15.12.2010

Dreisprung Lehre – Politik – Richteramt

Interview mit Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter Michael Huber

Dreisprung Lehre – Politik – Richteramt

Interview mit Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter Michael Huber

Oberstes Verfassungsorgan und Gericht zugleich: das Bundesverfassungsgericht. | © Sandro Götze - Fotolia
Oberstes Verfassungsorgan und Gericht zugleich: das Bundesverfassungsgericht. | © Sandro Götze - Fotolia

Am 16. 11. 2010 wurde Professor Dr. Peter Michael Huber, bis zu diesem Zeitpunkt Thüringer Innenminister und Professor für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, zum Richter am Bundesverfassungsgericht ernannt. PUBLICUS sprach mit dem 51jährigen Vater zweier Töchter, dessen berufliche Laufbahn in Wissenschaft und Praxis, als Richter und Politiker, so zielstrebig wie vielseitig ist.

Prof. Dr. Peter M. Huber – Minister a. D., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie, Forschungsstelle für das Recht der Europäischen Integration, Ludwig-Maximilian-Universität München

PUBLICUS: Wenn man sich Ihren Lebenslauf (u. a. Hochschullehrer, Richter, Gastprofessuren, vielfache Mitgliedschaften, Minister) mit Ihren zahlreichen Aktivitäten anschaut, sehr geehrter Herr Prof. Huber, dann deutet vieles auf eine gezielte Karriereplanung hin. Dennoch: Haben Sie das Amt des Bundesverfassungsrichters tatsächlich aktiv angestrebt oder eröffnete sich diese Möglichkeit eher unverhofft?


Prof. Huber: Das Amt eines Richters des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nicht wirklich anstreben. Wenn mein Lebenslauf aus der Retrospektive betrachtet auch sehr geradlinig und zielstrebig wirken mag, war er es – ex ante betrachtet – natürlich nicht. Ich habe mich freilich immer für alle Facetten des Rechts interessiert – ein Grund, warum ich Professor geworden bin, und ich war stets offen für neue Herausforderungen. Deshalb bin ich 1991 nach Thüringen gegangen und deshalb habe ich auch den Ausflug in die Politik gewagt. In den vergangenen Jahren bin ich wiederholt auf das Bundesverfassungsgericht angesprochen worden und habe insoweit auch notgedrungen darüber nachgedacht, es mir sicher auch gewünscht. Die konkrete Möglichkeit kam dennoch unverhofft, überraschend und kurzfristig.

PUBLICUS: Was hat letztlich für Sie den Ausschlag gegeben, nach Karlsruhe an das BVerfG zu wechseln? Man zitiert Ihre erste Reaktion mit den Worten: „Ich gehe dahin, wo mich das Vaterland hinstellt.“

Prof. Huber: Das Grundgesetz war von Anfang an Gegenstand meiner beruflichen Tätigkeit. Ich halte es für eine große zivilisatorische Errungenschaft, dass wir es geschafft haben, Politik durch Recht nicht nur einzugrenzen, sondern zu ordnen – in Deutschland noch ein wenig mehr als in anderen Ländern. Dabei spielte und spielt das Bundesverfassungsgericht eine herausragende Rolle. Nicht, dass ich richterlichem Aktionismus oder einem gouvernement des juges das Wort reden wollte; aber die wichtigen politischen Entscheidungen unseres Landes – von der Abtreibungsfrage über Auslandseinsätze der Bundeswehr bis zu Europa – konnten letztlich alle nicht ohne das Bundesverfassungsgericht getroffen werden. Daran mitwirken zu können, scheint mir von größerer Tragweite als die Entscheidungen, die ich als Thüringer Innenminister zu verantworten hatte, obwohl ich auch diese nicht bagatellisieren will.

PUBLICUS: Beim Wechsel von Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Koch von der Politik in die Privatwirtschaft wurde moniert, dass kein zeitlicher Abstand dazwischen lag. Hielten Sie Forderungen für berechtigt, wonach ein zeitlicher Abstand bei einem Wechsel von einer herausragenden Position in der Politik in die Justiz und umgekehrt sein sollte?

Prof. Huber: Entscheidend ist, ob man die persönliche und inhaltliche Unabhängigkeit besitzt, das neue Amt auszufüllen und ob es die Besorgnis sachwidriger Einflüsse gibt. Beides scheint mir angesichts der eher zurückgezogenen Rolle der Dritten Gewalt kein besonderes Problem zu sein. Im Gegenteil, es kann der Justiz gut tun, wenn Richter wissen, wie es in anderen Lebensbereichen tatsächlich zugeht.

PUBLICUS: Der Presse war zu entnehmen, dass Sie auch an einer politischen Karriere in Berlin interessiert gewesen wären. Das lässt sich, solange Sie Richter sind, nicht realisieren. Für wie politisch halten Sie Ihr Richteramt?

