Müssen Richter das Klima retten?
Klimaklagen auf dem Prüfstand
Müssen Richter das Klima retten?
Klimaklagen auf dem Prüfstand
Sogenannte Klimaklagen treten dieser Tage weltweit vermehrt auf. Die Klagenden wollen damit erreichen, dass Wirtschaftsunternehmen die Verantwortung für klimaschädliches Verhalten tragen. Im nachfolgenden Beitrag wird Licht auf das Vorgehen bei derlei Gerichtsprozessen geworfen und eine kritische Bilanz gezogen.
I. Weltweit unterwegs: Klimaklagen
1. Das internationale Geschehen
Weltweit werden derzeit die Gerichte angerufen mit dem Ziel, Unternehmen für ihr klimaschädliches Verhalten verantwortlich zu machen oder Staaten zu strengeren Klimaschutzmaßnahmen zu verpflichten. Wir sprechen von Klimaklagen, und man will wissen, die Idee dazu sei in den USA geboren.1Siehe Junker/Jürgens, Klima RZ 2023, 7. Dort werden auch in großer Zahl solche Klagen gegen Unternehmen und die sie finanzierenden Großbanken erhoben,2Ennöckl, RdU 2022, 1; Fellenberg, NVwZ 2022, 913; Glaser, EuRUP 2022, 239; Saiger, Nationale Gerichte im Klimaschutzvölkerrecht, 2022; Schirmer, NJW 2023, 113; Thönissen, NJW 2023, 945. man schätzt etwa drei Viertel der 2000 Klimaklagen weltweit. Gerichte des europäischen Rechtsraums sind ebenso mit Klimaklagen befasst wie auch die Gerichtsbarkeit in unseren Nachbarländern Österreich und Schweiz. Die meisten Klagen scheitern vorerst. Dies gilt auch für die prominent gewordene so genannte Klimaklage der Schweizer „Klimasenior:innen“, einem Verein mit etwa 2000 Mitgliedern,
Durchschnittsalter zwischen 73 und 74 Jahren. Die Klage wird damit begründet, dass vor allem ältere Menschen von den Folgen des Klimawandels bedroht seien; die zu erwartenden Hitzewellen würden zu deren erhöhter Sterblichkeit führen. Sie haben sich jetzt – unverdrossen und unverändert rüstig – an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gewandt.3SZ Nr. 74 v. 29.03.2023, S. 7.
Die Klage richtet sich gegen die Schweiz. Sie ist eine von derzeit drei anhängigen Klimaklagen beim EGMR. Es gibt aber auch erfolgreiche Klagen. So hat das Bezirksgericht Den Haag den Ölkonzern Royal Dutch Shell verurteilt, bis zum 31. Dezember 2030 seine globalen CO2-Emissionen um 45 % gegenüber 2019 zu senken. Geklagt hatten auf deliktsrechtlicher Grundlage sieben NGO und mehr als 17 000 Individualkläger.4Rechtsbank Den Haag, U.v. 26.05.2021 – C-09/571932/HA 2 A 19-379; BeckRS 2021, 15559.
2. Klageaktivitäten in Deutschland
a) Müssen auch deutsche Richter zur Rettung von Umwelt und Klima beitragen? Im Weltvergleich fehlt es dazu an rettungsfähigen Richtern nicht. Die Richterdichtemessung will wissen, dass es nur in Slowenien und Ägypten mehr Richter pro Einwohner gibt als in Deutschland. Auch in Deutschland sind Klimaschutzklagen unterwegs. Man sieht sich für diese Art von Klagen durch den Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 20215BVerfG, B.v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18 u. a.; BVerfGE 157, 30. ermutigt. Das Verfassungsgericht hat bekanntlich Art. 20a GG aus der Staatszielbestimmungen eigentlich zugedachten normativen Armut befreit. Eingefügt wurde der Artikel 1994 in das Grundgesetz, und der verfassungsändernde Gesetzgeber hatte ihn bewusst so unbestimmt gefasst, dass die Politik vor ihm und vor der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sich nicht zu fürchten brauchte. Man hat sich offenbar getäuscht.
