28.10.2024

Kinderschutz in und außerhalb von Zeiten einer Pandemie

„Der Schutz von Kindern wird in unserem Land als eine wichtige und gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe verstanden“

Kinderschutz in und außerhalb von Zeiten einer Pandemie

„Der Schutz von Kindern wird in unserem Land als eine wichtige und gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe verstanden“

Ein Beitrags aus »Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF)« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrags aus »Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF)« | © emmi - Fotolia / RBV

In der aktuellen Presseberichterstattung (Mai 2024) wird wiederholt über eine Zunahme von belasteten Familien in Verfahren der Familiengerichtsbarkeit und mögliche Zusammenhänge zwischen den wahrgenommenen Entwicklungen und der Corona Pandemie in 2020/2021 berichtet. Aktuell schlagen Richterinnen Alarm wegen einer wachsenden Zahl an Kinderschutzfällen.

 Familien- und Jugendrichterinnen in Frankfurt und Wiesbaden äußern sich besorgt über die nach ihrer Beobachtung steigenden Zahlen verhaltensauffälliger sowie psychisch kranker Kinder und Jugendlicher. Die Kinderschutzverfahren und Inobhutnahmen sind am Amtsgericht Wiesbaden den Angaben zufolge 2023 im Vergleich zum Vorjahr um knapp 10 Prozent auf 694 Fälle gestiegen, die Unterbringungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben deutlich zugenommen. Gleichzeitig finden die Gerichte kaum noch gute pädagogische und therapeutische Einrichtungen, in die Kinder „mit vielen Problemen“ geschickt werden können. Die Zunahme problematischer Familiensituationen spiegele sich auch in den Strafsachen wider. In rund 90 Prozent der Jugendschöffengerichtsverfahren stammen die Angeklagten aus nicht geordneten Familienverhältnissen, berichtet eine Familienrichterin. Die Kinder erfahren in ihren Familien keine stabilen Beziehungen, aber häufig Gewalt: „Sie haben Gewalt erlebt und tragen das weiter“.

Die Familienrichterinnen sehen eine mögliche Ursache für die steigenden Fallzahlen in der Corona-Pandemie, als Kinder vereinsamt seien und ihren normalen Alltag mit Schule oder Kindergarten nicht mehr hatten. Ein Amtsgericht im südhessischen Dieburg habe ebenfalls eine Zunahme der Kinderschutzfälle beobachtet, wie ein Gerichtssprecher mitteilt. „Dort wird gerade für die letzten zwei Jahre eine deutliche Steigerung der Verfahren festgestellt“. Beim Amtsgericht Kassel hat sich die Zahl der neu eingegangenen Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung seit 2018 mehr als verdoppelt und stieg von 115 Fällen jährlich auf 268 Fälle (2023). Zu den möglichen Gründen äußerte sich die Sprecherin nicht. (S. a. https://www.sueddeutsche.de/panorama/justizgerichte- verzeichnen-steigende-zahl-von-kinderschutz faellen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240510-99- 980932)


Beim Lesen ist mir ein Artikel/Aufsatz in Erinnerung gekommen, den ich Anfang 2020/21 geschrieben habe. Der Artikel beschreibt den Alltag von Kindern und Familien in der Zeit der Pandemie, macht auf die Bedeutung und Folgen von politischen Entscheidungen aufmerksam und benennt die Notwendigkeit, den Kinderschutz am Lebensmittelpunkt der Kinder stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Bei der Durchsicht ist mir die Bedeutung und Aktualität des Artikels erneut deutlich geworden.

„Der Schutz von Kindern wird in unserem Land als eine wichtige und gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe verstanden“.

