05.09.2024

Bürgergeld-Gesetz: Paradigmenwechsel in der Sozialverwaltung?

Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 1

Bürgergeld-Gesetz: Paradigmenwechsel in der Sozialverwaltung?

Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 1

© M. Schuppich – stock.adobe.com
© M. Schuppich – stock.adobe.com

Das seit 2023 geltende Bürgergeld-Gesetz löste die Grundsicherung für Arbeitsuchende ab. Diese im SGB II verankerten Regeln galten seit 2005 und waren im landläufigen Sprachgebrauch bekannt als „Hartz IV“. Wie unterscheiden sich die beiden Instrumentarien? Eine Betrachtung aus Blick der Praxis und der Lehre.[1]

Die Einführung des Bürgergeldes Anfang 2023 ist mit der Schaffung einer neuen Vertrauenskultur begründet worden: „Um eine vertrauensvolle, transparente Zusammenarbeit zwischen Leistungsberechtigten und Jobcentern zu fördern, soll der Eingliederungsprozess weiterentwickelt werden. So werden gegenseitiger Respekt und Vertrauen ebenso wie der Umgang der Beteiligten miteinander auf Augenhöhe gesetzlich stärker in den Fokus gerückt und eine neue Vertrauenskultur ermöglicht.“ (BT-Drs. 20/3873 vom 10.10.2022).

Vertrauenskultur als Basis

Um die Regelung u.a. der „Vertrauenszeit“ sei anschließend der politische Konflikt entbrannt. Mit dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss sei die Vertrauenszeit aus dem Gesetzentwurf gestrichen worden. Es sei fraglich, ob „Vertrauen“ eine angemessene politische Rahmung dessen ist, was mit der Bürgergeld-Reform erreicht werden sollte, so der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Frank Nullmeyer (Universität Bremen). Er wies auf den Unterschied von Vertrauen zwischen Sachbearbeitern und Klienten in Jobcentern und dem damit oft verknüpften Anspruch hin, dass das Vertrauen in den Sozial- und Rechtsstaat mit dieser Reform wieder gestärkt werden könne.


Der Schlüsselbegriff Begriff des Vertrauens sei im Kontext von „Misstrauen, Vertrauenswürdigkeit, vertrauensvolle Kooperation, Sicherheit und Kontrolle“ aus soziologischer und philosophischer Perspektive zu betrachten: Was bedeutet „Vertrauen“ im rechtlichen und politischen Kontext? Wer soll wem in einer Demokratie vertrauen und wie ist wechselseitig Vertrauenswürdigkeit zu erlangen? Sollte daher das Sozialrecht dem Vertrauen einen eigenen Stellenwert zubilligen?

Prof. Nullmeyer verneinte dies jedoch und führte aus, dass die öffentliche Verwaltung diskriminierungsfrei zu handeln habe. Bürger könnten Verlässlichkeit und Effektivität erwarten sowie Achtung, höfliche Kommunikation und dauerhafte Unterstützung. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc. seien Werte, die eine zentrale Rolle für den Sozialstaat spielen. Vertrauen an sich sei jedoch kein Wert der Sozialstaatlichkeit.

Vertrauen verdiene der Sozialstaat dann, wenn er legitim, verlässlich und effektiv ist. Seine Legitimität hänge daran, ob Absicherung sozialer Risiken und Armutsbekämpfung im Sinne der Werte von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit gelinge. Seine Verlässlichkeit zeige sich darin, dass die gesetzlich verankerten Sicherungsleistungen regelkonform und zuverlässig erbracht werden; seine Effektivität zeige sich schließlich daran, dass die sozialpolitischen Regelungen im Sinne der genannten Werte wirken. Ansonsten sei Kritik gegenüber dem Sozialstaat angebracht.

Beratung und digitale Kommunikation mit dem Jobcenter

Wichtig für die Umsetzung des Bürgergeld-Gesetzes sind die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation.