Richten die Klimaschutzklagen sich gegen Unternehmen, so ist es Sache der Zivilgerichte, über sie zu entscheiden. Spektakulär ist die Klage des peruanischen Bergbauern Saúl Luciano Lliuya gegen RWE, die derzeit (noch) beim OLG Hamm anhängig ist.6OLG Hamm, Beweisbeschluss v. 30.11.2017 – 5 U 15/17. Das LG Essen hatte die Anträge noch als unzulässig zurückgewiesen (U.v. 15.12.2016 – 2 O 285/15 – NVwZ 2017, 734). Der Landwirt – wohnhaft in der Stadt Huaraz in Peru am Fuße der Anden – sorgt sich wegen einer drohenden Gletscherflut, und macht dafür RWE (mit)verantwortlich, weil das Unternehmen zu dieser Gefahr beitrage; dessen Anteil an den weltweiten Treibhausgasemissionen betrage 0,47 %. Das OLG Hamm hält diese Klage offenbar für schlüssig. Jedenfalls hat sich der Senat mittlerweile auf der Grundlage eines Beweisbeschlusses an Ort und Stelle in Peru einen höchstpersönlichen Eindruck verschafft.
Von solchen Reisezielen der Augenscheinnahme können die Baurechtskammern und Baurechtssenate der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit nur träumen. Klagen sind auch erhoben gegen deutsche Autohersteller (VW, BMW, Mercedes Benz), sie zielen auf Beendigung der Produktion sogenannter Verbrenner, sind aber jedenfalls erstinstanzlich inzwischen abgewiesen worden.7Siehe FAZ Nr. 9 v. 11.01.2023, S. 16; LG Stuttgart, U.v. 13.09.2022 – 17 O 789/21 – NVwZ 2022, 1663. Dazu Thönissen, NJW 2023, 945.
b) Auch die deutschen Verwaltungsgerichte sehen sich mit Klimaklagen konfrontiert. Bereits im Oktober 2019 wurde eine Klage deutscher Landwirtsfamilien auf Einhaltung des Klimaziels 2020 vom VG Berlin mangels Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts als unzulässig abgewiesen.8VG Berlin, U.v. 31.10.2019 – 10 K 412/18 – NVwZ 2020, 1289. Das Gericht stellt klar: Regierungsprogramme auf der Grundlage des Klimaschutzgesetzes sind keine rechtsverbindlichen Regelungen mit Außenwirkung.
Die Klägerin (Greenpeace e.V.) sei im Übrigen – so das Gericht – nicht nach § 3 Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmRG) als Umweltverband anerkannt. Auch eine Klage beim VG Aachen – auf Beendigung der Braunkohlegewinnung im Bereich Garzweiler II gerichtet – war erfolglos: Die bundes- und landesrechtliche Grundentscheidung zugunsten einer Versorgung des Energie marktes mit Braunkohle sei unter rechtlichen Gesichtspunkten – auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des BVerfG zum Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021 – nicht zu beanstanden.9VG Aachen, B.v. 07.10.2021 – 6 L 418/21 – juris Rn. 74 ff. Das OVG NW hat diese Entscheidung bestätigt.10Siehe OVG NW, B.v. 28.03.2022 – 21 B 1675/21 – BeckRS 2022, 6396.
Die Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen den Freistaat Bayern vor dem BayVGH wurde wegen Zweifeln des Senats an der Klagebefugnis inzwischen zurückgenommen.11Az.: 22 A 21, 40024; dazu SZ Nr. 50 v. 01.03.2023, S. 25. Immerhin war die Klage eines Umweltverbandes beim VGH BW erfolgreich. Das Gericht war der Auffassung, der Kläger habe einen Anspruch darauf, dass das Land Baden-Württemberg das in seinem Klimaschutzgesetz (§ 6) vorgesehene integrierte Energie- und Klimaschutzgesetz beschließt.12VGH BW, U.v. 10.11.2022 – 10 S 3542/21 – BeckRS 2022, 39365; dazu SZ Nr. 50 v. 01.03.2023, S. 25.
