15.10.2010

Landesrecht bricht Bundesrecht?

Diätenbesteuerung: Ein uralter Paragraf stiftet Verwirrung

Landesrecht bricht Bundesrecht?

Diätenbesteuerung: Ein uralter Paragraf stiftet Verwirrung

Bundes- und Landesrecht greifen ineinander. | © Oli_ok - Fotolia
Bundes- und Landesrecht greifen ineinander. | © Oli_ok - Fotolia

An einem schon etwas älteren Beispiel kann man erahnen, wie dünn das Eis manchmal ist, auf dem mit der föderalen Kompetenzordnung gespielt wird; vor allem, wenn es um Geld geht. Betrachten wir insbesondere den Geldbeutel des Gesetzgebers selbst. § 46 Abs. 5 des Abgeordnetengesetzes von Baden-Württemberg, also gewissermaßen dessen Schlusssatz, lautet: „§ 22 Ziff. 4 Einkommensteuergesetz findet erstmals auf Leistungen Anwendung, die auf Grund dieses Gesetzes gezahlt werden.“ Dieser Satz liegt etwas verloren herum im umgebenden Gestein aus Landesrecht. Wie ein Findling oder ein Stein des Anstoßes, denn augenscheinlich handelt er von Einkommensteuerrecht. Es geht um die Besteuerung von Diäten. Diese werden aber weder im Abgeordnetengesetz des Landes noch im EStG so genannt.

Die Landtagsabgeordneten von Baden-Württemberg erhalten nämlich nach § 5 AbgG eine „Entschädigung“ und nach § 6 eine „Aufwandsentschädigung“. In den Abgeordnetengesetzen der anderen Bundesländer ist dies materiell vergleichbar geregelt. § 22 Ziff. 4 EStG bestimmt nun, dass zu den der Einkommensteuer unterliegenden „sonstigen Einkünften“ im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 7 gehören: „Entschädigungen, Amtszulagen, Zuschüsse zu Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen, Übergangsgelder, Überbrückungsgelder, Sterbegelder, Versorgungsabfindungen, Versorgungsbezüge, die auf Grund des Abgeordnetengesetzes oder des Europaabgeordnetengesetzes, sowie vergleichbare Bezüge, die auf Grund der entsprechenden Gesetze der Länder gezahlt werden.“ Hingegen bestimmt § 3 Ziff. 12 EStG, dass „Bezüge, die (…) als Aufwandsentschädigung festgesetzt sind und als Aufwandsentschädigung im Haushaltsplan ausgewiesen werden“ steuerfrei sind. Es kommt also für die Einkommensteuer darauf an, bei den sogenannten „Diäten“ zwischen „Entschädigung“ (steuerpflichtig) und „Aufwandsentschädigung“ (steuerfrei) zu differenzieren. Vor 1977 gab es nur die Steuerfreistellung aus § 3 EStG.

Die Steuerpflicht für Abgeordnetenbezüge gemäß § 22 Ziff. 4 stammt aus Artikel 2 des AbgG vom 18. 02. 1977 (BGBl. I S. 297) und entstand nicht ganz freiwillig. Das Bundesverfassungsgericht hatte nämlich mit der BVerfGE 40, 296 vom 05. 11. 1975 (2 BvR 193/74) nachgeholfen zu erkennen, dass es angemessen wäre, wenn die Volksvertreter auch ihre eigenen Bezüge prinzipiell der Einkommensteuer unterwürfen. Damals ging es konkret um saarländische Abgeordnete, aber das BVerfG ließ keinen Zweifel daran, dass die Entscheidung länderübergreifend wirken solle. Es formulierte u. a. den Leitsatz: „Die Alimentation der Abgeordneten mit dem Charakter von Einkommen muss nach Grundsätzen, die für alle gleich sind, der Besteuerung unterworfen werden. Nur die Entschädigung für wirklich entstandenen, sachlich angemessenen, mit dem Mandat verbundenen besonderen Aufwand ist daneben noch echte Aufwandsentschädigung, die auch künftig steuerfrei bleiben kann.“ Das BVerfg fuhr unter Punkt IV fort: „Der Landtag hat (…) die Neuregelung in Angriff zu nehmen, weil (…) nicht vertretbar wäre, dass die festgestellten Verfassungswidrigkeiten über die laufende Legislaturperiode hinaus andauern. Welche Konsequenzen aus dieser Entscheidung für die übrigen Parlamente zu ziehen sind, werden diese zu entscheiden haben.“