Der gesetzliche Auftrag mit der Antragsvoraussetzung ist in den §§ 16, 36 SGB I geregelt sowie die Aufklärung, Beratung und Auskunft in den §§ 13 bis 15 SGB I. In § 36a SGB I finden sich Vorgaben zur elektronischen Kommunikation sowie zu Ziel und Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes. In diesem Zusammenhang lohne sich ein Blick auf den EfA-Antrag SGB II für Optionskommunen. Die Abkürzung EfA bedeute dabei „Einer für Alle“. Mit einem digitalen Antrag sollten idealerweise alle Leistungen im Rahmen des Bürgergeldes erfasst werden, so Michael Hofmeister vom Hessischen Städtetag, der mit dem Stand der Digitalisierung dieses Themengebiets im Land Hessen bestens vertraut ist.

In welchem Maß dies Neuland bedeutet, zeigen Projekte und Begriffe, wie

– Design Thinking, also eine agile Methode, um auf kreative, dynamische und flexible Weise innovative Lösungen zu finden,

– KJC-Chatbot, ein technisches Dialogsystem zur Beantwortung allgemeiner Fragen zum SGB II,

– Vorstudie XSoziales, einem Datenaustauschstandard im Sozialbereich,

– Open-Space-Konzept der Landeshauptstadt Wiesbaden, dessen Ziel ein modernes Großraumbüro zum Gegenstand hat,

– Identitätsprüfung via VideoID,

– einem Bot/digitalen Mitarbeiter,

– sowie der Cyber Innovation Hub & Robotic Process Automation, also einem Ansatz zur Prozessautomatisierung.

Ganzheitliche und aufsuchende Betreuung

Beim Bürgergeld lässt sich indes nicht alles digitalisieren. § 16k des SGB II sieht eine „ganzheitliche und aufsuchende Betreuung“ vor. Damit verbunden ist eine großzügigere Ausgestaltung von passiven Leistungen, die Abkehr vom „Work first“-Ansatz, die Rücknahme von Konditionalität und neue Instrumente wie die „ganzheitliche Betreuung. Bislang existierte bereits das Konzept der Bedarfsgemeinschaft und die „Hilfen aus einer Hand“; zudem gab es flankierende Eingliederungsleistungen gemäß § 16a SGB II und das (beschäftigungsorientierte) Fallmanagement.

Das Land Hessen hat den „Projektverbund Coaching von Bedarfsgemeinschaften“ gefördert. An fünf Standorten in fünf Jobcentern (davon drei gemeinsame Einrichtungen und zwei zugelassene kommunale Träger) sowie fünf externe Träger wurden neue Wege der Förderung von Arbeitsuchenden mit besonderen Hemmnissen bei der Eingliederung in Erwerbsarbeit erprobt.

Der gemeinsame Fokus lag dabei darauf, die Probleme im familiären Zusammenhang zu erkennen – wie Schulden, ungeklärte Kinderbetreuung, Schulprobleme, fehlendes Geld für Nachhilfeunterricht, Schulausflüge oder Sportvereine, Arbeitslosigkeit, psychische Probleme, Gefährdung der Wohnung, Suchtgefährdung und Gesundheitsprobleme. Es wurden die jeweiligen Bedarfsgemeinschaften, in Einzelfällen auch darüberhinausgehende Familienverbände, in die Beratung und Betreuung einbezogen.

Hessischer Projektverbund hat Fachkonzepte erarbeitet

An den genannten fünf Standorten (Stadt Kassel, Schwalm-Eder-Kreis, Landkreis Marburg-Biedenkopf, Stadt Frankfurt und Stadt Offenbach) haben Jobcenter und Träger bei der Umsetzung der jeweiligen regionalen Projekte in einer besonders intensiven Form zusammengearbeitet. Der Projektverbund diente der gemeinsamen Erarbeitung von fachlichen Konzepten, dem Erfahrungsaustausch und der Qualifizierung der Mitarbeitenden bei Trägern und Jobcentern.

