25.09.2023

Erweiterung einer Abfalldeponie in einem Vogelschutzgebiet

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Erweiterung einer Abfalldeponie in einem Vogelschutzgebiet

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Ein Beitrag aus »Die Gemeindeverwaltung Rheinland-Pfalz« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Die Gemeindeverwaltung Rheinland-Pfalz« | © emmi - Fotolia / RBV

Nach dem Abschluss des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens für europäische Vogelschutzgebiete besteht eine widerlegliche Vermutung, dass im Standarddatenbogen die für die Gebietsauswahl und -meldung wertbestimmenden Vogelarten vollständig und abschließend aufgezählt sind. Wird die Vermutung widerlegt, erfordert die nachträgliche Einstufung einer Vogelart als wertbestimmend für ein bestimmtes Vogelschutzgebiet kein erneutes Meldeverfahren nach der Vogelschutzrichtlinie mit einer Ergänzung des Standarddatenbogens. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Zusammenhang mit der streitigen Erweiterung einer Abfalldeponie im Bereich eines – faktischen – Vogelschutzgebietes entschieden. Die Gebietsmeldung ist – so das BVerwG – keine Voraussetzung des sich aus der Vogelschutzrichtlinie ergebenden Artenschutzes.

Zum Sachverhalt

In dem Verfahren geht es um die Erweiterung einer Abfallentsorgungsanlage im Bereich eines faktischen Vogelschutzgebietes. Bei der Abfallentsorgungsanlage handelt es sich um eine im Landkreis N. gelegene Deponie der Deponieklasse 1 mit rd. 10 ha Fläche, auf der insbesondere Aschen und Rückstände aus mit Steinkohle betriebenen Industriekraftwerken abgelagert werden. Die Betreiberin beantragte 2014 eine Erweiterung der Deponiefläche um rd. 7 ha. Ungefähr 4,5 ha der Erweiterungsfläche sollten in dem knapp 17.000 ha umfassenden EU-Vogelschutzgebiet V68 „Sollingvorland“ liegen. Dieses Vogelschutzgebiet war der EU-Kommission 2007 gemeldet worden. Für die Vogelart Neuntöter (Lanius collurio) waren in der Meldung vier Exemplare angegeben worden.

Zudem war ausgeführt worden, dass das Gebiet eine hohe Bedeutung für Brutvogelarten der strukturreichen Kulturlandschaft des Berglandes (Rotmilan, Uhu) habe. Für die Erweiterungsfläche der Deponie im Bereich des gemeldeten EU-Vogelschutzgebietes war – im Gegensatz zu anderen Teilflächen – keine Unterschutzstellung nach nationalem Naturschutzrecht erfolgt. Während des Planfeststellungsverfahrens für die Deponieerweiterung äußerten die zuständigen Behörden Bedenken gegen die Zulässigkeit im Hinblick auf die Betroffenheit des Neuntöters. Zwischenzeitlich seien 223 Neuntöter-Paare dokumentiert worden. Das Gebiet sei ein faktisches Vogelschutzgebiet, weshalb eine Verschlechterung des Erhaltungszustandes unzulässig sei.


Das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt stellte 2017 den Plan der Klägerin für die Deponieerweiterung – unter Ablehnung der Erweiterung im Bereich des Vogelschutzgebietes – fest. Die Klage gegen diese Ablehnung hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (NdsOVG) abgewiesen. Es führte in seinem Urteil aus, es sei nicht sichergestellt, dass durch die beantragte Erweiterung der Deponie keine Gefahren für geschützte Güter hervorgerufen würden. Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der EU-Vogelschutzrichtlinie setze der abfallrechtlichen Fachplanung Schranken, die im Wege der Abwägung nicht überwunden werden könnten.

Gemäß dieser Vorschrift haben die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel in Schutzgebieten zu vermeiden. Dieses strenge Schutzregime, das gleichermaßen für faktische Vogelschutzgebiete gelte, sei für die streitige Erweiterungsfläche der Deponie anzuwenden. Die Entscheidung des NdsOVG wurde vom BVerwG bestätigt.

Vermutung für vollständige und abschließende Aufzählung wertbestimmender Vogelarten im Standarddatenbogen widerlegbar

Das BVerwG stellt fest, dass, soweit die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur Ausweisung von Vogelschutzgebieten nicht nachkommen, solche Gebiete als sog. Faktische Vogelschutzgebiete bis zu ihrer ordnungsgemäßen Unterschutzstellung den strengen Schutz des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Vogelschutzrichtlinie erfahren. Das NdsOVG hat zu Recht annehmen dürfen, dass es sich beim Neuntöter um eine für das faktische Vogelschutzgebiet wertbestimmende Art handelt. Nach Abschluss des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens für europäische Vogelschutzgebiete besteht laut BVerwG eine widerlegliche Vermutung, dass im Standarddatenbogen die für die Gebietsauswahl und -meldung wertbestimmenden Vogelarten vollständig und abschließend aufgezählt sind.

In diesem Fall spricht jedoch Überwiegendes dafür, dass die Populationsgröße des Neuntöters von mind. 223 Exemplaren bereits bei der Gebietsmeldung im Jahr 2007 vorhanden gewesen ist, es sich also um einen stetigen Bestand dieser Art handelt. Das NdsOVG ist nach der Entscheidung des BVerwG zu Recht zu dem Schluss gelangt, dass es sich bei dem Vogelschutzgebiet „Sollingvorland“ um eines der zum Schutz des Neuntöters am besten geeigneten Gebiete handelt, dessen Ausweisung als Schutzgebiet für die Erhaltung dieser Art auch bereits bei der Gebietsmeldung im Jahr 2007 erforderlich gewesen wäre.

Erneutes Meldeverfahren bei nachträglicher Einstufung als wertbestimmend nicht erforderlich

Laut dem BVerwG erfordert die nachträgliche Einstufung einer Vogelart als wertbestimmend für ein bestimmtes Vogelschutzgebiet nicht ein erneutes Meldeverfahren nach der Vogelschutzrichtlinie mit einer Ergänzung des Standarddatenbogens. Deshalb bedurfte es in diesem Fall zur Widerlegung der vorgenannten Vermutung und für eine Berücksichtigung des Neuntöters als wertbestimmende Art nicht der Durchführung eines weiteren Meldeverfahrens zur Ergänzung des Standarddatenbogens. Die Gebietsmeldung ist laut BVerwG, wie bereits die Rechtsfigur des faktischen Vogelschutzgebiets verdeutlicht, keine Voraussetzung des sich aus einer unmittelbaren Anwendung der Vogelschutzrichtlinie ergebenden Artenschutzes.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17.12.2021 – 7 C 7.20

Entnommen aus der Gemeindeverwaltung Rheinland-Pfalz 06/2023, Rn. 56.

 

Dr. Daniela Franke

Geschäftsführende Direktorin, Landkreistag Rheinland-Pfalz
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