Bereits hier erfolgte eine eigentümliche Vermischung zwischen Landes-Abgeordnetenrecht als Landesrecht einerseits und Einkommensteuerrecht als Bundesmaterie andererseits, was wohl der konkreten Fallkonstellation zuzuschreiben war. Das Verfassungsgericht erklärte mit § 3 Ziff. 12 EStG inhaltsgleiche Landesvorschriften (umfassende Steuerfreiheit) wegen Verletzung des Gleichheitssatzes für verfassungswidrig und hatte daher als Adressaten vor allem den Landesgesetzgeber vor Augen. Der Bundesgesetzgeber fühlte sich dennoch sehr zu Recht in erster Linie angesprochen und erarbeitete den oben zitierten § 22 Ziff. 4 EStG, um die Gleichmäßigkeit der Besteuerung herzustellen. Damit wäre die monierte Verfassungwidrigkeit aus der Welt gewesen, spätestens mit der jeweils nachfolgenden neuen Legislaturperiode in Bund und Ländern.

Es bleiben zwei Fragen:

1) Kann man die Diätenbesteuerung als „Abgeordnetenrecht“ anstatt als „Steuerrecht“ einstufen und damit den jeweiligen Landtag selbst bestimmen lassen, ab wann das nunmehr verfassungskonforme Einkommensteuerrecht auf seine Abgeordneten auch angewendet wird? –
Und falls nicht:

2) Wie kommt es ansonsten dazu, dass § 46 Ziff. 5 AbgG BaWü sich herausnimmt, als einfaches Landesgesetz über die Anwendung von Bundesrecht zu bestimmen? – Parallelnormen gab es übrigens in vielen Alt-Bundesländern: vgl. Gesetze über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtags in Bayern § 43, Berlin § 41 Abs. 5, Bremen § 56 Abs. 5, Hessen § 41 Abs. 4 i. d. F. v. 05. 11. 1985, Niedersachsen § 38, Nordrhein-Westfalen § 46 Abs. 6 i. d. F. v. 24. 04.
1979, Rheinland-Pfalz § 50 Abs. 5, Saarland § 45 Abs. 5 und in Schleswig-Holstein § 57 Abs. 6 i. d. F. v. 11. 08. 1978.
– An die Tür klopft zaghaft der Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“.

Zur ersten Frage sagte das Verfassungsgericht in damaliger Besetzung offenbar ‚ja‘ („werden diese zu entscheiden haben.“). Nur nicht im Sondervotum des Richters Vizepräsident Seuffert. Dieser distanzierte sich klar und schrieb:

„Zur Frage der Steuerpflicht kann nicht offenbleiben (C IV 5a der Gründe), ob der Landesgesetzgeber, etwa als Abgeordnetenrecht, bestimmen kann, dass gewisse Einkünfte der Abgeordneten steuerfrei sein sollen. Damit wäre dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit gegeben, den Abgeordneten als solchen Steuerprivilegien zuzusprechen, was nach C IV 5b der Gründe mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Nicht nur eine einkommensteuerrechtliche, sondern auch jede andere Regelung, die solche Privilegien einräumt, wäre verfassungswidrig (BVerfGE 40, 296 [350], BVerfGE 40, 296 [351]). Dass dem Landesgesetzgeber die Zuständigkeit zu Bestimmungen über die Einkommensteuerpflicht fehlt, steht außer Zweifel, da der Bund hier seine Zuständigkeit voll in Anspruch genommen hat (Art. 105 Abs. 2, 72 Abs. 1 GG). Die Bedingungen für die Steuerfreiheit von Abgeordnetenbezügen sind bundesrechtlich festgelegt (§ 3 Nr. 12 Satz 1 EStG). Der Landesgesetzgeber kann auf die Steuerpflicht dieser Bezüge nur einwirken und kann inhaltlich mit Bundesrecht übereinstimmendes Recht nur setzen, indem er diese Bedingungen erfüllt, nämlich die Bezüge als Aufwandsentschädigung in einem Landesgesetz festsetzt und im Haushaltsplan ausweist.“