Prof. Huber: Das Bundesverfassungsgericht ist Gericht und oberstes Verfassungsorgan zugleich. Seine Urteile haben natürlich politische Bedeutung. Ihr Maßstab aber ist allein das Recht. Bei dessen Erkenntnis mögen Sozialisation, Vorverständnis u. Ä. eine Rolle spielen, nicht jedoch Politik im engeren Sinne.

PUBLICUS: Sowohl im Innenministerium als auch an Ihrem Lehrstuhl hatten bzw. haben Sie weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten. Wie möchten Sie Ihr Richteramt ausgestalten? Gibt es einen Vorsatz, einen selbst gestellten Anspruch an Sie selbst und Ihr Amt?

Prof. Huber: Ich möchte in erster Linie einen Beitrag dazu leisten, dass Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen sowie die Solidarität von Starken und Schwachen, d. h. die Errungenschaften von Aufklärung, Revolution und Sozialstaat, die den Kern unserer Verfassungsordnung ausmachen, auch unter den Herausforderungen von Globalisierung, europäischer Integration, zurückgehender Handlungsfähigkeit des Staates und der sich abzeichnenden Pluralisierung unserer Gesellschaft erhalten und in der Wirklichkeit erfahrbar bleiben.

PUBLICUS: Gibt es Fälle, auf die Sie sich freuen, wenn sie denn auf Ihren Richtertisch kämen?

Prof. Huber: Natürlich, aber die werde ich hier nicht nennen.

PUBLICUS: Teilen Sie die „Schlusspunkt-Auffassung“ Ihres Präsidenten Prof. Voßkuhle, der im Zusammenhang mit Stuttgart 21 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung einen nachträglichen Volksentscheid als „ernsthaftes Problem für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten“ bezeichnet und betont hatte: „Irgendwann muss hier ein Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden haben. Ansonsten verlieren wir unsere Zukunftsfähigkeit. Es mag Ausnahmen von diesem Grundsatz geben, diese sollten aber nicht Schule machen.“

Prof. Huber: Im Prinzip hat er Recht. Gleichwohl gilt auch für rechtsstaatlich und demokratisch einmal legitimierte Entscheidungen: „panta rhei“. Anders ausgedrückt: Eine Entscheidung, die Jahre oder Jahrzehnte zurückliegt, muss auch von den heute Lebenden akzeptiert werden. Wir haben jedoch weder in unserer Demokratiekonzeption noch in den Verfahren des Fachplanungsrechts Mechanismen, mit denen man dieses Problem der „Zeitachse“ angemessen bewältigen kann. Eine Variante wäre, Entscheidungen schneller umzusetzen; die andere, die Bevölkerung besser mitzunehmen. Damit will ich nicht sagen, dass das transeuropäische Projekt Stuttgart 21 allein die Stuttgarter angeht; die grundgesetzliche Kompetenzverteilung im Eisenbahnbereich spricht für ein nationales Vorhaben, so dass auch Berliner, Hamburger und Münchner zu beteiligen wären.

PUBLICUS: Das führt uns direkt zur nächsten Frage:  Wie beurteilen Sie die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Volksentscheids und wie stehen Sie zu der Forderung der Ausweitung plebiszitärer Elemente in einer repräsentativen Demokratie? Wo muss eine Grenze gezogen werden?

Prof. Huber: Zur repräsentativen Demokratie gibt es keine Alternative. Das schließt ihre punktuelle Ergänzung durch Volksbegehren und -entscheide auch auf Bundesebene jedoch nicht aus. Die Mehrheit der politisch interessierten Menschen in unserem Land, das ist mein Eindruck, will ernst genommen werden und als Träger dieses Staates auch die Möglichkeit zur Entscheidung besitzen. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir als eine paternalistische Attitüde, wenn immer wieder davon gesprochen wird, man müsse der Bevölkerung bereits getroffene Entscheidungen „erklären“. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Staatsbürger die Chance der Einflussnahme vor der Entscheidung besitzen, wohlgemerkt die Chance (ob es tatsächlich zu einem Volksentscheid kommt, ist zweitrangig). Die bloße Chance auf den Volksentscheid sorgt für eine bessere Rückkoppelung zwischen den politischen Akteuren und der Bevölkerung, weil die erstgenannten dieses Risiko in ihrem Handeln stets bedenken müssen. Das mag lästig sein und ohnehin schon schwierige Entscheidungen noch weiter erschweren. Im Ergebnis profitieren jedoch alle davon. Der Blick nach Bayern mit seiner lebhaften direktdemokratischen Tradition lehrt im Übrigen, dass sich die Architektur der repräsentativen Demokratie durch Volksbegehren und Volksentscheide nicht nennenswert verändert. Der Aufwand für einen Volksentscheid ist so groß, dass sich ihre Zahl auch nach über 60 Jahren Verfassungspraxis an vier Händen abzählen lässt. Zudem scheitern die meisten Volksbegehren schon an den Quoren. Das aber wirkt sich beruhigend und stabilisierend auf den politischen Prozess und die parlamentarische Arbeit aus, denn es macht klar, dass mitunter medial transportierte Positionen in der Bevölkerung nur auf wenig Rückhalt treffen.

