15.10.2010

Das Ende der Privatsphäre?

Die verfassungsrechtliche Problematik von Google Street View

Das Ende der Privatsphäre?

Die verfassungsrechtliche Problematik von Google Street View

Muss der Staat seine Bürger schützen? | © Benjamin Haas - Fotolia
Muss der Staat seine Bürger schützen? | © Benjamin Haas - Fotolia

Über die datenschutzrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit Google’s Geodatendienst Street View ist in der letzten Zeit in Presse und Wissenschaft viel diskutiert worden. Die Stellungnahmen gehen die Street-View-Problematik dabei meist aus der Perspektive der bestehenden gesetzlichen Regelungen an. Das Gros der Untersuchungen kommt zu dem Ergebnis, dass die Privatsphäre der Bundesbürger nicht hinreichend geschützt sei. Gefordert wird daher der Erlass weitergehender datenschutzrechtlicher Regelungen durch den Gesetzgeber. Die vorliegende Betrachtung hat das Ansinnen, Street View vor dem Hintergrund einer grundsätzlicheren Fragestellung zu betrachten: Provoziert die durch Street View ausgelöste Gefährdungslage für die Grundrechte der durch die Abbildungen Betroffenen gar eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, sich schützend vor seine Bürger zu stellen? Und – wenn ja – welche Maßnahmen sind am besten geeignet, das grundgesetzliche Spannungsverhältnis aufzulösen?

Ausgangspunkt grundrechtliche Schutzpflichten

Dogmatischer Anknüpfungspunkt einer verfassungsrechtlichen Pflicht zum Tätigwerden ist die sog. Schutzpflichtendimension der Grundrechte, die das BVerfG aus Art. 1 I 2 GG herleitet und inzwischen auch auf andere Grundrechte ausgedehnt hat. Mag im Einzelnen auch noch nicht abschließend geklärt sein, wann, wie und mit welchem Inhalt der Staat verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte vorzunehmen, geht doch das BVerfG davon aus, dass dies nur bei Unterschreiten des sogenannten Untermaßverbots der Fall ist. Die Mindestschutzerfordernisse hängen von Art, Nähe und Ausmaß möglicher Gefahren, dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab. Eine durchsetzbare Schutzpflicht kann jedenfalls nur angenommen werden, wenn eine Beeinträchtigung der Grundrechte droht, welche diese in ihrem Kernbereich berührt und im Kontext der anderen betroffenen Rechtsgüter ein Zurücktreten mit der verfassungsrechtlichen Werteordnung unvereinbar wäre.

Grundrechte der Abgebildeten

Eine Grundrechtsverletzung liegt nur dann vor, wenn die Abbildungen in Grundrechte eingreifen und dies nicht durch konkurrierende Interessen gerechtfertigt ist. Auf Seiten der Bürger kommt zunächst ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht am eigenen Bild (beide Art. 2 I i.V.m. 1 I GG) in Betracht. Soweit im Zuge der Aufnahmen Passanten unanonymisiert erfasst werden, sind sie in beiden Schutzbereichen betroffen. Denn die frei zugängliche Bildveröffentlichung unter Bezugnahme auf die konkrete Örtlichkeit ermöglicht die Wiedererkennbarkeit durch alle Internet-User. Auch die Abbildung von Häusern sowie Kfz-Kennzeichen eröffnen den Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts. Denn dieses schützt beispielsweise auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Einzelnen, über die Fotos seines Hauses oder Pkw ein aussagekräftiges Bild zeichnen können. Weisen die Bilder eine hinreichend effektive Anonymisierung von Personen, Hausnummern und Kfz-Kennzeichen auf, wird der grundrechtliche Schutzbereich mangels Personenbezuges allerdings nicht mehr erreicht.


