06.11.2023

Mehrwöchiger Platzverweis

Beschluss des Verwaltungsgerichts Aachen

Mehrwöchiger Platzverweis

Beschluss des Verwaltungsgerichts Aachen

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

Gegen einen Aktivisten wurde ein Aufenthaltsverbot mit mehrwöchiger Dauer verhängt, das sofortige Vollziehung erfahren sollte. Der Angeklagte beantragte Gewährung auf vorläufigen Rechtsschutz, womit er vor dem Verwaltungsgericht Aachen keinen Erfolg hatte.

Sachverhalt

Gegen den Antragsteller wurde ein Verbot mit mehrwöchiger Dauer ausgesprochen, sich auf den näher bezeichneten Grundstücken in Erkelenz-Lützerath aufzuhalten bzw. diese zu betreten oder zu befahren, wobei der Antragsgegner die sofortige Vollziehung anordnete. Der hiergegen gerichtete Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zeitigte keinen Erfolg.

PolG NRW – § 34


OBG NRW – § 34

Der Begriff „vorübergehend“ in § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW macht zwar deutlich, dass ein Platzverweis nicht dauerhaft angeordnet werden darf. Allerdings erzwingt der Wortlaut der Vorschrift kein Gleichsetzen der Begriffe „vorübergehend“ mit „kurzfristig“.

Verwaltungsgericht Aachen (Beschl. v. 05.01.2023 – 6 L 2/23)

Aus den Gründen

Ermächtigungsgrundlage für die Ziffern 1. und 2. der angegriffenen Allgemeinverfügung ist entweder § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW i. V. m. § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW oder aber jedenfalls die ordnungsbehördliche Generalklausel des § 14 Abs. 1 OBG NRW, was hier im Ergebnis offenbleiben kann. Nach § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW gilt die Vorschrift des § 34 PolG NRW mit Ausnahme von Abs. 2 entsprechend für die Ordnungsbehörden, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW kann die Polizei zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten.

Nach § 14 Abs. 1 OBG NRW können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren. Für die Abgrenzung der beiden in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlagen kommt es darauf an, ob die grundsätzlich als lex specialis vorrangig anwendbare Vorschrift des § 34 Abs. 1 PolG NRW von ihrer Zielrichtung her den vorliegenden Sachverhalt erfasst. In dem Fall wäre ein Rückgriff auf die ordnungsbehördliche Generalklausel gesperrt.

Andernfalls wäre der Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1 OBG NRW eröffnet, weil § 34 Abs. 1 PolG NRW dann keine abschließende speziellere Regelung darstellen würde. Von ihrer Zielrichtung her erfasst die in § 34 Abs. 1 PolG NRW normierte Ermächtigungsgrundlage auch längerfristige und nicht nur sich kurzfristig erledigende Gefahrenlagen. Der Begriff „vorübergehend“ in § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW macht zwar deutlich, dass ein Platzverweis nicht dauerhaft angeordnet werden darf.

Allerdings erzwingt der Wortlaut der Vorschrift kein Gleichsetzen der Begriffe „vorübergehend“ mit „kurzfristig“. Aus einem systematischen Vergleich zu § 34 Abs. 2 PolG NRW, der unter strengeren Voraussetzungen Aufenthaltsverbote bis zu einer maximalen Dauer von drei Monaten ermöglicht, wird zwar deutlich, dass ein Platzverweis nach § 34 Abs. 1 PolG NRW jedenfalls nicht länger als drei Monate gelten darf.

Unterhalb dieser zeitlichen Obergrenze ist der Platzverweis in Abgrenzung zu dem Aufenthaltsverbot jedoch lediglich funktional durch den polizeilichen Zweck der Bewältigung einer räumlich-zeitlich konkret bestimmten Gefahrensituation begrenzt. Die genaue zeitliche Ausdehnung des Platzverweises hängt in der Folge von der Art der konkreten Gefahr ab.

