterhalt vor allem für Essen, Kleidung oder Unterkunft an Erwerbsunfähige und an ältere Menschen.

Die Eingliederungshilfe sichert die Maßnahmen, die wesentlich körperlich, geistig oder seelisch behinderten Menschen ermöglichen, am Leben in der Gesellschaft (Arbeit, Schule, Gemeinschaft mit nicht behinderten Menschen usw.) teilzuhaben: Beispielsweise durch den Besuch eines integrativen Kindergartens, die Übernahme von Kosten eines Schulassistenten oder Gebärdendolmetschers, die Gewährung einer Kfz-Hilfe, Unterstützungen zum selbständigen Wohnen, Finanzierung der Unterbringung in einem Wohnheim oder des Besuches einer Werkstatt für behinderte Menschen.


Der Kostenpegel steigt

Die Kosten zur Befriedigung dieser Sozialhilfeleistungen wachsen stetig, auch weil die Betroffenen im Schnitt immer mehr und älter werden. Die Aufwendungen müssen allein von den Kommunen geschultert werden. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes empfingen in 2008 insgesamt 713.000 behinderte Menschen Eingliederungshilfe mit einem Leistungsvolumen von 11,2 Milliarden Euro (Gesamtkosten SGB XII: 19,8 Milliarden Euro). Für die Zukunft sind nach seriösen Prognosen der zuständigen Sozialhilfeträger weitere Steigerungen zu erwarten. Die ambulanten Wohnhilfen, durch deren sinnvollen Ausbau die Zuwächse im stationären Bereich erheblich gedämpft werden konnten, sollen bis 2014 um 5 bis 7 % jährlich zunehmen. Der Zulauf zu Tagesstätten und Werkstätten für behinderte Menschen wird sich voraussichtlich bis 2014 um 9 % erhöhen.

Rufe nach Reformen

Kein Wunder, dass aus den Kommunen schon lange die Rufe nach einer gründlichen Reform der Eingliederungshilfe und einer spürbaren Beteiligung des Bundes an den Kosten erschallen. Der Bund ist offen für eine Reform, lehnt es aber gebetsmühlenartig ab, die Last mit zu tragen. Zugleich beteuern alle Akteure mit Rücksicht auf die den schleppenden Reformprozess genau beäugenden Wohlfahrts- und Behindertenverbände, dass Leistungen eingeschränkt werden sollen. Schließlich ächzen die Kommunen unter der finanziellen Bürde. Gefragt ist also mal wieder die legislative Quadratur des Kreises. Der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP erwähnt die Reform der Eingliederungshilfe mit keinem Wort. Es wird lediglich die Absicht bekundet, einen Aktionsplan zur Umsetzung der seit März 2009 als innerstaatliches Recht gültigen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) weiter zu entwickeln. Doch der Druckpegel steigt von unten: Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder fordern, Vorschläge der Kommunen und Verbände folgend, eine angemessene Kostenbeteiligung des Bundes und die baldige Verabschiedung einer Reformnovelle. Stich- und nicht selten auch nur Schlagworte sind u. a.: Aufhebung der Grenze von stationärer und ambulanter Hilfe, Persönliches Budget, Personenzentrierung und sog. Teilhabemanagement, d. h. verbesserte Bedarfsermittlung unter Beteiligung des behinderten Menschen (etwa in sogenannte Hilfeplankonferenzen).

Eingliederungshilfe als Sozialhilfe: Noch zeitgemäß?

Diese Änderungen machen die Eingliederungshilfe vielleicht bedarfsgerechter und zugleich effizienter – die Kostenlawine wird sich so kaum stoppen lassen. Entsprechende gesetzliche Änderungen sind nur Makulatur, solange der Kardinalfehler im System nicht beseitigt wird: Der normative Mantel des SGB XII passt für die Eingliederungshilfe nicht mehr. Sie muss, um im Bild zu bleiben, in Form eines originären Leistungsgesetzes neu eingekleidet werden. Die Grundprinzipien der Sozialhilfe wie Subsidiarität, Bedarfsdeckung, Individualisierung sowie Gegenwärtigkeit werden durch gesetzliche Vorgaben und die Rechtsprechung bei der Eingliederungshilfe erheblich relativiert.

Insbesondere der Wesenskern der Sozialhilfe, nur für den einzustehen, der sich oder mit Hilfe anderer, auch enger Angehöriger, nicht selbst helfen kann, ist kaum noch erkennbar. Bei vielen Hilfen wird keine oder nur eine geringe Eigenbeteiligung verlangt. Die Funktion der Soziahilfe als nachrangiges „soziales Auffangnetz“ wird von den anderen, an sich vorrangigen Sozialleistungsträgern wie Krankenkasse, Rentenversicherung und Arbeitsagentur oft nahezu schamlos ausgenutzt. Das Bundessozialgericht verschärft diese Tendenz noch, beispielsweise wenn es das Mittagessen in einer Werkstatt für behinderte Menschen nicht dem Lebensunterhalt, sondern der fachlichen Maßnahme zuordnet oder medizinische Therapien oder Hilfsmittel der Sozialhilfe überstülpt, obgleich die Krankenkasse die Kosten nach dem SGB V nicht übernehmen muss.

Suche nach dem Königsweg

Für eine fundierte Reform der Eingliederungshilfe ist die Beseitigung dieser sogenannten Schnittstellen essentiell. Die Reform muss ferner kompatibel zu der beabsichtigten Neudefinition der Pflegebedürftigkeit im SGB XI gestaltet werden. Wird über den körperbezogenen Verrichtungsbegriff (Waschen, Füttern etc.) hinaus mehr auch die persönliche und soziale Betreuung einbezogen, drohen die Grenzen zu der auf soziale Teilhabe zielenden Eingliederungshilfe zu verwischen. Nur der große Wurf eines eigenen Leistungsgesetzes mit Bundesbeteiligung würde einen Weg aus dem beschriebenen Dilemma weisen. Dieses müsste stufenweise Pauschalen, ausgerichtet nach dem Grad des Teilhabedefizits, vorsehen (strukturell ähnlich wie bei den Pflegestufen). Darüber hinausgehende individuelle Bedarfe könnten – soweit nicht durch die anderen Sozialleistungsträger gedeckt – durch Mehrbedarfsregelungen und Härteklauseln aufgefangen werden. Auch wenn es im Grundsatz richtig bleibt, die Kosten des Schicksals Behinderung solidarisch auf die Gemeinschaft zu verteilen, darf angesichts knapper Kassen eine stärkere Heranziehung höherer Einkommen oder Vermögen (auch der Eltern) oder des Kindergeldes nicht tabuisiert werden. Behinderte Menschen müssen die erforderlichen Leistungen erhalten, um im Sinne des Art. 1 GG menschenwürdig wie nicht behinderte Menschen selbst bestimmt am sozialen Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können. Gemäß Art. 3 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Ist die Menschenwürde gewahrt, sind aber ungleiche Lebensverhältnisse nicht verpflichtend zu kompensieren. Die beiden genannten Grundgesetzbestimmungen dienen neben der einfach gesetzlichen UN-BRK als Navigationssystem für eine wegweisende Reform der Eingliederungshilfe: Machen wir den Weg frei.

 

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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