21.10.2024

Bürgergeld-Gesetz: Was war das Ziel, was wurde bislang erreicht?

Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 4

Bürgergeld-Gesetz: Was war das Ziel, was wurde bislang erreicht?

Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 4

© M. Schuppich – stock.adobe.com
© M. Schuppich – stock.adobe.com

Das seit 2023 geltende Bürgergeld-Gesetz löste die Grundsicherung für Arbeitsuchende ab. Diese im SGB II verankerten Regeln galten seit 2005 und waren im landläufigen Sprachgebrauch bekannt als „Hartz IV“. Wie unterscheiden sich die beiden Instrumentarien? Eine Betrachtung aus Blick der Praxis und der Lehre.[1]

„Mit dem neuen Bürgergeld schaffen wir viel Bürokratie ab und sorgen für bessere Chancen auf Arbeit durch Qualifizierung“, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zur Einführung des Bürgergeldes. Ergänzend zum Zitat folgte eine Darstellung seines Ministeriums mit der Überschrift „Das Bürgergeld: Unser Schritt nach vorn“.

Es soll


a) Chancen eröffnen unter der Prämisse „Gute Arbeit statt Hilfsjobs“: Das Bürgergeld unterstützt berufliche Weiterbildung – auch für den Erwerb eines Berufsabschlusses.
b) Das Bürgergeld bietet Schutz: Um sich beruflich neu orientieren zu können, braucht es einen freien Kopf. Im Bürgergeld sind deshalb in den ersten zwölf Monaten das Ersparte und das Wohnen besonders geschützt.
c) Gemeinsam planen: Den passenden Job finden, eigene Stärken erkennen – Das Bürgergeld bietet gute Beratung auf Augenhöhe und Coaching.
d) Hürden abbauen: Das Bürgergeld setzt auf einfache Sprache, Barrierefreiheit und weniger Papier. Damit werden Service und Leistungen einfacher zugänglich – auch digital.

In weiteren Statements des Bundesarbeitsministers Heil im Zusammenhang mit dem Bürgergeld bezeichnete er es u.a. abermals als zielgerichtete, unbürokratische Unterstützung „auf Augenhöhe“.

Die Rahmenbedingungen für die Leistungsminderungen sind folgende: Nach dem Sozialschutzpaketen I bis III knüpft das Bürgergeld-Gesetz an einen erleichterten Zugang zum SGB II an. Bei vielen Antragstellenden entstehen falsche Erwartungen – problematisch wird, dass noch Unterlagen für die Bewilligung erforderlich sind, dass Lebensumstände hinterfragt werden etc.

Zu verzeichnen sei auch ein gesteigertes Anspruchsdenken bei den Antragstellenden sowie eine gesunkene „Hemmschwelle“, und zwar gerade bei jungen Menschen, Soziallleistungen zu beantragen. Der „Wille“, Arbeit oder Ausbildung anzustreben, um Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu beseitigen, sei weniger vorhanden als vorher.

Der „Frust“ bei den Vermittlern/Integrationsfachkräften steige, so André Oberdieck, Fachdienstleiter beim Landkreis Göttingen im Bereich „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes“ und nebenamtlicher Lehrbeauftragter an der Hochschule der Bundeagentur für Arbeit (Schwerin) sowie Mitglied der SGB II-Kommission des Deutschen Sozialgerichtstags e.V.

„Kaum praktische Relevanz der Leistungsminderungen“

Die praktische Relevanz der Leistungsminderungen/Sanktionen nach den §§ 31, 31a, 31b, 32 SGB II sei gering; § 31 Abs. 1 SGB II (Pflichtverletzung bei Weigerung der Arbeitsaufnahme) finde beispielsweise kaum statt und auch die anderen Tatbestände seien „gering“: im Landkreis Göttingen betrug im Jahr 2023 die Gesamtquote aller Tatbestände ca. 1,4 Prozent.

Das Bürgergeld habe den Rückfall auf das höhere Vor-Corona-Niveau der Sanktionen verhindert. Zum 1. Juli 2023 ist die Eingliederungsvereinbarung durch den Kooperationsplan abgelöst worden, dieser ist kein öffentlich-rechtlicher Vertrag mehr, sondern eine „Vereinbarung auf Augenhöhe“.

Neu ist die Regelung des § 15 Abs. 5 SGB II, wonach eine regelmäßige Überprüfung der Absprachen im Kooperationsplan sowie eine Aufforderung zu Absprachen (mit Rechtsfolgenbelehrung) erfolge, insbesondere bei Maßnahmen nach §§ 16, 16d SGB II (Leistungen zur Eingliederung; Arbeitsgelegenheiten).