II. Verwaltungsgerichtsbarkeit – ultra vires?
1. Verwaltungsgerichte in der Kritik
Es wird nicht die letzte Klimaklage vor den Verwaltungsgerichten sein. Die Deutsche Umwelthilfe hat in diesen Tagen Klage beim OVG Berlin-Brandenburg gegen die Bundesregierung erhoben, weil nach ihrer Auffassung die bisher erfolgten Maßnahmen nicht ausreichen, um die geltenden deutschen Klimaziele einzuhalten.13Pressemitteilung der Deutschen Umwelthilfe.
Auch bei der Befassung mit Klimaklagen wird die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland unter Beobachtung stehen. Beobachtet werden wird, ob sie geltendes Recht nur auslegt und anwendet oder Recht gestaltet, sich mit ihren Entscheidungen in den Raum der Exekutive und der Politik hineindrängt. Ihre Urteile und Beschlüsse empfinden Politik und Verwaltung nicht selten als „lästig“. Moniert wird insbesondere: Die Streitsachen vor den Verwaltungsgerichten dauern zu lange, die Entscheidungen kommen spät, Ermessensräume der Verwaltung werden richterlich besetzt, Verfahrens- und Formfragen juristisch überschätzt. Man müsse sich – so die Kritik – fragen, ob für Investitionsvorhaben die Verwaltungsgerichtsbarkeit einen „Standortnachteil“ für Deutschland darstelle.14Manssen, Verwaltungsrecht als Standortnachteil?, 2006.
2. Schwerpunkte des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes
a) Treffen die Vorwürfe zu? Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in der Corona-Krise – auch unter rechtlichen Gesichtspunkten ein Extremereignis – wird als zurückhaltend bewertet. Sie wurde überwiegend akzeptiert, weil auch die Verwaltungsgerichte zur Kenntnis nehmen mussten, dass der Staat unter hohem Entscheidungsdruck stand, Kurs halten musste ohne Kursbuch und einem höchstrangigen Grundrecht – dem Lebens- und Gesundheitsschutz (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) – verfassungsrechtlich verpflichtet war.15Dazu Steiner, DVPr 2021, 257. Wagte es ein Verwaltungsgericht – hier der 13. Senat des Niedersächsischen OVG –, die sogenannte 2G-Regel für den Einzelhandel auszusetzen, wurde es von einem deutschen Höchstarzt wegen eines unzulässigen Übergriffs in die Gesundheitspolitik als Entscheidung „kleiner Richterlein“ abgewertet.16Dazu FAZ Nr. 112 v. 15.05.2023, S. 4 und Schnetter, DÖV 2022, 1034.
b) Es gab aber im Umweltrecht eine „Gegenerfahrung“ in jüngerer Zeit. Waren die zahlreichen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zu den sogenannten Umweltzonen noch in ganz herkömmlicher Weise auf die Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit beschränkt,17Siehe Steiner, Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, Bd. 1, 2016, § 45 Anh. StVO, § 40 BImSchG Rn. 2 ff. so hielten sich die Verwaltungsgerichte durch das geltende Recht gehalten, im Zusammenhang mit den sogenannten Diesel-Verkehrsverboten die zuständigen kommunalen und staatlichen Stellen zur Aufstellung oder Überarbeitung der Luftreinhaltepläne zu verpflichten. Sie sahen sich – jedenfalls bis zu den Leitentscheidungen des BVerwG vom 201818BVerwG, U.v. 27.02.2018 – 7 C 30/17 – NVwZ 2018, 883; v. 27.02.2018 – 7 C 26/16 – NVwZ 2018, 890. – dem Vorwurf ausgesetzt, hier fänden Übergriffe in den Raum der politischen