07.09.2023

„Der juristische Abschluss muss der digitalen Lebens- und Berufswirklichkeit entsprechen“

Interview mit Sintje Leßner, Präsidentin des Justizprüfungsamtes BW (Teil I)

„Der juristische Abschluss muss der digitalen Lebens- und Berufswirklichkeit entsprechen“

Interview mit Sintje Leßner, Präsidentin des Justizprüfungsamtes BW (Teil I)

Viele Studierende setzen sich mit der Entscheidung auseinander, ob sie ein kommerzielles Repetitorium oder das universitäre Repetitorium besuchen.  | © BillionPhotos.com - stock.adobe.
Viele Studierende setzen sich mit der Entscheidung auseinander, ob sie ein kommerzielles Repetitorium oder das universitäre Repetitorium besuchen.  | © BillionPhotos.com - stock.adobe.

Sintje Leßner, Präsidentin des Justizprüfungsamtes (JPA) Baden-Württemberg, im PUBLICUS-Interview zu den Anforderungen im Jura-Examen, der Arbeit  des JPA sowie Reformen bei juristischen Prüfungen (Teil I).

PUBLICUS: Die Anforderungen im Jura-Studium sind hoch. Dies spiegelt sich im Niveau der Prüfungen und der Prüfungsergebnisse, die im Vergleich zu anderen Studiengängen deutlich schlechter sind. Warum muss das aus Ihrer Sicht so sein?

Sintje Leßner: In den juristischen Staatsexamina gibt es keine Noteninflation, wie in manch anderen Bereichen und das ist auch gut so. Den Prüflingen wäre nicht geholfen, wenn wir pauschal bessere Noten vergeben würden: Bestnoten ohne Bestleistungen sind nichts wert. Wenn plötzlich alle mit „sehr gut“ oder „gut“ abschließen würden, wie soll man dann erkennen, wer wirklich eine besonders gute Leistung erbracht hat? Die Notenskala hat sich seit vielen Jahren bewährt und erlaubt eine hervorragende Differenzierung, gerade auch in den einzelnen Klausuren.


Endgültig die Erste juristische Prüfung nicht bestanden haben in den letzten zehn Jahren bis zu 5,8%

Außerdem sollte auch die im Jurastudium vermeintlich so hohe Nichtbestehensquote differenzierter betrachtet werden. Hier geht es insbesondere um die Frage, wie viele Prüflinge die Prüfung endgültig nicht bestanden haben. Da bewegen wir uns in Baden-Württemberg in den letzten zehn Jahren in der Staatsprüfung in der Ersten juristischen Prüfung in einem Bereich zwischen 3,80 % und 5,80 %. In der Zweiten juristischen Staatsprüfung liegt die Quote sogar nur zwischen 1,23 % und 2,85 %. Es ist also wirklich nicht so, dass die Studierenden am Ende des Studiums reihenweise durchs Examen fallen.

PUBLICUS: Können Sie uns einen Einblick gewähren, was eine gute Aufgabenstellung in den Examensklausuren auszeichnet, so dass eine faire Bewertung gewährleistet ist?

Leßner: Eine gute Aufgabenstellung zeichnet sich zunächst durch einen klar strukturierten Sachverhalt aus, der bestenfalls schon beim ersten Durchlesen vollständig erfasst werden kann. Der Sachverhalt enthält darüber hinaus – teils deutliche, teils auch eher versteckte – Hinweise auf die anzusprechenden Fragestellungen.

Außerdem ermöglicht es eine gute Aufgabenstellung allen Prüflingen, die sich sorgfältig auf die Prüfung vorbereitet haben, zu einer vertretbaren Lösung zu kommen und die Klausur zu bestehen. Sie enthält einfachere Fragestellungen für schwächere Kandidatinnen und Kandidaten ebenso, wie schwierigere Probleme für stärkere Prüflinge. Auf diese Weise kann eine Notendifferenzierung gelingen, die die Notenskala ausschöpft.

PUBLICUS: Welche Kriterien werden bei der Bewertung von Examensklausuren besonders berücksichtigt – und welche Aspekte kommen im aktuellen Prüfungsgeschehen noch zu kurz?

Leßner: Es kommt hier nicht auf die Kenntnis jedes noch so fernen Meinungsstreits oder der neuesten Rechtsprechung des BGH an. Entscheidend ist vielmehr, dass die Kandidatinnen und Kandidaten den zur Prüfung gestellten Fall einer sorgfältig begründeten und rechtlich vertretbaren Lösung zuführen und diese überzeugend darstellen. Wo unterschiedliche Meinungen vertreten werden können, weisen wir unsere Prüferinnen und Prüfer darauf hin, dass mit entsprechender Begründung jede Entscheidung akzeptiert werden soll.