Neu ist ebenfalls § 15 Abs. 6 SGB II, wonach bei Nichtzustandekommen oder Nicht-Fortschreibung des Kooperationsplans, eine Aufforderung zu „erforderlichen“ Mitwirkungshandlungen mit Rechtsfolgenbelehrung ergeht.

In der Praxis ergebe sich die Problemstellung des eigentlichen „Vertrauensverhältnisses“ zur „Verpflichtung“, gerade in § 15 Abs. 6 SGB II. Der „Geist des Bürgergeldes“ setze – eigentlich – ein kooperatives Zugehen voraus und keine restriktive Handhabung. Es bestehe die Gefahr des Rückfalls ins „alte“ Sanktionsregime.

Wie erfolgt die Umsetzung des „Mehr an Augenhöhe“ in der Beratung zur Vermeidung von Leistungsminderungen? Die Beratung ist geregelt in § 14 SGB II und enthält neu das Ziel der umfassenden und nachhaltigen Unterstützung sowie die Erarbeitung einer individuellen Strategie und ihre Durchführung könne aufsuchend sowie sozialraumorientiert erfolgen.

Eine Annäherung an den sozialraumorientierten Beratungsansatz kann mit einem Zitat von Prof. Dr. Wolfgang Hinte, Sozialarbeitswissenschaftler und Vater des Fachkonzepts Sozialraumorientierung unterlegt werden: „Das größte Missverständnis ist, dass Sozialraumorientierung ein territoriales Prinzip ist. Der Kern der Sozialraumorientierung sind der Wille/die Interessen und das soziale Netzwerk des Menschen.“

Die Sozialraumorientierung macht den Unterschied zwischen folgenden Fragen uns Aussagen aus: von „Was kann ich für Sie tun? zu „Wie wollen Sie Ihr Leben gestalten?“ oder von „Wir bringen Menschen in Arbeit“ zu „Wir finden heraus, ob Menschen in Arbeit wollen und in welche. Und wenn sie wollen, dann gehen sie in Arbeit.“

Prinzipien der Sozialraumorientierung

Die fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung sind:

1. Ausgangspunkt jeglicher Arbeit sind der Wille bzw. die Interessen der Menschen.

Menschen machen, was sie wollen! Menschen bewegen sind, werden aktiv, nehmen Aufwand und Rückschläge in Kauf, wenn sie wirklich etwas wollen. Es ist eine Frage der Haltung und des Rollenverständnisses: Die Kunst im Fallmanagement ist es, in der Falleingangsphase (also im Profiling) zu prüfen, was die Kundin oder der Kunde will, was sie/ihn interessiert. Und nicht, was sie/er sich wünscht von der/dem Mitarbeitenden des Jobcenters. Man kann keinen anderen Menschen motivieren; auch nicht, in Arbeit zu gehen; aber man kann herausfinden, was sie/ihn motiviert (intrinsische Motivation).

2. Aktivierende Arbeit hat grundsätzlich Vorrang vor betreuender Tätigkeit.

Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe; keine Dienstleistung, sondern Aktivierung: als Leistungssysteme konsequent darauf achten, dass man nicht der Verführung verfällt, zu viel für die Bürger*innen zu tun (auch wenn man das könnte), sondern genau abtasten, was ein Mensch selbst tun kann, um den eigenen Vorstellungen, dem Willen im konkreten Alltag ein Stück näher zu kommen. Weg vom Kund*innenbgriff – wenn man kund*innenorientiert ist, macht man immer Dinge für Leute. Die Frage „Was brauchen Sie?“ widerspricht dem Kern der Sozialraumorientierung, denn damit bringt man die/den Kund*in in die Rolle eines bedürftigen Objekts. Hingegen wird bei der Frage „Was wollen Sie?“ die/der Kund*in als Energieträger gesehen.

Zahlreiche Menschen leiden darunter, dass sie nicht ein gewolltes, sondern ein gesolltes Leben leben müssen.