Verantwortung statt. In der Tat haben die Verwaltungsgerichte die Exekutive in Bewegung gebracht, proaktiv könnte man die Linie dieser Rechtsprechung bezeichnen, im Sinne des Themas als „Luftrettung“, und die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit hatte bekanntlich Schwierigkeiten, diese Rechtsprechung durchzusetzen.19VG München, B.v. 21.06.2016 – M 1 V 15.5203 – DVBl. 2016, 1133; dazu Will, NJW 2020, 963. Man hat deshalb gefragt, auch vor dem Hintergrund von Durchsetzungsproblemen der Gerichte in anderen Bereichen der Rechtsprechung – Stichwort: Nutzung kommunaler Einrichtungen –, ob sie zu einer „schwachen Gewalt“ geworden sei.20Dazu Michl in Holterhus/Michl, Die schwache Gewalt?, 2022, S. 73, 82. Ein wirklich relevantes Durchsetzungsproblem hat die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland aber nicht, mag es auch Zuständigkeiten und Entscheidungen geben, die – wie bei der beamtenrechtlichen Konkurrentenklage oder im Asylrecht – der Verwaltung im Einzelfall viel Respekt vor der Gerichtsbarkeit abverlangen. In diesem Spannungsfeld kann es schon einmal blitzen. Unter den öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit wohl diejenige, deren Entscheidungen Politik und Verwaltung am ehesten „stressen“. Die Nachteile einer fiskalisch unerwünschten Rechtsprechung der Finanzgerichtsbarkeit kann man – in der Nachfolge der so genannten Nichtanwendungserlasse – durch den Steuergesetzgeber zumindest abschwächen. Diesen Weg können Gesetzgeber und Exekutive in Verwaltungsstreitsachen in der Regel nicht gehen.
III. Der Gesetzgeber im Verschlankungs- und Beschleunigungsmodus
1. Der Gesetzgeber und seine VwGO
Auf die hier angesprochene Diskussion über die Rolle der Verwaltungsgerichte hat der Gesetzgeber deshalb mit anderen Mitteln reagiert. Die Geschichte der VwGO ist von gesetzlichen Eingriffen in die Organisations- und Zuständigkeitsstruktur bestimmt. Diese (über 100) Eingriffe in den Text haben – jedenfalls in der fachnahen Öffentlichkeit – das Bild der Verwaltungsgerichtsbarkeit durchaus verändert.21Dazu Held in Sommermann/Schaffarzik, Handbuch der Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2019, § 25. Der Rechtsweg wurde durch Hochzonung und Konzentration im Instanzenzug verkürzt, teilweise auch beschränkt, den Richtern vorgegeben, was sie an Form- und Verfahrensfehlern ergebnisrelevant prüfen dürfen, die Richterbank in bestimmten Verfahren verkleinert, der richterliche Zugriff auf die planerische Abwägung abgeschwächt.
Präklusionsvorschriften schränkten den Zugang zum Rechtsschutz ein. Verschlankung heißt dies in der der Politik eigenen euphemistischen Sprache. Das Konzept und die Details der §§ 214 und 215 BauGB sind zu einem Fall für die Rechtspathologie geworden, für die es in Deutschland vorerst noch an Lehrstühlen fehlt. Vielleicht hat § 80c VwGO 2023 auch eine Chance, dieses wissenschaftliche Interesse zu wecken.22S. Fn. 23. Zu § 80c VwGO s. Siegel, NVwZ 2023, 462. Der Gesetzgeber hat sich die planerische Rechtfertigung vorbehalten, hat sogar das Modell einer Planung von Infrastrukturvorhaben durch parlamentarisches Gesetz erprobt. Es galt und gilt, die verwaltungsgerichtliche Plankontrolle zu bändigen.