Es geht also in den juristischen Staatsexamina nicht um die Wiedergabe auswendig gelernten Wissens, sondern um den Nachweis, dass man einen unbekannten Sachverhalt in einem begrenzten Zeitraum überzeugend lösen kann. Darauf achten unsere Prüferinnen und Prüfer. Das heißt aber natürlich nicht, dass man gewisse Dinge nicht auch einfach wissen muss. Wer etwa von der Sperrwirkung des EBV oder von der Abgrenzung zwischen Raub und räuberischer Erpressung noch nie was gehört hat, wird sich in den Klausuren vermutlich schwertun.

PUBLICUS: Gibt es Pläne, die psychische Belastung der Prüflinge während des Examens zu reduzieren?

Leßner: Eine gewisse Anspannung vor einer wichtigen Prüfung ist normal und gehört dazu. Angst sollte dagegen nicht herrschen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass die juristischen Staatsexamina als sehr belastend wahrgenommen werden und wir müssen uns fragen, ob und wie wir diese Belastung senken können. Die Einführung der Universitätsprüfung vor einigen Jahren, die immerhin mit 30 Prozent in die Endnote eingeht, konnte den Druck, den die Studierenden empfinden, offenbar nicht hinreichend mildern.

Weg vom „Alles-oder-Nichts-Charakter“ der Prüfungen

Vielleicht könnte man viel von dem – tatsächlichen oder auch gefühlten – Druck nehmen, wenn die Staatsexamina nicht mehr den „Alles-oder-nichts-Charakter“ hätten. Die Einführung eines integrierten Bachelors könnte ein Weg sein, den immer mehr juristische Fakultäten beschreiten und dem auch wir uns nicht verschließen. Die Prüflinge hätten dann die Gewissheit, dass sie selbst im Fall des endgültigen Nichtbestehens der Staatsprüfung einen Abschluss in der Tasche hätten. Das würden viele Studierende sicherlich als Erleichterung empfinden. Die Entscheidung über die Einführung des integrierten Bachelors liegt aber letztlich bei den Universitäten. Wir stehen dem Gedanken aufgeschlossen gegenüber und begleiten unsere Fakultäten auf diesem Weg gern.

PUBLICUS: Auf welche Weise könnte Prüflingen, die gehandicapt sind oder massive Prüfungsangst haben, dennoch das Bestehen der Prüfung erleichtert werden?

Leßner: Prüflinge mit körperlichen Beeinträchtigungen können einen sogenannten Nachteilsausgleich beantragen. Hierfür ist die Vorlage eines ärztlichen Attests notwendig. Wir prüfen dann, ob und auf welche Weise eine Beeinträchtigung auszugleichen ist. Sollte ein Ausgleich angezeigt sein, wird dieser regelmäßig in Form von Schreibpausen oder Schreibzeitverlängerungen gewährt.

Bei besonders gravierenden Beeinträchtigungen kommen auch andere Maßnahmen, wie etwa eine Schreibhilfe oder ein eigener Prüfungsraum in Betracht. Die Entscheidung wird in jedem Einzelfall individuell getroffen. Ich möchte aber betonen, dass es dabei nicht um Prüfungserleichterungen geht, sondern um einen Ausgleich für eine körperliche Beeinträchtigung und damit um die Herstellung der Chancengleichheit. Prüflinge mit Nachteilsausgleich schreiben dieselben Klausuren wie Prüflinge ohne Nachteilsausgleich. Auch bei der Korrektur werden dieselben Maßstäbe angelegt, weil unsere Prüfer nicht wissen, ob ein Prüfling einen Nachteilsausgleich erhalten hat.

© Justizministerium Baden-Württemberg

Zur Person: Sintje Leßner

Die Volljuristin ist seit 2017 Präsidentin des Landesjustizprüfungsamtes Baden-Württemberg. Nach Stationen als Staatsanwältin und Richterin am Landgericht Stuttgart (ab 2000) wechselte Leßner in das baden-württembergische Justizministerium. Seit 2018 gehört sie überdies dem Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg an.

 

 

Anmerkung: Dieser Beitrag wird fortgesetzt.

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Die Serie: Anforderungen im Jura-Examen

 

 

 

 

Jonathan Franz

Ehemaliger Vorsitzender des Bundesverbandes rechtswissenschaftlicher Fakultäten
 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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