28.09.2023

Verhältnismäßigkeit der Ausweisung wegen Gewaltverbrechen

Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt

Verhältnismäßigkeit der Ausweisung wegen Gewaltverbrechen

Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 1 AufenthG müsssen für eine rechtmäßige Ausweisung erfüllt sein. | © CrazyCloud - stock.adobe.com
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 1 AufenthG müsssen für eine rechtmäßige Ausweisung erfüllt sein. | © CrazyCloud - stock.adobe.com

Die Ausweisung eines mehrfach straffällig gewordenen russischen Staatsangehörigen mit Niederlassungserlaubnis ist laut OVG Sachsen-Anhalt recht- und verhältnismäßig. Dies begründet es damit, dass der Betroffene weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung i. S. d. § 53 Abs. 1 AufenthG darstelle.

Ein 24-jähriger russischer Staatsangehöriger und Inhaber einer Niederlassungserlaubnis gem. § 26 Abs. 3 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) wurde mit Urteil des Landgerichts (LG) vom 23.03.2020 wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 10 Monaten verurteilt.

Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 08.01.2021 wurde die dem Ausländer mit Bescheid vom 07.09.2006 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen.


Mit Urteil des Amtsgerichts (AmtsG) vom 12.10.2021 wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung unter Auflösung der im Urteil des LG vom 23.03.2020 gebildeten Gesamtstrafe und unter Einbeziehung der dort festgesetzten Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit wurde auf zwei Jahre festgesetzt. Mit Bescheid vom 11.11.2021 wies ihn die Ausländerbehörde aus der Bundesrepublik Deutschland aus und traf weitere Anordnungen.

Mit Beschluss vom 09.06.2022 lehnte das Verwaltungsgericht (VG) den Antrag des Ausländers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Ausweisungsverfügung ab und führte zur Begründung aus, die Ausweisung sei offensichtlich rechtmäßig.

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 1 AufenthG seien erfüllt. Ihm komme wegen des Widerrufs des Flüchtlingsschutzes kein besonderer Ausweisungsschutz zu. Es lägen besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1 a Buchst. b AufenthG sowie ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor.

Ausweisung durch spezialpräventive und generalpräventive Gründe getragen

Von dem Verhalten des Betroffenen gehe aktuell weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung i. S. d. § 53 Abs. 1 AufenthG aus. Die Ausweisung werde durch spezialpräventive und generalpräventive Gründe getragen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei eine Wiederholungsgefahr festzustellen.

Im Übrigen werde das Ausweisungsinteresse auch durch generalpräventive Gründe getragen. Das generalpräventive Ausweisungsinteresse sei auch noch aktuell. Den besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen stünden besonders schwerwiegende Bleibeintressen des Ausländers gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG gegenüber, da er sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, eine Niederlassungserlaubnis besitze und als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist sei.

Die unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmende Gesamtabwägung gem. § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG der gegenseitigen Interessen ergebe unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses gegenüber den Bleibeinteressen.

Mit der gegen diese Entscheidung des VG gerichteten Beschwerde hatte der Ausländer beim Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (OVG) vorgebracht, dass er faktischer Inländer sei. Das VG habe seine Verwurzelung im Bundesgebiet nicht hinreichend berücksichtigt. Er sei einen Großteil seines Lebens in Deutschland zur Schule gegangen, habe hier einen Schulabschluss erlangt und seine gesamte Familie sei in Deutschland.

Kein generelles Ausweisungsverbot für faktische Inländer

Er sei seit seiner Einreise in die Bundesrepublik nie wieder in der Russischen Föderation gewesen. Er spreche kein Russisch und habe keine Familie dort. Er sei gegen den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und verurteile diesen scharf. Weiterhin stehe er der repressiven Politik Russlands gegen Regimegegner, Oppositionelle, Homosexuelle oder andere Minderheiten sehr kritisch gegenüber.

Wie das VG daher davon ausgehen könne, dass lediglich geringe Integrationsschwierigkeiten vorliegen würden, sei nicht nachvollziehbar. Er wäre vielmehr vollständig hilflos, isoliert und nicht in der Lage, in der Russischen Föderation zurecht zu kommen. Darüber hinaus müsse er mit Problemen aufgrund seiner liberalen und kritischen Einstellung rechnen.

Diese Darlegungen konnten der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind die Maßstäbe, die für die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 8 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK gelten, auch bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung heranzuziehen.

Danach besteht zwar für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen.

Ausweisung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK verhältnismäßig

Hierbei sind die Verwurzelung des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland durch einen langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet, der Umstand, dass er hier aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, seine Integration in die deutsche Gesellschaft und das Fehlen tatsächlicher Bindungen an den Staat seiner Staatsangehörigkeit, also seine Entwurzelung, angemessen zu würdigen.

Nach den Feststellungen des OVG wird die angefochtene Entscheidung des VG gerecht. Dieses hat das Recht des Ausländers auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK geprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sich dessen Ausweisung aus dem Bundesgebiet im Lichte der Gesamtumstände auch unter Berücksichtigung der Anforderungen von Art. 8 EMRK als verhältnismäßig erweise.

Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Das VG hat insoweit zur Begründung ausgeführt, es verkenne nicht, dass der 24 Jahre alte Mann seit nunmehr zwei Jahrzehnten seinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik und den Großteil seines bisherigen Lebens im Bundesgebiet verbracht habe. Er sei bereits im Juli 2003 in das Bundesgebiet eingereist, wobei sein Aufenthalt bis zum Erlass des streitigen Bescheids durchgängig rechtmäßig gewesen sei.

Zu seinen Gunsten sei auch zu berücksichtigen, dass er über sichere Kenntnisse der deutschen Sprache verfüge und erfolgreich einen Realschulabschluss erlangt habe. Trotz dieser Umstände sei es ihm jedoch nicht gelungen, sich nachhaltig in die hiesigen Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse zu integrieren.

(…)

OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.08.2022 – 2 M 67/22

 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der Fundstelle Baden-Württemberg 13/2023, Rn. 160.

 
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