2. Gesetzgebung auf neuen Wegen
a) Dies ist in Erinnerung zu bringen, weil die Verwaltungsgerichtsbarkeit sich erneut mit einemgesetzlichen Eingriff in ihre Tektonik auseinandersetzen muss. Gemeint ist das Gesetz zur Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich vom 14. März 2023.23BGBl. I 2023 Nr. 71; zur Begründung BT-Drs. 20/5165 u. 20/5570. Dazu Kappes, UPR 2023, 89. Der Staat gibt den Druck, unter dem er gegenwärtig direkt und indirekt steht – Energiewende, Verkehrswende, Klimawende, Finanzwende, Wärmewende, Zinswende, nicht zu vergessen: die Antriebswende – auch an die Verwaltungsgerichtsbarkeit weiter. Ein neues Staatsziel „Sicherung einer zukunftsfähigen Infrastruktur“ soll verfassungsrechtliche Hilfestellung für die Beschleunigungsoffensive der Bundesregierung leisten.24S. FAZ Nr. 234 v. 08.10.2022, S. 10. Es gibt bekanntlich aus politischer Sicht eine deutsche Erfolgsgeschichte, die fortgesetzt werden soll: Der Bau und die Inbetriebnahme von LNG-Terminals auf der Grundlage des Gesetzes vom 24.Mai 2022 erfolgte innerhalb weniger als einem Jahr – vom „neuen Deutschland-Takt“ spricht die Politik.25Gesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases (LNG-Beschleunigungsgesetz – LNGG) v. 24.05.2022, BGBl. I S. 802. Es ist ein Gesetz, das weitreichende Ausnahmen vom Umwelt- und Vergaberecht ermöglicht, aber es gibt Zweifel, ob dieses Ausnahmengesetz doch nur ein Ausnahmegesetz bleibt, weil seine Regelungen einer einzigartigen Notlage geschuldet sind. Immerhin: Das Vorhaben ist vollendet, bevor der Rechtsschutz beginnt.26Klageabweisung inzwischen durch BVerwG, B.v. 22.06.2023 – 7 A 9.22.
b) Durch das Beschleunigungsgesetz 2023 werden die Verwaltungsgerichte in einen infrastrukturellen Beschleunigungsmodus gebracht. Die erstinstanzlichen Zuständigkeiten der Oberverwaltungsgerichte beziehungsweise der Verwaltungsgerichtshöfe und vor allem des Bundesverwaltungsgerichts werden erweitert, die Richterbank in bestimmten Verfahren verkleinert, Verfahren erhalten Vorfahrt im Entscheidungsprogramm der Verwaltungsgerichte, wenn der Gesetzgeber feststellt, dass die Vorhaben im überragenden öffentlichen Interesse liegen, der gerichtliche Umgang mit bestimmten „Rechtsmängeln“ wird gesetzlich gesteuert, dem Geschäftsverteilungsplan wird die Bildung besonderer Kammern und Senate in Angelegenheiten des Planungsrechts vorgegeben. Es soll hier nicht provokativ formuliert werden, die Politik nehme damit die Vorhaben der Infrastruktur vor dem verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Schutz. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird allerdings unmissverständlich in den Dienst der Beschleunigung solcher Vorhaben gestellt. Will man freilich durch Beschleunigung auch eine höhere Geschwindigkeit erzielen, wären vielleicht andere Ansätze für einen Zeitgewinn eher zielführend: kürzere Verwaltungsverfahren durch mehr sachverständiges Personal in der Planung und vor allem: Absenkung der materiellrechtlichen Anforderungen an die Genehmigung von Vorhaben der Infrastruktur. Aber das materielle Umweltrecht ist bekanntlich nur noch eingeschränkt in nationaler Hand.
IV. Rechtsschutz nach Maßgabe des Rechts
1. Zugang Klagebefugnis
Selbst wenn die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit klimarettungsmissionarischen Zielen unterwegs sein wollte, sie könnte es aus Rechtsgründen allenfalls eingeschränkt. Der Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz ist bekanntlich gesetzlich limitiert. Klagen wegen Defiziten des gesetzlichen Klimaschutzes können vor den Verwaltungsgerichten nicht erhoben werden. Art. 20aGG begründet keine Individualrechte. Das Klimaschutzgesetz des Bundes stellt in § 4 Abs. 1 Satz 10 klar: Subjektive Rechte und klagbare Rechtspositionen werden durch dieses Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes nicht begründet.
Immerhin hat die Aarhus-Konvention von 1998 und ihre gesetzliche Umsetzung durch das Umweltrechtsbehelfsgesetz mit der Einführung der Verbandsklage unsere feingesponnene und erfindungsreiche Dogmatik der Klagerechte – Adressatentheorie, Schutznormtheorie, Rücksichtnahmegebot, hilfsweise verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie – erweitert. Mit der (altruistischen) Verbandsklage wird – auch in Sachen Klimaschutz – privaten Organisationen die Fähigkeit zuerkannt, kompetent (und verantwortlich) für das Gemeinwohl einzustehen.27Hufeldt, VVDStRL 82 (2023), 323/349.