Mit diesem Satz habe ich den Aufsatz in 2020 begonnen. Der Satz ist häufig zu hören, wenn Verantwortliche sich zu Fragen des Kindeswohls in Deutschland äußern. Der Satz entspricht dem scheinbar allgemeingültigen Wertesystem von uns Menschen, Kinder vor Gewalt zu schützen und sie in einem gesunden Aufwachsen zu unterstützen. Er klingt gut, dieser Satz – aber welche Bedeutung hat er wirklich im alltäglichen Leben von Kindern? Und welchen Wert hat er, wenn Entwicklungen uns Menschen durcheinander rütteln?

Das Leben mit einer Pandemie hat uns Menschen zum Nachdenken eingeladen. Selten wurden wir in unserem Miteinander so sehr herausgefordert, wie in Zeiten einer Pandemie. Welche Werte stehen in unserer Gesellschaft eigentlich im Fokus, wenn Selbstverständlichkeiten verloren gehen, das Normale zum Besonderen wird und die Routine der Menschen Herausforderungen weichen muss, die sich auch in den intimsten Bereichen unseres Lebens breitmachen – in den Familien?

Das Leben mit dem Besonderen beschäftigte uns während der Pandemie über komplette zwei Jahre. Einschränkungen, Beschränkungen und unterschiedliche Formen des sogenannten Lockdowns wechseln sich in steter Regelmäßigkeit ab, Verlässlichkeit ging verloren und in jeder Phase haben die Verantwortlichen um notwendige Abwägungen und Entscheidungen gerungen. Letzteres ist gut so, auch wenn die Diskussion um ein Richtig und Falsch in fast jedem noch möglichen Zusammentreffen von Menschen das alles beherrschende Gesprächs – und nicht selten auch ein großes Streitthema war. Ich habe die Verantwortlichen nicht beneidet, dennoch stellte sich mir mit zunehmender Dauer der Pandemie die Frage nach den Werten, die hinter den Entscheidungen stehen – insbesondere den Werten auf unsere Kinder bezogen.

Der Alltag von Kindern und Familien in der Pandemie

Mit dem Blick auf das Kindeswohl habe ich schon in den Monaten März und April des Jahres 2020 die Sorge geäußert, welche Folgen ein Rückzug des sozialen Lebens auf die Familie für viele unserer Kinder haben kann. Gelegentlich bin ich in den Gesprächen auf Irritation und Unverständnis gestoßen, wiederholt haben sich „die Falschen“ angesprochen gefühlt. Natürlich sind nicht automatisch und pauschal alle Kinder gleichermaßen betroffen, wenn es um Einschränkung der sozialen Kontakte geht. Dazu ist die Welt der Familien und damit auch das Erleben der Kinder zu vielfältig.

Gerade weil dies jedoch so ist, sollten wir uns nicht zu selbstverständlich darauf verlassen, dass ein geschütztes Aufwachsen von Kindern den Verantwortlichen schon irgendwie gelingen wird. Ein Blick allein aus der bürgerlichen Mitte heraus ist nicht hilfreich zur Erfassung der sehr unterschiedlichen Lebenswelten von Kindern in unserer Gesellschaft. Wir sollten vorsichtig sein mit den Übertragungen: Das was wir im Freundeskreis und in der bekannten Nachbarschaft an Engagement und Kreativität erleben und erlebt haben, wenn es um die Rund-um-die-Uhr-Betreuung von Kindern geht, können wir nicht von Familien erwarten, in denen Eltern schon im normalen Alltag überlastet sind, in denen Eltern grundsätzlich über oft sehr begrenzte Ressourcen verfügen, ihre elterliche Verantwortung wahrzunehmen. „Normal“ heißt, die Kinder gehen in die Kita, in die Schule, sind mit Freunden unterwegs und die reine Betreuungszeit in der Familie ist zumindest im Alltag auf die Morgen- und die Abendstunden begrenzt. Normal heißt, die Eltern haben unsagbar viel mehr Zeit, sich all den täglichen Aufgaben zu stellen, die mit Kindererziehung erst einmal nichts zu tun haben: Berufstätigkeit, Einkaufen, Haushalt, Freunde. Allein die Faktoren Zeit und Ressourcen haben sich in der Pandemie aufgrund der bekannten Beschränkungen jedoch massiv verändert.