Das durch Art. 14 I GG geschützte Eigentum ist demgegenüber nur in Ausnahmefällen berührt. Da es nur die Zuordnung eines Eigentumsobjekts zu einem Rechtsträger gewährleistet, ist das Eigentumsrecht der Hausbesitzer nicht berührt, wenn die Hausfassade von einer allgemein zugänglichen Stelle aus fotografiert wird. Demgegenüber sind die wirtschaftlichen Verwertungsrechte eines Urhebers an seinem Werk durch die Eigentumsgarantie abgesichert. Durch die Abbildung von geistigen Schöpfungen (z. B . Baukunst, Denkmäler, Werbeplakate) ohne Einwilligung des Urhebers, greift Street View daher auch in das Eigentumsrecht ein.

 

Grundrechte von Google

Die Grundrechte der Betroffenen sind aber nur verletzt, wenn ihre Beeinträchtigung nicht durch verfassungsrechtlich geschützte Interessen von Google gerechtfertigt ist. Neben der unternehmerischen Betätigungsfreiheit (Art. 12 I GG) steht Google hier insbesondere das Grundrecht der Informationsfreiheit zur Seite (Art. 5 I 1 GG). Danach ist es dem Einzelnen gestattet, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten. Die Informationsfreiheit umfasst nicht nur ein aktives Handeln des Rezipienten zur Informationsverschaffung, sondern auch die Entgegennahme von Informationen als Voraussetzung, um Informationen weiterzugeben. Allgemein zugänglich ist eine Quelle, wenn sie geeignet ist, der Allgemeinheit Informationen zu beschaffen. Eine Beschränkung auf bestimmte Arten von Informationen gibt es dabei nicht. Daher wird auch das Abfotografieren von Straßenansichten erfasst.

 

Konkrete Güterabwägung

Sind mithin für beide Seiten Grundrechtspositionen eröffnet, ist im Wege der Abwägung zu ermitteln, ob Google’s verfassungsrechtlich geschützte Interessen den Eingriff rechtfertigen. Auf der Hand liegt, dass Street View die natürlichen Beschränkungen einer Vor-Ort-Erhebung von Straßenansichten verändert. Durch die freie Abrufbarkeit sind räumliche und zeitliche Barrieren weitgehend aufgehoben. Ferner sind die Einsatzmöglichkeiten der Street-View-Daten in ihrer Vielfalt unvorhersehbar. Sie können auch extern gespeichert werden, was in hohem und nicht kontrollierbarem Maße eine Rekombinierbarkeit und Vernetzung der Daten ermöglicht. Auf der anderen Seite enthalten die Abbildungen in der Regel keine besonders sensiblen Daten und Street View zeigt auch keine Echtzeit-Darstellungen, sodass Persönlichkeitsprofile nicht erstellt werden können. Nicht außer Acht zu lassen ist ferner, dass Street View durchaus positiven gesellschaftlichen und individuellen Nutzen hervorbringen kann – nicht zuletzt deshalb, weil nunmehr zeitlicher und finanzieller Einsatz deutlich reduziert wird, was bisher ungenutzte individuelle Betätigungsfelder eröffnen kann. Eine ganz grundlegende Facette im Rahmen der Abwägung stellt schließlich der Aspekt der Öffentlichkeit dar, der sich in drei Wertentscheidungen des Grundgesetzes widerspiegelt: Erstens stellt die Informationsfreiheit aus Art. 5 I GG nicht nur ein Grundrecht von Google dar, sondern auch ein grundlegendes Interesse der demokratischen Öffentlichkeit. Die staatsbürgerliche Mitgestaltung des demokratischen Prozesses setzt voraus, dass man sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert unterrichten kann. Die Informationsfreiheit dient damit als Voraussetzung für Meinungsfreiheit und Demokratie.

Zu diesem Prozess tragen zweitens auch Presse und Rundfunk entscheidend bei. Ihr Schutz in Art. 5 I GG gewährleistet auch die publizistische Vorbereitungstätigkeit, zu der insbesondere die Beschaffung von Informationen – ohne Rücksicht auf ihre Art – gehört. Hierzu trägt Street View erheblich bei.

