27.03.2023

Entziehung des Sorgerechts wegen Kindesmisshandlung

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16.09.2022 – 1 BvR 1807/20

Entziehung des Sorgerechts wegen Kindesmisshandlung

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16.09.2022 – 1 BvR 1807/20

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Die Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sind die miteinander verheirateten Eltern ihres am 29.08.2017 geborenen Kindes. Am 17.09.2017 kam es im Haushalt der Beschwerdeführenden zu einem nicht genau aufklärbaren Vorfall, aufgrund dessen das Kind einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels erlitt, der operativ versorgt werden musste.

Die Mutter rief deshalb einen Rettungswagen, der das Kind in ein Krankenhaus brachte. Dort wurden der Oberschenkelbruch sowie drei Hämatome am Unterschenkel festgestellt, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu Griffmarken passten.

Das Jugendamt rief das Familiengericht (FamG) an. Nach gewährter Hilfe zur Erziehung, die in Form einer Familienhebamme und einer Familienhilfe geleistet wurde, sah das FamG von sorgerechtlichen Maßnahmen ab. Am 14.11.2017 wurde bei einer Untersuchung des Kindes festgestellt, dass der Gehirnschädel im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensional war (Macrocephalie) und dass die Fontanelle vorgewölbt und gespannt war. Der Kopfumfang war bis dahin fortlaufend gemessen worden.


Die Ärzte vermuteten ein Schütteltrauma und eine Misshandlung des Kindes durch die Eltern. Sie informierten das Jugendamt, das das Kind im Einverständnis mit den Eltern in Obhut nahm. Auch nach einer weiteren Untersuchung nahmen die Ärzte ein Schütteltrauma und die Einlagerung von Blut im Kopfbereich des Kindes an. Die Eltern erklärten, sich keinerlei Handlungen bewusst zu sein, die zu einem Schütteltrauma hätten führen können.

Gerichtliche Verfahren

Das Jugendamt rief das FamG mit dem Ziel eines Sorgerechtsentzugs an. Die Eltern stimmten der vorläufigen Fremdunterbringung des Kindes bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu. Das Amtsgericht (AmtsG) entzog den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge sowie das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen für das Kind und übertrug diese Rechte auf das Jugendamt als Pfleger. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführenden wies das Oberlandesgericht (OLG) zurück.

Die Verfassungsbeschwerde ist aus unterschiedlichen Gründen unzulässig. Soweit sie sich gegen den Beschluss des AG richtet, ist sie unzulässig, weil diese Entscheidung durch die Beschwerdeentscheidung des OLG prozessual überholt ist und eine isoliert verbleibende Grundrechtsverletzung weder vorgetragen noch ersichtlich ist. Es mangelt daher insoweit an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschwerdeentscheidung des OLG gerichtet ist, genügt ihre Begründung nicht den daran nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) zu stellenden Anforderungen.

Keine Verletzung von Grundrechten

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde zeigt die Möglichkeit einer Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführenden aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz nicht auf. Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.

Die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung sind dabei zu berücksichtigen, und diese Folgen müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, sodass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert. Zudem darf eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen.

Dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kann der verfassungsrechtliche Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf Schutz durch den Staat gegenüber-stehen, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden und wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können. Ist das Kindeswohl nachhaltig gefährdet, kann der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet sein, die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten. Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, v. a. weil es früher bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die ein oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlangt ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie eine hohe Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird. Dies schlägt sich in hohen Begründungsanforderungen einer Entscheidung nieder.

Erforderliche Gefahrenprognose

Ob eine Trennung des Kindes von der Familie verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt danach regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Dem muss die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen. Ob etwa Psychologen als Sachverständige hinzuzuziehen sind, um die für die Prognose notwendigen Erkenntnisse zu erlangen, muss das erkennende Gericht im Lichte seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen.

Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird.

Die fachgerichtlichen Annahmen zu der Frage, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Sie beschränkt sich nicht darauf, ob eine angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruht, sondern erstreckt sich auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts. Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde und den vorgelegten Unterlagen ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des OLG diesen Anforderungen nicht genügt. Weder werden deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts aufgezeigt noch lässt die darauf aufbauende Auslegung und Anwendung des Fachrechts, insbesondere der §§ 1666, 1666 a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), verfassungsrechtlich relevante Auslegungsfehler erkennen.

Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch nicht substanziiert auf, dass die Entscheidung des OLG dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht wird. Es begründet nachvollziehbar, warum mildere Mittel als die Fremdunterbringung des Kindes nicht geeignet sind, die Gefahr für das Kindeswohl in gleicher Weise abzuwehren. Die Beschwerdeführenden bringen hiergegen keine durchgreifenden Einwände vor. Angesichts der drohenden erheblichen Verletzungen des Kindes ist die Fremdunterbringung auch im Übrigen verhältnismäßig.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16.09.2022 – 1 BvR 1807/20 –.

 

Entnommen aus der Fundstelle Baden-Württemberg 3/2023, Rn. 34.

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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