Diese Argumentation ist schlüssig und dem Sondervotum ist zu folgen. Dafür sprechen auch andere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, z.B. BVerfGE 36, 342 vom 29. 01. 1974 (2 BvN 1/69). Darin wird klargestellt, dass Art. 31 GG nur zur Anwendung kommen kann, wenn überhaupt eine Kollision von Normen denkbar ist. Die grundgesetzlichen Kompetenzregeln jedoch gehen vor und schließen in vielen Fällen Normkollisionen aus. Wenn also „eine landesrechtliche Norm an einer bundesverfassungsrechtlichen Norm scheitert, weil ihr (der landesrechtlichen Norm) die zureichende Grundlage für den Erlass fehlt“, sei sie stets nichtig, „auch wenn sie ‚bei nachträglichem Vergleich‘ mit der bundesrechtlichen Vorschrift inhaltlich übereinstimmt.“

So lag der Fall hier. Der Bundesgesetzgeber hatte umfassend von seiner einkommensteuerlichen Regelungskompetenz aus dem GG Gebrauch gemacht. Für Landesrecht war weder daneben noch „ausfüllend“ Raum. Damit ist die erste Frage zu verneinen.

Zur zweiten Frage kann man sich im EStG auf die Suche nach einer „Öffnungsklausel“ machen. Der Bundesgesetzgeber hat die Frage, ab wann die Landesabgeordneten auch Steuern zahlen wollen, an die Landesparlamente delegiert. Leicht aufzufinden ist diese Öffnungsklausel allerdings nicht. Beim Inkrafttreten des AbgG von 1977, welches die EStG-Regelung mitbrachte, steht keine derartige Ausnahme. Aber das Gesetz fügte dem berüchtigten § 52 EStG (Anwendungsvorschriften) einen Absatz 19a hinzu. Dieser regelte damals die erstmalige Anwendung des § 22 Ziff. 4 EStG für die Bundestagsabgeordneten und bestimmte sodann: „Für Leistungen aufgrund entsprechender Gesetze der Länder wird der Zeitpunkt der Anwendung durch Landesgesetz bestimmt.“ Mit der Neubekanntmachung des EStG als „EStG 1977“ (BGBl. I 1977 S. 2365) wurde dieser Absatz dann zu § 52 Abs. 22 EStG umnummeriert. In der aktuellen Fassung des EStG ist die Regelung nicht mehr enthalten.

Alles in Ordnung, könnte man meinen. Unter Beachtung der oben genannten Argumente zur Kompetenzordnung des GG allerdings stellt sich die Frage, ob nicht gerade diese Öffnungsklausel ihrerseits wieder verfassungswidrig war. Kann denn der Bundesgesetzgeber wirksam auf seine Zuständigkeit zur – bundeseinheitlichen und Gleichheitssatz-konformen – Regelung des Einkommensteuerrechts zugunsten der Länder in einem einfachen Gesetz verzichten? Benötigt man nicht zur Änderung der verfassungsrechtlichen Kompetenzvorschriften eine verfassungsändernde Mehrheit? Der Verzicht wirkte sich ja nicht nur auf den Bund aus, sondern er verlängerte die Fortdauer eines verfassungswidrigen Zustandes.

Was wären die Konsequenzen? – Falls die Öffnungsklausel verfassungswidrig war, waren die Länder unzuständig, die Anwendung der Steuerpflicht von Landes-Diäten zu regeln. Dann war die Vorschrift des § 46 Abs. 5 AbgG BaWü ultra vires erlassen und die Diäten damit weiterhin in verfassungswidriger Weise steuerfrei. Der Bundesgesetzgeber seinerseits hatte sich dem Wortlaut nach eindeutig enthalten, die Steuerpflicht von Landesdiäten anzuordnen. Dies war eventuell nicht rechtens, aber das wäre nicht ausreichend gewesen als Rechtsgrundlage für eine Steuerpflicht, nur eventuell Grund für eine erneute verfassungsgerichtliche Überprüfung. Wenn man so einer – zugegebenermaßen sehr strengen – Argumentation folgte, wären die Landtagsdiäten bis heute noch steuerfrei. Und das kann ja niemand wollen.

Insofern ist es dem Rechtsfrieden zuträglich, dass die ursprüngliche Öffnungsklausel des § 52 Abs. 19a EStG inzwischen ein wenig verschüttet ist. Man lese einfach nur den § 22 Ziff. 4 EStG und man ignoriere den Schlusssatz des Abgeordnetengesetzes BaWü. Damit wären die Zweifel, die sich durch zu genaues Hinschauen ergeben können, behoben.

 

Dr. Alexander Konzelmann

Leiter der Boorberg Rechtsdatenbanken RDB, Stuttgart
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