25.09.2023

Straflosigkeit eines Baumbesetzers unter Berücksichtigung eines rechtfertigenden Notstands

Urteil des Amtsgerichts Flensburg

Straflosigkeit eines Baumbesetzers unter Berücksichtigung eines rechtfertigenden Notstands

Urteil des Amtsgerichts Flensburg

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

Die mit den Folgen des Klimawandels verbundenen Risiken bilden aktuell eine gegenwärtige Gefahr im Sinne des § 34 StGB. Unter diesem Vorsatz drang ein Umweltaktivist in das befriedete Besitztum eines anderen widerrechtlich ein. Das Amtsgericht sprach den Angeklagten von dem Vorwurf des Hausfriedensbruches frei. Die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB sind im Licht der sich sowohl aus der Staatszielbestimmung als auch auf die Grundrechte des Grundgesetzes stützenden Bedeutung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Klimaschutz auszulegen.

Sachverhalt

Nach dem Strafbefehl vom 09.06.2022, gegen den der Angeklagte mit Schreiben vom 23.06.2022, eingegangen bei Gericht am 28.06.2022, form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hat, liegt dem Angeklagten zur Last, in Flensburg am 22.02.2021 in das befriedete Besitztum eines anderen widerrechtlich eingedrungen zu sein. Das Amtsgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf des Hausfriedensbruches freigesprochen. Der Sachverhalt ergibt sich im Übrigen aus den Gründen.

StGB – § 34, § 123 Abs. 1 GG – Art. 20a


  1. Die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB sind im Licht der sich sowohl aus der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG ergebenden als auch auf die Grundrechte des Grundgesetzes stützenden und damit wechselseitig normativ verstärkten Bedeutung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Klimaschutz auszulegen.
  2. Die mit den Folgen des Klimawandels verbundenen Risiken bilden aktuell eine gegenwärtige Gefahr im Sinne des § 34 StGB.
  3. Unter verfassungsrechtlich gebotener Berücksichtigung der hohen Wertigkeit des Klimaschutzes sind im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit der Handlung im Sinne des § 34 StGB sowohl hohe Anforderungen an die objektiv gleiche Eignung von Handlungsalternativen zu stellen als auch dem Täter ein begrenzter Einschätzungsspielraum bei seiner ex ante erfolgenden Beurteilung einer gleichen Eignung einzuräumen.

Amtsgericht Flensburg (Urt. v. 07.11.2022 – 440 Cs 107 Js 7252/22)

Aus den Gründen

Der Angeklagte hat den Tatbestand des § 123 Abs. 1 StGB in der Form des Verweilens auf einem befriedeten Besitztum, trotz Aufforderung des Berechtigten zur Entfernung, erfüllt. Zur Überzeugung des Gerichts machte erst die Errichtung der Bauzäune am Morgen des 19.02.2021 das Grundstück zu einem tauglichen Tatobjekt im Sinne des § 123 StGB, da es erst dann ausreichend umfriedet war. Dabei wertet das Gericht die Tatsache, dass sich die J. Immobilien GmbH am Morgen des 19.02.2021 genötigt sah, das Grundstück bzw. den zu rodenden Bereich vollständig mit einem Bauzaun einzugrenzen, als klaren Hinweis darauf, dass selbst sie als Eigentümerin die bis dahin vorhandenen Zaunreste nicht als ausreichende physische Sicherung betrachtete, das Grundstück nicht zu betreten. In der durchgeführten Hauptverhandlung ergaben sich auch deutliche Hinweise darauf, dass die Eigentümerin das Betreten des Grundstücks mindestens bis Oktober 2020 hingenommen hat und das Grundstück mithin beliebig betreten werden konnte.

Eine Veränderung der Einfriedung wurde jedoch erst am Morgen des 19.02.2021 vorgenommen. Nachdem zu diesem Zeitpunkt aufgrund der dann dauerhaften Polizeipräsenz niemand mehr ungehindert auf das Grundstück gelangen konnte, muss sich der Angeklagte bereits auf dem Grundstück befunden haben und konnte lediglich das Tatbestandsmerkmal des Verweilens erfüllen. Ein widerrechtliches Eindringen konnte nicht festgestellt werden. Der Angeklagte handelte jedoch nicht rechtswidrig, weil vorliegend der Rechtfertigungsgrund des rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB erfüllt war. Der Angeklagte handelte, um eine gegenwärtige Gefahr von einem notstandsfähigen Rechtsgut abzuwenden, und verwendete dafür auch das im konkreten Fall mildeste geeignete Mittel. Die Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, ergibt, dass vorliegend das geschützte Interesse das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich überwiegt.

Die Tat war auch ein angemessenes Mittel, um die Gefahr abzuwenden. Es bestand vorliegend im Zeitpunkt der Tat eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut. Das notstandsfähige Rechtsgut ist hier der Klimaschutz als ein anderes Rechtsgut i. S. d. § 34 StGB. Er findet seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 20a GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet diese Staatszielbestimmung die staatlichen Organe in der aktuellen Situation zu einer Reduktion von Treibhausgasemissionen und zielt insofern auch auf die Herstellung von Klimaneutralität ab (BVerfG, NJW 2021, 1723, 1740; NJW 2022, 844 ff.).