Dauer der Gefahrenlage entscheidend

Wenn – wie vorliegend – die Gefahrenlage sich über mehrere Tage und Wochen erstreckt, kann der Platzverweis auch für diese Dauer der Gefahr ausgesprochen werden. Es entspricht dem Sinn und Zweck der Vorschrift, das Kriterium „vorübergehend“ im konkreten Einzelfall von der Dauer der Gefahr abhängig zu machen. Nur so wird dem Ziel des Gesetzgebers Rechnung getragen, der Ordnungsbehörde mit dem in § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW i. V. m. § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW geregelten Platzverweis ein Instrument in die Hand zu geben, mit dem sie auf einer Eingriffsschwelle unterhalb einer Ingewahrsamnahme Gefahrensituationen wirksam zu entschärfen vermag.

Wenn bereits absehbar ist, dass eine Gefahr über einen längeren Zeitraum andauert, wäre es im Übrigen eine bloße Förmelei, die Behörde darauf zu verweisen, konsekutive Platzverweise von jeweils wenigen Tagen zu erteilen. Zwar wird teilweise die Auffassung vertreten, ein Platzverweis sei eine kurzfristige Maßnahme, die – unabhängig von dem vorgenannten funktionalen Zusammenhang – nur einige Stunden oder allenfalls wenige Tage gelten dürfe. Begründet wird diese Auffassung insbesondere damit, dass ein längerfristiger Platzverweis einen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf Freizügigkeit gemäß Art. 11 Abs. 1 GG darstelle, weil der Betroffene ggf. gezwungen sei, seinen Lebensmittelpunkt zu verlagern, und ein solcher Eingriff nur unter den Voraussetzungen des qualifizierten Gesetzesvorbehalts nach Art. 11 Abs. 2 GG zulässig sei.

Die Regelung des § 34 Abs. 1 PolG NRW erfülle jedoch nicht die Vorgaben des Art. 11 Abs. 2 GG, weil sie die in dieser Norm vorgesehenen Zweckbindungen (z. B. „um strafbaren Handlungen vorzubeugen“) nicht aufgreife. § 34 Abs. 1 PolG NRW tauge damit – im Gegensatz zu § 34 Abs. 2 PolG NRW – nicht als Grundlage für freizügigkeitsrelevante Maßnahmen. Hinzu komme, dass auch die Ordnungsbehörden gem. § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW i. V. m. § 34 Abs. 1 PolG NRW einen Platzverweis aussprechen könnten, obwohl § 44 OBG NRW den Art. 11 Abs. 1 GG nicht als eingeschränktes Grundrecht nenne. Dies lasse den Schluss zu, dass der Gesetzgeber den Platzverweis nicht als freizügigkeitsbeschränkende Maßnahme konzipiert habe.

Betroffenheit des Grundrechts auf Freizügigkeit

Ob ein Platzverweis „vorübergehend“ sei, müsse daher unter Rückgriff auf die Kriterien beurteilt werden, anhand derer sich die Betroffenheit des Grundrechts auf Freizügigkeit ermitteln lasse. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht jeder Platzverweis – unabhängig von dessen Dauer – geeignet ist, den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG zu berühren. Wird etwa ein Betroffener durch einen mehrtägigen Platzverweis lediglich daran gehindert, einen Gemeindeteil zur Freizeitgestaltung und zu alltäglichen Verrichtungen aufzusuchen, berührt dies nicht den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG. Vor diesem Hintergrund kommt ein längerfristiger – auch mehrwöchiger – Platzverweis jedenfalls in den Fällen in Betracht, in denen der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG von vornherein nicht berührt ist.

Ausgehend von diesen Maßstäben erfasst § 34 Abs. 1 PolG NRW von seiner Zielrichtung her den vorliegenden Sachverhalt, da die für ca. siebeneinhalb Wochen prognostizierte Gefahrenlage deutlich unterhalb der Höchstgrenze von drei Monaten liegt und der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG nicht berührt ist. Letzteres ist hier der Fall, weil sich der Platzverweis auf Grundstücke erstreckt, die für die bergbauliche Inanspruchnahme des Braunkohletagebaus Garzweiler II vorgesehen sind und für welche der Beigeladenen bereits die notwendigen Eigentums- und Besitzrechte eingeräumt wurden.