An einzelnen Standorten wurden über die Laufzeit der Projekte von November 2021 bis Dezember 2022 insgesamt rund 570 Bedarfsgemeinschaften gefördert. Dabei konnten 65 Personen bereits in der Projektlaufzeit in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse integriert werden. Darüber hinaus seien eine Fülle von sozialen und persönlichen Problemen dieser Klientinnen und Klienten mit einer besonders großen Distanz zum Arbeitsmarkt erfolgreich adressiert und bearbeitet worden, so Dr. Matthias Schulze-Böing von der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (GEWAK) aus Frankfurt/Main.

Als Lösungsansatz lag der gemeinsame Fokus darauf, die Bedarfsgemeinschaft/Familie insgesamt zu fördern bspw. durch Assistierte Arbeitsvermittlung/Qualifizierung, Schuldenberatung, Psychosoziale Beratung, Gesundheits- und Suchtberatung, Organisation von Betreuungsplatz/Familienservice, Wohnberatung/Wohncoaching, Leistungen für Bildung und Teilhabe, Lernförderung sowie Kooperation mit Schulsozialarbeit.

Die Arbeit mit Bedarfsgemeinschaften habe sich als sinnvolle Methode der Förderung von Arbeitsuchenden mit besonderen Integrations- und Vermittlungshemmnissen erwiesen, so Schulze-Böing.

Wichtig sei dabei ein ganzheitlicher Ansatz, der die Probleme der Klienten im Zusammenhang erkennt und bearbeitet. Die Projekte haben innovative Beratungssettings erprobt, etwa die Einbeziehung von Kindern in die Beratungsangebote, aufsuchende Beratung und sozialraumorientierte Beratung. Diese haben sich bewährt und sollten im Rechtskreis SGB II weiterentwickelt werden.

Bei ganzheitlichen Beratungsangeboten sei ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, unrealistische Erwartungen an „all inclusive“-Problemlösungen und einen Verlust des fachlichen Fokus zu vermeiden.

Ganzheitliche Angebote brauchen deshalb eine besonders aufmerksame Steuerung der Beratungsprozesse. Sie sollten mit der Entwicklung lokaler und regionaler Netzwerke der behörden- und einrichtungsübergreifenden Zusammenarbeit verknüpft werden. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Kooperation mit Jugendämtern und Familienzentren. Für die qualitative Weiterentwicklung der Förderangebote im SGB II wird der Ausbau von überregionalen, landesweiten Kooperationsstrukturen empfohlen, die Erfahrungsaustausch, Qualitätsentwicklung und fachliche Kompetenzentwicklung miteinander verzahnen.

Als Erkenntnisse aus dem Projektverbund wurden gewonnen, dass

a) der familienbezogene und bedarfsgemeinschaftlich Ansatz als Ergänzung des Beratungsportfolios in Jobcentern notwendig und machbar ist,

b) die Netzwerkarbeit ein entscheidender Erfolgsfaktor ist,

c) die Aufsuchende Beratung akzeptiert wird und echten Mehrwert bringt,

d) die Leistungsbearbeitung und Leistungsberatung zentrale Elemente eines systemischen Ansatzes sind und

e) die Verankerung im Sozialraum neue Ressourcen für die Beratung im SGB II erschließt.

Als Perspektiven für § 16k SGB II (Ganzheitliche Betreuung) ergibt sich, dass sie für spezielle Zielgruppen sinnvoll ist, die Klärung von Auftrag und Rollen wichtig sowie die erforderlichen Kompetenzen bei Trägern und Jobcentern zu entwickeln seien.

[1] Dieser Darstellung zugrunde liegen Referate und Diskussionsbeiträge zum Bürgergeld-Gesetz vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) auf der Speyerer Fachtagung 2024 unter Leitung von Prof. Dr. Constanze Janda.

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Die Serie: Bürgergeld-Gesetz – Paradigmenwechsel in der Sozialverwaltung?

 

 

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
 
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