Für eine kreative richterliche Rechtsfortbildung eignet sich das Umweltrechtsbehelfsgesetz aber nicht; zu wortgenau hat es der Gesetzgeber immer wieder, auch unter dem Einfluss des EuGH,28Speziell zur Klagebefugnis der DUH gegen sog. Thermofenster siehe EuGH (Große Kammer), U.v. 08.11.2022 – C-873/19 – NJW 2022, 3769; dazu Guckelberger/Mitschang, NJW 2022, 3747. gefasst. Die Verwaltungsgerichte haben sich an den „überindividuellen“ Rechtsschutz gewöhnt. Verbandsklagen gehören seit 2006 zur Rechtsschutzerfahrung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie machen zwar nur 0,1 Prozent der Klagen vor den Verwaltungsgerichten aus, aber immerhin sind über 130 Vereinigungen nach § 3 Umweltrechtsbehelfsgesetz anerkannt, und wenn Umweltverbände klagen, gehören ihre Rechtsbegehren zu den Verfahren mit gehobenem Aufwand.
2. Klimaschutz und Klimaschutzrecht
Auch für das gegenwärtige und zukünftige materielle Klimaschutzrecht gilt eine Erfahrung aus vielfältiger verwaltungsgerichtlicher Praxis: Die Gesetzgeber in Bund und Ländern sind oft erstaunt, was sie als geltendes Recht auf den Weg gebracht haben, wenn die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit dessen Auslegung und Anwendung Ernst macht. Recht allein genügt dem Rechtsstaat nicht. Es setzt seine Durchsetzung voraus. Deshalb ist die legale Klage im Prinzip auch immer eine legitime Klage.29Siehe Storzer, Die Justiziabilität des Klima- und Umweltschutzes: Effektiver Rechtsschutz als Antwort auf strukturelle Durchsetzungsdefizite, Diss. Regensburg 2023, S. 242, 279 f.
Aus der Sicht des Verwaltungsrichters gibt es keine „guten“ Klagen, denen man – klimamoralisch übersteuert sozusagen – einen prozessualen „Rabatt“ gewähren darf. Ihm ist die rechtsprechende Gewalt ohne Ansehen des Klagegegenstandes anvertraut. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist nicht für den Klimaschutz zuständig, sondern für das Klimaschutzrecht. Die verwaltungsgerichtliche Route wird in Klimaschutzsachen nicht neu berechnet. Werden die Verwaltungsgerichte angerufen, um das geltende Klimarecht auch mit judikativen Mitteln zur Geltung zu bringen, bestätigt dies im Übrigen das Vertrauen in ihre Arbeit. Insoweit ist auch hier Überlast besser als Unterlast.
V. Zwischenbilanz
Jedenfalls bis zum Beschleunigungsgesetz 2023 bilanziert die Rechtswissenschaft: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist trotz der großen Änderungsnovellen in der Lage, ihren Rechtsschutzauftrag zu erfüllen.30Held (Fn. 21), S. 1007. Auch den besonderen justiziellen Stil der Verwaltungsgerichtsbarkeit gilt es beizubehalten. Zwar hat der Gesetzgeber das Kammerprinzip abgeschwächt, und er öffnet jetzt auch auf Senatsebene die Verfahren für Einzelrichter. Sie existieren aber noch: die Kammern und Senate, und sie prägen das Profil der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die erste Instanz vermag unverändert Qualität abzuliefern; sie gibt nicht anspruchsvolle Probleme an die nächste Instanz ab, die für die Lösung solcher Probleme mehr Zeit hat, sie begnügt sich nicht mit einer judikativen „Erstversorgung“. Man darf der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland hohe rechtsstaatliche Resilienz auch unter politischem Druck bescheinigen.
Entnommen aus den Bayerischen Verwaltungsblättern 19/2023, S. 653.
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- 1Siehe Junker/Jürgens, Klima RZ 2023, 7.
