26.09.2023

Kommt der virtuelle Gerichtssaal?

32. EDV-Gerichtstag in Saarbrücken

Kommt der virtuelle Gerichtssaal?

32. EDV-Gerichtstag in Saarbrücken

Der 32. EDV-Gerichtstag befasste sich mit aktuellen Fragen der Digitalisierung bei Gericht und Verwaltung. | ©  Alexander Limbach - stock.adobe.com
Der 32. EDV-Gerichtstag befasste sich mit aktuellen Fragen der Digitalisierung bei Gericht und Verwaltung. | © Alexander Limbach - stock.adobe.com

Der EDV-Gerichtstag befasste sich in diesem Jahr einmal mehr mit aktuellen Fragen der Digitalisierung bei Gericht und Verwaltung. Rund 400 Juristen und IT-Experten waren dafür nach Saarbrücken gekommen.

Zum Start des Gerichtstages standen die rechtlichen und die tatsächlichen Entwicklungen für und in der »Digitalen Gerichtsöffentlichkeit« im Mittelpunkt. Prof. Dr. Anne Paschke (Technischen Universität Braunschweig) hatte dies als Thema ihres Impulsvortrags gewählt, in dem sie die aktuelle Debatte zu virtuellen Gerichtsverhandlungen auf politischer, wissenschaftlicher und praktischer Ebene erörterte. Hierbei sollen primär die Verfahrensbeteiligten via Videoübertragung in einen »virtuellen Gerichtssaal« zusammengeführt werden. Davon muss man gedanklich die Beteiligung der Öffentlichkeit via Videoübertragung trennen. Legt man amerikanische Verhältnisse zugrunde, mit über 50 verschiedenen Regelungen für die virtuelle Gerichtsöffentlichkeit, ist die Bandbreite der Lösungen sehr weit. Einige der in den USA gefundenen Lösungen gelten dabei als vorbildlich – in vielen US-Staaten haben virtuelle Übertragungen aus Gerichtssälen aber auch zu einem gewissen Rechts-Voyeurismus geführt.

Die Situation in Deutschland

Alle in Deutschland diskutierten Ansätze zur digitalen Gerichtsöffentlichkeit formulieren präventiv strafbewehrte Regeln, um dem missbräuchlichen Streamen von Gerichtsverhandlungen vorzubeugen.


Gleichwohl ist der aktuell vorliegende Gesetzentwurf des Bundesministerium der Justiz (BMJ) nicht zielführend, denn er will zwar alle Prozessbeteiligten via Videoübertragung zusammenführen, gewährt der Gerichtsöffentlichkeit aber nur einen Zugang vor Ort. Kurzum: Der Gerichtsaal wird zum Kinosaal, die Verfahrensbeteiligten treffen sich in einem virtuellen Gerichtssaal, der Bürger sitzt vor Ort in einem Gerichtssaal und schaut bei der virtuellen Verhandlung auf einem Gerichtsmonitor zu.

Der Vortrag von Prof. Paschke zeigte auf, wie vielfältig die diskutierten Ansätze sind, wie viele Gefahren in der Umsetzung liegen können. Er sprach aber auch an, wie groß die Chancen für den Rechtsstaat mit einer solchen Lösung wären. Paschke sieht jedoch viele Vorbehalte in der Justiz und ungeklärte Fragen bei der Finanzierung von virtuellen Gerichtsverhandlungen.

In einem weiteren Impulsvortrag von Prof. Dr. Dominik Brodowski, von der Universität des Saarlandes (Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht), wurden die Chancen und die etwaigen Gefahren der »Digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung« aufgezeigt.

Wortprotokolle statt „Formalprotokolle“

Die Rechtswissenschaft bemängele schon sehr lange, dass die strafgerichtliche Hauptverhandlung nur durch »Formal-Protokolle«, nicht aber durch detaillierte »Wort-Protokolle« dokumentiert werde. Dies führe in langwierigen Verfahren regelmäßig zu Streitigkeiten über den tatsächlichen Inhalt von nicht protokollierten Aussagen.

In der aktuellen politischen und wissenschaftlichen Diskussion wird sowohl die Videoaufzeichnung als auch die Tonaufzeichnung erörtert. Die großen Vorteile einer Videoaufzeichnung ergeben sich schon automatisch aus dem Bild eines schweigenden und nur betroffen nickenden Angeklagten oder Zeugen; eine Information, die dem reinen Wortprotokoll verschlossen bliebe.

Gleichwohl werde es, so Brodowski, aus politischen und finanziellen Gründen voraussichtlich in Deutschland keine Videoaufzeichnung von Hauptverhandlungen geben. Der BMJ-Gesetzentwurf favorisiert eine reine Tonaufzeichnung, die On-Demand durch ein Transkript unmittelbar in oder spätestens nach einer Verhandlung den Verfahrensbeteiligten zur Verfügung gestellt werden könne. Das Transkript negiert damit den verständlichen Wunsch der Verfahrensbeteiligten bei Uneinigkeit über das Gesagte, noch während der Verhandlung die Tonaufnahme „zurück und vorzuspulen“.
In jedem Fall aber sehen alle diskutierten Vorschläge vor, dass die tatrichterlichen Feststellungen weiterhin in der Revision verschlossen bleiben, so Brodowski.

