15.08.2011

Der moderierte Bürgerdialog

Neue Beteiligungsformen mit der „regionalen Wissensbilanz“

Der moderierte Bürgerdialog

Neue Beteiligungsformen mit der „regionalen Wissensbilanz“

Die bunte Vielfalt der Bürgerinteressen und -kompetenzen wird im moderierten 
Bürgerdialog gebündelt und strukturiert. | © Ivonne Wierink - Fotolia
Die bunte Vielfalt der Bürgerinteressen und -kompetenzen wird im moderierten Bürgerdialog gebündelt und strukturiert. | © Ivonne Wierink - Fotolia

Die gesellschaftliche Diskussion über neue Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern an der kommunalen bzw. regionalen Entwicklung hat deutlich an Fahrt gewonnen. Ergänzend zu den Verfahren der repräsentativen Demokratie werden sowohl bei Großprojekten wie Stuttgart 21 als auch bei Stadtteil- und anderen Kommunalprojekten und neben den etablierten Formen der Beteiligung neue informelle Formen und Methoden der Bürgerbeteiligung erprobt.

Diesen Versuchen liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass methodisch strukturierte und gesteuerte Prozesse der informellen Bürgerbeteiligung geeignet sind, das Vertrauen in die politischen und administrativen Institutionen zu stärken und die Akzeptanz von Strategien und Maßnahmen zu verbessern, wenn diese auch die Handschrift bürgerschaftlicher Beteiligung tragen.

Diesen Versuchen liegt aber auch die Erkenntnis zu Grunde, dass der latente Beteiligungswunsch nicht unbedingt auch der Beteiligungsrealität entspricht – oder dieser sich bei vielen Beteiligungsverfahren schnell auf den Personenkreis reduziert, der die Beteiligung gerne als Plattform außerparlamentarischer Opposition nutzt.


Daher sind bei der Entwicklung neuer Verfahren mögliche Beteiligungshemmnisse aufzuspüren. Es ist außerdem zu gewährleisten, dass das Beteiligungsergebnis auch tatsächlich das Resultat einer repräsentativen Bürgersicht ist und es sind die Prinzipien der repräsentativen Demokratie zu wahren.

Die Methode der „regionalen Wissensbilanz”

Die Führungsakademie Baden-Württemberg hat sich dieser Aufgabe gestellt. Sie hat dazu – aufbauend auf der Methode der „Wissensbilanz – Made in Germany” – eine „regionale Wissensbilanz” entwickelt. Diese Methode hat im Ortenaukreis ihren Praxistest bestanden. Der Ortenaukreis wurde für die Pilotierung von Bundespräsident Horst Köhler als „ausgewählter Ort 2010 im Land der Ideen” ausgezeichnet.

Die regionale Wissensbilanz geht über die bestehenden Beteiligungsformen (raumordnungsrechtliche Verfahren, Regionalkonferenz, Regionalmanagement, Bürgerentscheid, Planungszelle, Bürgerpanel, Zukunftskonferenz und Bürgerhaushalt) weit hinaus. Die regionale Wissensbilanz ermöglicht die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der strategischen Ausrichtung z. B. einer Kommune (Gemeinde oder Landkreis) oder eines Teiles davon. Der wesentliche Nutzen der Methode besteht darin, dass Bürgerinnen und Bürger frühzeitig sowohl in die Strategiefindung als auch in die Überprüfung bestehender Strategien bzw. Strategieentwicklungen oder in die Bündelung von Einzelaktivitäten zu einer neuen Gesamtstrategie eingebunden werden, bevor konkrete Maßnahmen beschlossen, in die Wege geleitet oder weiterverfolgt werden.

Gearbeitet wird mit repräsentativ ausgewählten Vertretern unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Gruppen, die möglichst bestimmten persönlichen Anforderungen entsprechen sollten. Mit Hilfe eines mehrstufigen moderierten Vorgehens werden die Handlungsfelder identifiziert, die den größtmöglichen Wirkungsnutzen erwarten lassen. An diesen Handlungsfeldern setzen dann die weiterführenden Maßnahmenempfehlungen an. Der offene Prozess kann von der örtlichen Presse begleitet werden. Die Ergebnisse aus den verschiedenen Dialog- und Bewertungsrunden werden in einem Bürgergutachten zusammengefasst. Dieses wird dem Auftraggeber und damit den politischen Entscheidungsträgern übergeben. Das Gutachten eröffnet diesen neben der in der Regel rein administrativen Sicht eine bürgerschaftliche Perspektive zu einer bestimmten Entwicklungsfrage.

Regionalentwicklung im Wandel

In der Wissensgesellschaft hängt der Erfolg von sozialen Systemen stark von weichen bzw. immateriellen wissens- und bildungsgesteuerten Faktoren ab. Dies gilt für Wirtschaft und Verwaltung gleichermaßen. Daher stehen heute auch Regionen, Landkreise oder Gemeinden in einer Standortkonkurrenz, wenn es vor allem unter Knappheitsbedingungen darum geht, qualifiziertes Beschäftigtenpotenzial vorzuweisen und zu pflegen, gute Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu gewährleisten sowie attraktive Lebens- und Erholungsräume anzubieten. Regionen konkurrieren um Wissen, Bildung und regionales Lernen als Grundlagen für Innovation und Wachstum sowie für wirtschaftliche Prosperität und soziale Kohäsion.