- 2Ennöckl, RdU 2022, 1; Fellenberg, NVwZ 2022, 913; Glaser, EuRUP 2022, 239; Saiger, Nationale Gerichte im Klimaschutzvölkerrecht, 2022; Schirmer, NJW 2023, 113; Thönissen, NJW 2023, 945.
- 3SZ Nr. 74 v. 29.03.2023, S. 7.
- 4Rechtsbank Den Haag, U.v. 26.05.2021 – C-09/571932/HA 2 A 19-379; BeckRS 2021, 15559.
- 5BVerfG, B.v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18 u. a.; BVerfGE 157, 30.
- 6OLG Hamm, Beweisbeschluss v. 30.11.2017 – 5 U 15/17. Das LG Essen hatte die Anträge noch als unzulässig zurückgewiesen (U.v. 15.12.2016 – 2 O 285/15 – NVwZ 2017, 734).
- 7Siehe FAZ Nr. 9 v. 11.01.2023, S. 16; LG Stuttgart, U.v. 13.09.2022 – 17 O 789/21 – NVwZ 2022, 1663. Dazu Thönissen, NJW 2023, 945.
- 8VG Berlin, U.v. 31.10.2019 – 10 K 412/18 – NVwZ 2020, 1289.
- 9VG Aachen, B.v. 07.10.2021 – 6 L 418/21 – juris Rn. 74 ff.
- 10Siehe OVG NW, B.v. 28.03.2022 – 21 B 1675/21 – BeckRS 2022, 6396.
- 11Az.: 22 A 21, 40024; dazu SZ Nr. 50 v. 01.03.2023, S. 25.
- 12VGH BW, U.v. 10.11.2022 – 10 S 3542/21 – BeckRS 2022, 39365; dazu SZ Nr. 50 v. 01.03.2023, S. 25.
- 13Pressemitteilung der Deutschen Umwelthilfe.
- 14Manssen, Verwaltungsrecht als Standortnachteil?, 2006.
- 15Dazu Steiner, DVPr 2021, 257.
- 16Dazu FAZ Nr. 112 v. 15.05.2023, S. 4 und Schnetter, DÖV 2022, 1034.
- 17Siehe Steiner, Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, Bd. 1, 2016, § 45 Anh. StVO, § 40 BImSchG Rn. 2 ff.
- 18BVerwG, U.v. 27.02.2018 – 7 C 30/17 – NVwZ 2018, 883; v. 27.02.2018 – 7 C 26/16 – NVwZ 2018, 890.
- 19VG München, B.v. 21.06.2016 – M 1 V 15.5203 – DVBl. 2016, 1133; dazu Will, NJW 2020, 963.
- 20Dazu Michl in Holterhus/Michl, Die schwache Gewalt?, 2022, S. 73, 82.
- 21Dazu Held in Sommermann/Schaffarzik, Handbuch der Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2019, § 25.
- 22S. Fn. 23. Zu § 80c VwGO s. Siegel, NVwZ 2023, 462.
- 23BGBl. I 2023 Nr. 71; zur Begründung BT-Drs. 20/5165 u. 20/5570. Dazu Kappes, UPR 2023, 89.
- 24S. FAZ Nr. 234 v. 08.10.2022, S. 10.
- 25Gesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases (LNG-Beschleunigungsgesetz – LNGG) v. 24.05.2022, BGBl. I S. 802.
- 26Klageabweisung inzwischen durch BVerwG, B.v. 22.06.2023 – 7 A 9.22.
- 27Hufeldt, VVDStRL 82 (2023), 323/349.
- 28Speziell zur Klagebefugnis der DUH gegen sog. Thermofenster siehe EuGH (Große Kammer), U.v. 08.11.2022 – C-873/19 – NJW 2022, 3769; dazu Guckelberger/Mitschang, NJW 2022, 3747.
- 29Siehe Storzer, Die Justiziabilität des Klima- und Umweltschutzes: Effektiver Rechtsschutz als Antwort auf strukturelle Durchsetzungsdefizite, Diss. Regensburg 2023, S. 242, 279 f.
- 30Held (Fn. 21), S. 1007.