Drittens spiegelt sich der Aspekt der verfassungsrechtlichen Öffentlichkeit im Sozialbezug persönlicher Daten wider. Die informationelle Selbstbestimmung geht nicht von einer uneingeschränkten Herrschaft des Einzelnen über seine Daten aus, sondern von einer sozialen, sich in Gemeinschaft entfaltenden Persönlichkeit. Informationen, die ohnehin jedermann zugänglich sind, genießen daher einen geringeren Schutz.

Im Lichte dieses Aspekts scheinen die Interessen der Betroffenen grundsätzlich gegenüber den Informationserhebungsinteressen der Öffentlichkeit zurückzutreten. Jedoch stellt sich bei der Betrachtung des gesamten Sachverhaltes noch ein besonderes Problem: Die unbearbeiteten Rohdaten der Aufnahmen werden in die USA transferiert, um von dort aus in das Programm eingebunden zu werden. Zwar hat Google öffentlich zugesagt, der Rohdatensatz mit den noch kenntlichen Gesichtern und Kfz-Kennzeichen werde schnellst- möglich gelöscht. Ob dies tatsächlich erfolgt, ist aber gegenwärtig nicht überprüfbar. Von der Weiterexistenz der unbehandelten Bilder würden besondere Gefahren insbesondere für das informationelle Selbstbestimmungsrecht ausgehen. In den Rohdaten lauert das Potential für eine erhebliche Breite und Unkontrollierbarkeit der Datenverwendung. Denn es erfolgt ein weltweiter und nicht rückholbarer Zugriff auf personenbezogene Daten. Die Nicht-Beherrschbarkeit des Umgangs mit den Rohdaten lässt sich mit den Interessen der Öffentlichkeit an der Verfügbarkeit solcher Daten nicht rechtfertigen. Aus dem verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnis folgt mithin das Gebot, den Personenbezug der Aufnahmen so weit wie möglich zu reduzieren. Daher müssen solche Fotos, die Hausnummern, Gesichter von Personen sowie Kfz-Kennzeichen zeigen, im Rohdatenbestand effektiv anonymisiert werden. Hausfassaden und Frontansichten darf Street View demgegenüber abbilden.

Handlungsbedarf aufgrund staatlicher Schutzpflichten?

Vor diesem Hintergrund fragt sich, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dies ist natürlich nur der Fall, wenn die gegenwärtige Rechtslage keinen hinreichenden Schutz gewährleistet. Nach gegenwärtiger Rechtslage bestehen Abwehrrechte aus § 22 KUG, §§ 823, 1004 BGB i.V.m. APR, § 2 UrhG sowie dem BDSG, das gem. § 1 Abs. 5 Satz 2 auch Anwendung findet, wenn ein außereuropäisches Unternehmen wie Google Daten im Inland erhebt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Abwehrrechte zeichnen ein recht differenziertes Bild. Exemplarisch zeigen §§ 28 I Nr. 3, 29 I Nr. 2 BDSG, wie das einfache Recht die verfassungsrechtlichen Anforderungen umsetzt. Danach ist die Aufnahme öffentlich zugänglichen Straßenraums erlaubt, wenn nicht offensichtlich überwiegende Interessen des Betroffenen den Datenumgang hindern. Verfassungsrechtlich liegt diese Privilegierung des Umgangs mit allgemein zugänglichen Daten in der Ausstrahlungswirkung der Informationsfreiheit begründet. Ein offensichtliches Überwiegen in diesem Sinne würde nach der oben entwickelten grundrechtlichen Gefährdungslage anzunehmen sein, wenn (und sei es nur im Rohdatenbestand) besondere Individualisierungsmerkmale belassen werden, die Rückschlüsse auf abgebildete Personen, Eigentümer oder Bewohner zulassen.