3. Bei der Gestaltung der Aktivitäten und Hilfen spielen persönliche und sozialräumliche Ressourcen eine wesentliche Rolle,

Die persönlichen Ressourcen sowie die Ressourcen des Lebensumfeldes und des Sozialraumes sind von den Ressourcen des SGB II/der Jugendhilfe etc. zu nutzen. Von der Defizit- und Problemorientierung zur Ressourcen- und Lösungsorientierung: auf jede Defizitdiagnostik verzichten und konsequent auch die kleinsten Dinge als Ressourcen sehen; jedoch tauchen die kleinsten Dinge nicht am Schreibtisch auf. Den Kundinnen und Kunden ein „Heimspiel“ ermöglichen – nach Möglichkeit und Zustimmung also auch Gespräche mit Kundinnen und Kunden an deren Ort führen und dabei die Augen nach Ressourcen offenhalten. Neugier für unterschiedliche Lebens- und Wertvorstellungen. Fallunspezifische Arbeit – einen Blick auf den Raum, der nicht nur auf den Fall gerichtet ist, aber potenziell zur Ressource für diesen werden kann.

Alternative Fragen in der Falleingangsphase:

a) Wille, Interesse: Wie wollen Sie Ihr Leben gestalten? Was sind Ihre Interessen? Woran haben Sie Freude?

b) Aktivierung und persönliche Ressourcen: Was können Sie tun, damit Sie mehr davon in Ihrem Leben haben?

c) Ressourcen des sozialen Umfeldes und des Sozialraumes: Wie könnten Ihre Verwandten/Nachbarn/Freunde/Ihr soziales Umfeld Sie unterstützen?

4. Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt.

Systemische Arbeit – Menschen und Gruppen in Sozialräumen sind miteinander verwoben. Daher macht es nur Sinn, dass jemand, die/der mit Migrierten arbeitet, auch mit Einheimischen arbeitet; jemand, die/der mit Frauen arbeitet, auch mit Männern arbeitet etc. Veränderungen in einem Sozialraum können nur auf langfristige Wirksamkeit und Akzeptanz hoffen, wenn sie von Menschen unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrer kulturellen Herkunft, ihrem Bildungsstand und ihrer sozialen Lage mitgetragen werden.

5. Vernetzung und Integration der verschiedenen Unterstützungsstrukturen sind Grundlage für funktionierende Einzelhilfen.

Die Vernetzung und Integration verschiedener Unterstützungsstrukturen sind essenziell, um effektive Einzelhilfen sicherzustellen. Durch die enge Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure, wie soziale Dienste, Bildungsinstitutionen, Gesundheitswesen und ehrenamtliche Organisationen, können individuelle Bedürfnisse gezielt und umfassend adressiert werden.

Schlichtungsverfahren

Eine weitere Neuerung des Bürgergeld-Gesetzes ist das seit vergangenem Jahr geltende Schlichtungsverfahren. Dessen wesentliche Punkte lassen sich wie folgt zusammenfassen:

a) Inkrafttreten zum 1.7.2023; neu: § 15a SGB II

b) Das Schlichtungsverfahren kommt zum Tragen, wenn Erstellung oder Fortschreibung eines Kooperationsplanes aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen Leistungsberechtigtem und Jobcenter nicht möglich ist

c) Es soll auf Verlangen einer oder beider Seiten eingeleitet werden

d) Schaffung der Voraussetzungen für Schlichtungsmechanismus durch Jobcenter mittels Hinzuziehung einer unbeteiligten und insofern nicht weisungsgebundenen Person innerhalb oder außerhalb des Jobcenters

e) Inhalte: Entwicklung eines gemeinsamen Lösungsvorschlags zum Kooperationsplan, der vom Jobcenter zu berücksichtigen ist; ab Einleitung und während Dauer des Schlichtungsverfahrens keine Leistungsminderungen

f) Beendigung: durch Einigung oder spätestens vier Wochen ab Beginn

g) Änderung durch § 15a Abs. 3 SGB II: Bei Pflichtverletzungen während des Schlichtungsverfahrens keine Leistungsminderung nach § 31a SGB II

Die Relevanz des Schlichtungsverfahrens in der Praxis ist bislang gering: Im Landkreis Göttingen gab es zum 29. Februar 2024 keinen einzigen Fall. Auch die Erfahrung anderer Träger ist, dass es bloß vereinzelt Schlichtungsverfahren gab, es also bisher keine Relevanz gibt.

[1] Dieser Darstellung zugrunde liegen Referate und Diskussionsbeiträge zum Bürgergeld-Gesetz vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) auf der Speyerer Fachtagung 2024 unter Leitung von Prof. Dr. Constanze Janda.

– ANZEIGE –

Die Serie: Bürgergeld-Gesetz – Paradigmenwechsel in der Sozialverwaltung?

 

 

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
 
n/a