Für die Qualifizierung des verfassungsrechtlich so zu verstehenden Regelungsgehalts der staatlichen Klimaschutzverpflichtung nach Art. 20a GG als notstandsfähiges Rechtsgut ist es unerheblich, dass dieses Rechtsgut nicht dem Angeklagten als Individualrechtsgut zusteht. Das Gericht geht mit der überwiegenden Auffassung in der strafrechtlichen Rechtsprechung und dem Schrifttum davon aus, dass § 34 StGB sowohl Rechtsgüter des Einzelnen als auch solche der Allgemeinheit umfasst. Dabei entfaltet die Klimaschutzverpflichtung gemäß Art. 20a GG keine unmittelbare Drittwirkung im Verhältnis zwischen Privaten. Sie bindet aber als unmittelbar geltende und justiziable Rechtsnorm alle staatlichen Organe.

Für die Gerichte folgt hieraus unter anderem, dass unbestimmte Rechtsbegriffe des einfachen Rechts, einschließlich des Begriffs des anderen Rechtsgutes sowie weiterer Rechtsbegriffe i. S. d. § 34 StGB, im Lichte und unter Berücksichtigung einer effektiven Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Klimaschutzverpflichtung gemäß Art. 20a GG auszulegen sind. Hieraus folgt zunächst, dass auch der Klimaschutz einschließlich der sich hieraus ergebenden Verpflichtung zur Herstellung von Klimaneutralität ein strafrechtlich notstandsfähiges Rechtsgut bildet. Aber selbst wenn man mit einer ebenfalls gelegentlich vertretenen Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, welche das Gericht nicht teilt, davon ausgehen sollte, dass § 34 StGB ausschließlich Individualrechtsgüter als notstandsfähige Rechtsgüter erfasst, wäre diese Voraussetzung vorliegend erfüllt.

Das Gericht geht davon aus, dass spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.03.2021 (NJW 2021, 1723 ff.; vgl. auch nachfolgend BVerfG, NJW 2022, 844 ff.) der Klimaschutz über Art. 20a GG hinaus auch individualverfassungsrechtlich in den Grundrechten des GG seine positivrechtliche Basis findet und damit unter anderem über die intertemporale Freiheitssicherung der Grundrechte ebenfalls zu den durch § 34 StGB geschützten Individualrechtsgütern gehört.

Weiterhin geht das Gericht vor dem Hintergrund dieser doppelten konstitutionellen Rechtsgrundlage des Klimaschutzes im GG auch davon aus, dass die Staatszielbestimmung aus Art. 20a GG und die einschlägige intertemporale Freiheitssicherung sowie Schutzpflicht der Grundrechte aus verfassungsrechtlicher Perspektive im Hinblick auf die normative Relevanz der Verpflichtung zum Klimaschutz als notstandsfähiges Rechtsgut in einem Verhältnis wechselseitiger Verstärkung stehen; ein Gesichtspunkt, den es nicht zuletzt bei der Auslegung der weiteren Voraussetzungen des § 34 StGB zu berücksichtigen gilt.

Im Zeitpunkt der Tat bestand auch eine gegenwärtige Gefahr für das von § 34 StGB umfasste Rechtsgut des Klimaschutzes. Eine Gefahr ist ein Zustand, bei dem es nach den konkreten tatsächlichen Umständen wahrscheinlich ist, dass es zum Eintritt eines schädigenden Ereignisses kommt. Dass die mit der aktuellen globalen Erderwärmung und dem nachweisbaren Klimawandel verbundenen negativen Folgen wie Hitzewellen, Überschwemmungen sowie Wirbelstürmen große Gefahren u. a. für die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgüter darstellen, ist wissenschaftlich in hinreichender Weise belegt.

So hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24.3.2021 klargestellt, dass Umweltbelastungen und die Gefahren des Klimawandels mittlerweile grundsätzlich eine gegenwärtige Gefahr unter anderem für das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darstellen. Dabei ist nach Auffassung des Gerichts bei der Feststellung des Vorliegens einer gegenwärtigen Gefahr auch zu berücksichtigen, dass sich unter Zugrundelegung der aktuellen, in vertretbarer Weise als insgesamt unzureichend wahrnehmbaren Klimaschutzmaßnahmen diese Gefahren in den zukünftigen Jahrzehnten aller Wahrscheinlichkeit nach in noch wesentlich größerem Umfang realisieren werden, ohne dass dann den mit hoher Wahrscheinlichkeit vielfach irreversiblen Schäden durch entsprechende Maßnahmen des Klimaschutzes noch wirksam begegnet werden könnte.

Die Gegenwärtigkeit einer Gefahr i. S. d. § 34 StGB wird nämlich zu Recht auch dann angenommen, wenn zwar der weitere Schadenseintritt möglicherweise nicht unmittelbar bevorsteht, er jedoch nur noch durch sofortiges Handeln abgewendet werden kann. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass dies vorliegend auf die Gefahren des Klimawandels zutrifft. Die gegenwärtige Gefahr für das Rechtsgut Klimaschutz war vorliegend auch nicht anders abwendbar. Die Tat des Angeklagten stellte das im konkreten Fall mildeste geeignete Mittel dar.

Den vollständigen Beitrag lesen Sie im Neuen Polizeiarchiv 7/2023, Lz. 304.

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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