Das Grundrecht auf Freizügigkeit berechtigt nicht dazu, an Orten im Bundesgebiet Aufenthalt zu nehmen und zu verbleiben, an denen Regelungen zur Bodenordnung oder Bodennutzung einem Daueraufenthalt entgegenstehen und so bereits den Zuzug ausschließen oder einschränken oder, wenn sie erst nachträglich aufgestellt werden, letztlich zum Wegzug zwingen. Solche Regelungen berühren jedenfalls dann nicht den Schutzbereich von Art. 11 Abs. 1 GG, wenn sie allgemein gelten und nicht gezielt die Freizügigkeit bestimmter Personen oder Personengruppen treffen sollen. Art. 11 Abs. 1 GG gewährt ein Recht zum Zuzug und Aufenthalt grundsätzlich nur dort, wo jeder Aufenthalt und Wohnsitz nehmen kann.

Einen Anspruch auf Schaffung und Erhalt der rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für einen Daueraufenthalt vermittelt Art. 11 Abs. 1 GG dagegen nicht. Würde man demgegenüber mit der Gegenauffassung davon ausgehen, dass § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW von seiner Zielrichtung her keine längerfristigen Gefahrenlagen erfasst, wäre jedenfalls die ordnungsrechtliche Generalklausel des § 14 Abs. 1 OBG NRW als Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen. Zwar normieren die sog. Standardmaßnahmen i. S. v. § 24 OBG i. V. m. mit den entsprechenden Regelungen des nordrhein-westfälischen Polizeigesetzes abschließende Sachverhaltsregelungen und können daher nicht über die Generalklausel ausgeweitet werden. § 34 Abs. 2 PolG NRW würde einen Rückgriff auf die Generalklausel im vorliegenden Fall ebenfalls nicht sperren.

§ 34 Abs. 2 PolG NRW als Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe in Grundrecht auf Freizügigkeit

Die Regelung ist eine Ausgestaltung des qualifizierten Gesetzesvorbehaltes des Art. 11 Abs. 2 GG. Damit sollte § 34 Abs. 2 PolG NRW der Polizei eine Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG schaffen. Für staatliche Maßnahmen, die – wie hier – schon nicht den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG berühren, bedarf es aber keines Gesetzes, das die Anforderungen des Art. 11 Abs. 2 GG erfüllt. Der Gesetzgeber hat die Regelung des § 34 Abs. 2 PolG NRW demnach für solche Fälle konzipiert, die freizügigkeitsrelevant sind.

In allen anderen Fällen bedarf es der Ermächtigungsgrundlage des § 34 Abs. 2 PolG NRW nicht, weshalb sie für solche Fälle auch keine Sperrwirkung entfaltet. Daher bleibt in Fällen, in denen keine Begehung von Straftaten droht und zugleich der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG nicht berührt ist, ein Rückgriff auf die ordnungsbehördliche Generalklausel möglich. Dafür spricht auch, dass die polizeiliche bzw. ordnungsbehördliche Generalklausel auch auf eher komplexe und atypische Gefahrenlagen ausgerichtet ist. Dazu gehören auch neue, nach Art und Ausmaß bislang nicht bekannte Gefahrenlagen. Da der Gesetzgeber nicht sämtliche künftigen Gefahren und alle ihnen gegenüber zu treffenden Maßnahmen im Einzelnen voraussehen und detailliert regeln kann, besitzt die Generalklausel in dieser Hinsicht eine bedeutende Auffangfunktion. Die komplexe Gefahrenlage kann Beschränkungen erfordern, die über eine (einfache) Platzverweisung hinausgehen.

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie im Neuen Polizeiarchiv 9/2023, Lz. 770.

 

Dr. Matthias Goers

Vorsitzender Richter am Landgericht, Hof
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