Neuverhandlung des Safe-Harbor-Abkommens

Es zeigt sich mithin, dass die Ausgestaltung des deutschen Datenschutzrechts grundsätzlich geeignet ist, das Phänomen Street View in den Griff zu bekommen. Reformvorschläge, wie die Einführung eines bedingungslosen Widerspruchsrechts aller Hauseigentümer, Mieter oder sonstigen Betroffenen, wie sie der Bundesrat mit Beschluss vom 09.07.2010 eingebracht hat, sind aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zwingend. Der eigentliche Kern des Problems ist, dass die europäischen Schutzstandards auch in den USA vollzogen werden müssen. Grundsätzlich halten das BDSG und die EU-Datenschutzrichtlinie hierfür einen Mechanismus bereit. So ist die Datenübermittlung in die USA gemäß § 4b Abs. 2 BDSG nur zulässig, wenn dort ein angemessenes Datenschutzniveau besteht. Die EU-Kommission kann gemäß Art. 25 Abs. 6 der EU-Datenschutzrichtlinie eine verbindliche Entscheidung darüber treffen, ob ein Drittstaat ein angemessenes Niveau besitzt. Diese Entscheidung ist für die Mitgliedstaaten bindend. Diesbezüglich ist das sogenannte Safe-Harbor-Abkommen einschlägig: Da in den USA kein auch nur annähernd mit dem Schutzniveau in der EU vergleichbarer Datenschutz besteht, haben die EU-Kommission und das US-Handelsministerium eine Abmachung getroffen, wonach sich Unternehmen auf sogenannte Safe-Harbor-Grundsätze verpflichten und durch eine Meldung an die Federal Trade Commission (FTC) selbst zertifizieren können. Die FTC veröffentlicht eine Liste aller Zertifizierten. Google ist dort registriert.

Allerdings gewährleistet das Abkommen keine flächendeckende Kontrolle der Selbstzertifizierungen. So hat eine Studie der Beratungsfirma Galexia beachtliche Vollzugsdefizite aufgezeigt. Lediglich 348 der 1.597 registrierten Unternehmen hatten tatsächlich die Mindestvoraussetzungen des Abkommens erfüllt. Die Missstände bleiben weitgehend ohne Konsequenzen. Nur ein einziges Unternehmen ist bislang wegen Falschangaben verurteilt worden. Jedoch konnte das Gericht mangels Rechtgrundlage keine Sanktionen verhängen.

Angesichts der Gefährdungsdimension, die mit der weltweiten Vernetzung der durch Google und seine verschiedenen Dienste insgesamt vorgenommenen Aggregation von Einzeldaten sowie ihrer hohen Rekombinierbarkeit durch Dritte einhergeht, liegt es nahe, dass durch die Rohdaten eine Beeinträchtigung des Kernbereichs des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung droht, bei der ein staatliches Untätigbleiben nicht mehr mit der verfassungsrechtlichen Werteordnung vereinbar ist. Diese Schutzpflichtendimension der Grundrechte bindet nicht nur die deutschen Verfassungsorgane, sondern sie gilt ebenso auf europäischer Ebene.

Damit ist ein Anknüpfungspunkt für die EU-Kommission zur Neuverhandlung des Safe-Harbor-Abkommens gegeben. Die Vereinbarung sollte reformiert werden mit dem Ziel, die benannten Vollzugsdefizite einzudämmen, sodass beim Datentransfer in die USA auch die europäischen Schutzstandards mitgenommen werden. Wenn Google beispielsweise in seiner Datenschutzerklärung verbindlich zusagt, dass die Rohdatenbestände gelöscht werden, dann muss dies effektiv überprüfbar und sanktionierbar sein. Dies kann entweder durch Aufsichtsmaßnahmen seitens der FTC (auf Ersuchen der europäischen Datenschutzbehörden) oder unmittelbar durch die Europäische Kommission geschehen. Wichtig ist, dass den Behörden eine effektive Handhabe zur Durchsetzung der datenschutzrechtlichen Verpflichtungen an die Hand gegeben wird.

 

Prof. Dr. Bernd Holznagel

Direktor des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (ITM) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
 

Dr. Pascal Schumacher

Akademischer Rat und Habilitand am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (ITM) an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster
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