»Legal Tech«-Anwendungen aus der Praxis war Gegenstand eines weiteren Panels. Hierbei ist insbesondere die KI »Frauke« zu erwähnen. Am Frankfurter Amtsgericht hilft »Frauke« Betroffenen von Flugverspätungen oder Flugausfällen, Entschädigungen zu erhalten. Da über 10.000 Verfahren zu Fluggastrechten jedes Jahr beim Frankfurter Amtsgericht entschieden werden, soll die Software auf Basis Künstlicher Intelligenz dabei helfen, die gerichtlichen Verfahren zu beschleunigen. »Frauke« ist ein Pilotprojekt, welches das Amtsgericht in Frankfurt 2022 gemeinsam mit dem IT-Unternehmen IBM und der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung gestartet hat. Die Software stellt auf Basis vergangener Entscheidungen Urteilsvorschläge zusammen.

Hinter „Frauke“ verbirgt sich „Frankfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch“

Der Name steht dabei für die Abkürzung von »Frankfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch«. Diese Massenverfahren stellen den idealen Anwendungsfall für »Legal Tech«-Anwendungen dar, da dort in vielen hundert Fällen die exakt gleichen anspruchsbegründenden Tatsachen vorliegen: Gleiche Flugnummer, gleiche Buchung, meteorologische Daten, Zeitraum der Verspätung oder Ausfall des Fluges. Eine begründete Entscheidung im einen Fall ist damit problemlos in hunderten anderen Fällen ebenso richtig.

Ein weiteres »Legal Tech«-Vorhaben beschäftigt sich mit dem strukturierten Parteivortrag: Da Massenverfahren wie Diesel- oder Fluggastklagen zunehmend die Gerichte in Bayern und Niedersachsen belasten, wollen diese Länder mit einem gemeinsam gestarteten Forschungsprojekt der Universität Regensburg für Entlastung sorgen.

Digitale Aufbereitung des Parteivortrags

Zurzeit erproben Landgerichte in Bayern und Niedersachen die digitale Aufbereitung des Parteivortrags. Dazu sollen alle Schriftsätze in einem digitalen Basisdokument gesammelt werden. Vorteil: Der Verfahrensstoff ist übersichtlich dargestellt. Das soll den Zivilprozess für alle Parteien transparenter und effektiver machen. Zudem kann das Gericht in diesem digitalen Basisdokument zielgerichtete Hinweise erteilen und das Verfahren strukturiert führen.

Inwieweit die Verfahrensbeteiligten bereit sind, solche restriktiven Vorgaben zu erfüllen und damit anwaltliche Freiheiten freiwillig einzubüßen bereit sind, bleibt abzuwarten. Erfolg werden solche Projekte nur dann haben, wenn der betroffene Anwalt darin nicht primär eine Einschränkung seiner anwaltlichen Freiheiten sieht, sondern die damit verbundene Effizienzsteigerung als eigenen wirtschaftlichen Vorteil erkennt.

Dr. Anke Morsch (Vorstandsvorsitzende des EDV-Gerichtstags und Richterin am Finanzgericht) hatte die 32. Veranstaltung eröffnet, ehe Grußworte von Univ.-Prof. Dr. Manfred J. Schmitt (Präsident der Universität des Saarlandes), Petra Berg (Justizministerin des Saarlandes), sowie Univ.-Prof. Dr. Christoph Gröpl (Universität des Saarlandes) mit Wortbeiträgen folgten. Weiterhin richtete sich Marco Buschmann, der Bundesjustizminister, mit einem Grußwort an das Auditorium des EDV-Gerichtstags.

Die Themen des 32. EDV-Gerichtstages im Überblick

  • Automatisierung von Entscheidungen – rechtliche und technische Fragen
  • Barrierefreiheit: Korrekte UI-Elemente – ein Schlüssel zur Barrierefreiheit
  • ChatGPT prompting für Legal Tech Anwendungen
  • „Court as a service and not a place?!“– Zivilgerichte im digitalen Umbruch
  • Datenrecht und Data Act
  • Dialogbasierte technische Sprachsysteme: Chat GPT und Co.
  • Die besonderen elektronischen Postfächer
  • Die Zukunft der elektronischen Signatur zwischen Quantencomputer und eIDAS-Revision
  • Digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung
  • Digitale Gerichtsöffentlichkeit
  • Digitale Normen – vom Referenten­entwurf bis zur Verkündung
  • Förderung von Legal Tech-Projekten durch die Justiz­ministerien
  • EU-Arbeitskreis: Anpassungserfordernisse nach Verabschiedung der geplanten EU-Verordnung zur Festlegung von Normen für die digitale Kommunikation in Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil-, Handels- und Strafsachen – COM(2021) 759 final – in Deutschland
  • Schnittstelle eJustice/eGovernment „Datenzugriffsrechte auf fremde Akten statt Aktenübermittlung – Technisch-organisatorische Möglichkeiten und rechtliche Optionen”
  • Update IT-Sicherheit für die Praxis

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