PUBLICUS: Als Nachfolger von Professor Broß im 2. Senat werden Sie ja u. a. zuständig sein „für Verfahren aus sämtlichen Rechtsgebieten, bei denen die Auslegung und Anwendung von Europarecht von erheblicher Bedeutung“ ist. Welche Fragen werden hier im Jahr 2011 auf Sie zukommen?

Prof. Huber: Die Dezernatsverteilung wechselt mit jedem neuen Richter. Das Europarecht wird derzeit von Herrn Di Fabio betreut. Im Senat könnten wir im Jahr 2011 aber z. B. die Frage des Rettungsschirmes zu beantworten haben.

PUBLICUS: Seit längerem besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Rechtsprechung des EuGH und der des Bundesverfassungsgerichts. Ist hier mit einer zunehmenden Reversibilität der BVerfG-Rechtsprechung vor dem Hintergrund zu rechnen, dass zahlreiche Urteile zu einem Zeitpunkt gesprochen wurden, als die europäische Integration längst noch nicht so weit fortgeschritten war?

Um nur ein Beispiel zu nennen: Das BVerfG hat mit Beschluss vom 07.12. 2001 (Az. 1 BvR 1806/98) die Verfassungsmäßigkeit der beitragsfinanzierten Pflichtzugehörigkeit in den Industrie- und Handelskammern unter Rückgriff auf seine vor vierzig Jahren begründete Rechtsprechung (BVerfGE 15, 235 ff.) bestätigt. Aber steht die IHK-Pflichtmitgliedschaft damit auf rechtssicherem Boden? Ein Blick auf das Europarecht – so die Kritiker – zeige, dass die Vereinbarkeit der Pflichtmitgliedschaft, anders als ihre Befürworter bekunden, mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 Abs. 1 AEU), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 Abs. 1 AEU), Art. 14 Ziff. 2 der Dienstleistungsrichtlinie und dem Demokratieprinzip (Art. 2 EU) in Konflikt stehe.

Prof. Huber: Die von Ihnen zitierte Entscheidung betrifft den 1. Senat, so dass ich mich dazu nicht im Detail äußern will. Für das gesamte Bundesverfassungsgericht gilt allerdings, dass es seine Rolle im Konzert von EGMR und EuGH sowie auch der anderen Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten immer wieder überdenken und neu justieren muss. Dass das vielbeschworene Kooperationsverhältnis dabei auch tatsächlich praktiziert werden muss, etwa über Vorlagen an den EuGH, scheint mir alternativlos. Im Interesse der Rechtsunterworfenen sollte man Divergenzen zwischen nationalen und unionalen Anforderungen eher minimieren als vergrößern. Zu einer vollständigen Deckungsgleichheit wird es dabei jedoch nicht kommen – auch nicht beim Problem der Inländerdiskriminierung.

PUBLICUS: Sie waren genau 380 Tage als Thüringer Innenminister im Amt. Welche Erfahrungen nehmen Sie aus dieser Tätigkeit mit?

Prof. Huber: Am einprägsamsten fand ich das Erlebnis der kompetenziellen und finanziellen Zwänge, in denen sich Landespolitik heute bewegt. Die „Finanzverfassung“ der EU wie auch des Grundgesetzes drängen jedenfalls kleinere Länder an den Rand der Handlungsfähigkeit. Hier frühzeitig und wirkungsvoll gegenzusteuern ist das entscheidende Desiderat für die nächsten Jahre – nicht nur in Thüringen, auch in Berlin. Darüber hinaus nehme ich die Erfahrung mit, dass man die Menschen auch für schwierige und unangenehme Entscheidungen gewinnen kann, wenn man gute Argumente hat. Das Volk ist klüger, als manche glauben.

PUBLICUS: Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin / Ihrem Nachfolger im Thüringer Innenministerium außer einer glücklichen Hand?

Prof. Huber: Ich wünsche meinem/meiner Nachfolger(in), dass er/sie die angestoßenen Reformvorhaben vollenden, die innere Verwaltung des Freistaats konsolidieren und einen vernünftigen Kompromiss zwischen Bewahrung und Veränderung der kleinteiligen Strukturen Thüringens zustande bringen kann. Ich hoffe, dass auch ihm / ihr dabei die Offenheit und Konstruktivität entgegengebracht wird, die ich allenthalben erfahren durfte. Nicht zuletzt wünsche ich ihm /ihr, dass die Amtszeit nicht vor 2014 endet.

PUBLICUS: Herr Professor Huber, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Für PUBLICUS: Redaktion und Lektorat des Richard Boorberg Verlags

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