Die „regionale Wissensbilanz” als Diagnoseinstrument

Um in dieser Wettbewerbslage sich der eigenen Position bewusst zu werden, ist eine Analyse des regional verfügbaren Humanpotenzials – dazu gehören beispielsweise Bildungsstand und Qualifikationsniveau, Innovationskraft, Wertevorstellungen und soziale Situation – sowie der Rahmenbedingungen und der steuernden Strukturen erforderlich, um diese Realität wahrzunehmen und darauf aufzubauen. Erforderlich ist aber auch eine nachhaltige und wissensorientierte Politik und Verwaltungsführung als eine unabdingbare Grundlage für die Sicherung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Regionen. Deshalb müssen heute auch die Träger öffentlicher Verwaltung ihren Erfolg strategisch planen und realisieren und dazu ihr profilbildendes und profilprägendes Vermögen identifizieren und ausbauen.

Die regionale Wissensbilanz ist eine Weiterentwicklung der „Wissensbilanz – Made in Germany”. Mit Hilfe dieses Diagnoseinstruments kann das intellektuelle Vermögen eines sozialen Systems bewertet und gezielt verbessert werden. Ziel des 2003 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gestarteten Projekts war es, zunächst nur kleine und mittlere Unternehmen dazu zu bringen, sich ihres intellektuellen Vermögens bewusst zu werden und es als Wettbewerbsvorteil zu erkennen und zu nutzen. Die Wissensbilanzierung in Unternehmen ist zwischenzeitlich eine bundesweite Bewegung mit wachsender Tendenz geworden. Die Aufnahme nichtfinanzieller Leistungsindikatoren in den Lagebericht großer Kapitalgesellschaften (§ ;289 Abs. ;3 HGB) entspricht dieser Entwicklung.

Auch auf nationaler Ebene wird das „Intellectual Capital” evaluiert. So haben Österreich, Luxemburg, Israel, die Arabischen Emirate und andere Staaten nationale Wissensbilanzen entwickelt. In Österreich verpflichtet das Universitätsgesetz alle öffentlichen Universitäten, Wissensbilanzen zu erstellen und zu veröffentlichen. Die Weltbank erfasst und veröffentlicht mit dem Programm „Knowledge for Development” regelmäßig die weichen Standortfaktoren sämtlicher Staaten in einem Ranking. Die Führungsakademie Baden-Württemberg füllt mit der „regionalen Wissensbilanz” die bislang bestehende Lücke zwischen unternehmerischen sowie nationalen und supranationalen Bilanzierungen.

Stärkung der kommunalen und regionalen Demokratie

Herzstück der regionalen Wissensbilanz ist die Bewertung der Qualität und Systematik (Nachhaltigkeit) sowie der Ursachen-Wirkungszusammenhänge der einzelnen Einflussgrößen. In einem konstruktiven Dialog gelingt es, bestehende Kausalitäten in Frage zu stellen, sich von bestehenden Denkmustern und Vorfestlegungen zu lösen und auch neue Perspektiven einzunehmen.

Die Methode des vernetzten Denkens hilft die in Wirkungsgefügen regelmäßig bestehende Komplexität über eine Vielzahl singulärer Ursachen-Wirkungszusammenhänge zu erfassen und auf die entscheidenden Ursachen zu reduzieren. Sie fördert das systemische Denken der Teilnehmenden und ein kollektives Lernen.

Die Bewertungen werden von einem Bewertungsteam vorgenommen, das sich größtenteils aus ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzt, die in mehreren Rollen aktiv sind. Von der Zusammensetzung, dem Erfahrungsschatz des Teams, der Aufdeckung des impliziten Wissens und der Gestaltung eines konstruktiven Dialogs hängt wesentlich der Erfolg der regionalen Wissensbilanz ab.

Die regionale Wissensbilanz schafft einen „Lernraum”, in dem eine komplexe Problemstellung befähigend bearbeitet, das explizite und vor allen Dingen das implizite Wissen der Beteiligten im Dialog erschlossen und dabei gemeinsam gelernt werden kann. Sie trägt dazu bei, dass insbesondere die kommunale und regionale Demokratie, eine kundenfreundliche und kooperative Verwaltung sowie bestehende Netzwerke der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden.

Hinweis der Redaktion: Dr. Siegfried Mauch ist Autor des Titels „Moderierter Bürgerdialog”, der in der Schriftenreihe der Führungsakademie Baden-Württemberg im Richard Boorberg Verlag erschienen ist.

 

Dr. Siegfried Mauch

Führungsakademie Baden-Württemberg, Stuttgart
n/a