Keine Kindeswohlmeldung – keine Gefahr

Meine beschriebene Sorge wurde im Mai 2020 von einer Statistik eines benachbarten Landkreises widerlegt – scheinbar zumindest: 17 Gefährdungsmeldungen im Mai 2019 standen 16 im Mai 2020 gegenüber, dazu kamen nur sechs Inobhutnahmen im Mai 2020 gegenüber 16 im Mai des Vorjahres. Aus der Politik – auch auf lokaler Ebene – waren Stimmen des Aufatmens zu hören: Keine Kindeswohlmeldung – keine Gefahr.

In Fachkreisen der Jugendhilfe wurden schnell mahnende Worte laut, dass die Logik der Statistik auch im Fall der Gefährdungsmeldungen einen gravierenden Haken hat. Und an dem Haken ist ein dickes Seil befestigt, das die Schutzwand schnell einreißen könnte: Dort wo Kinder aufgrund der Regularien abgeschottet in ihren Familien leben, fehlt ihnen komplett der Zugang zu Menschen, die hinschauen, die Fragen stellen und im Zweifelsfall einschreiten können. Sicherungssysteme wie Schulen und Kitas, Kinderärzte und Vereine wurden geschlossen. Das gesamte Jugend- und Sozialhilfesystem mit seinen ambulanten und teilstationären Angeboten stand während des Lockdowns nur eingeschränkt zur Verfügung. Ein Großteil der Meldungen zum Verdacht auf Kindeswohlgefährdungen erfolgt im Normalfall jedoch genau aus diesen Institutionen. Keine Kindeswohlmeldung – keine Gefahr?

Aus belasteten Familien wurden durch den Lockdown während der Pandemie geschlossene Systeme. Dass Vernachlässigung und Gewalt jeglicher Art an Kindern sich besonders im Verborgenen ungehemmt entwickeln kann, ist keine neue Erkenntnis; die Auswege für Kinder sind durch einen Lockdown versperrt. Anstrengungen, Überforderungen und kritische Geschehnisse in familiären Systemen verborgen zu halten, waren gar nicht nötig. Der Wegfall von Betreuungs- und Schutzsystemen für Kinder und Jugendliche stellte zudem selbst für unterstützungswillige Eltern eine große Herausforderung dar, weil die Familien nicht mehr wie zuvor und selbstverständlich auf alltägliche Ressourcen zurückgreifen konnten. Wie einfach und perfekt geschlossene Systeme funktionieren können, hat uns beispielhaft u. a. die Kirche im Rahmen ihrer Aufarbeitung der Vergangenheit anschaulich gezeigt. Die Leidtragenden in geschlossenen Systemen sind immer die Schwächeren – in diesem Fall die Kinder.

Der Lockdown – ein Bestandteil der Gefährdung

Die Logik, „Keine Gefährdungsmeldung – keine Gefahr“, ist also nicht nur trügerisch, sie ist in sich selbst Bestandteil einer Gefährdung. Der Lockdown im Frühjahr 2020 sorgte dafür, dass Familien allein gelassen und Kinder einer Gefährdung ausgesetzt wurden, die bis heute noch nicht wirklich wahrgenommen wird. Auch das Herunterfahren von Beschränkungen, die teilweise Öffnung von Institutionen wie Schule und Kita im Verlauf der Pandemie, ließ keinen Raum für eine Beschäftigung mit den Erlebnissen von Kindern während der ersten Lockdown-Phase. Die Menschen und Institutionen in der Jugendhilfe und Schule waren vollauf damit beschäftigt, Versäumtes nachzuholen und gleichzeitig eine erneute Ausbreitung der Pandemie zu verhindern. Als deutlich wurde, dass Letzteres misslang, folgte im Winter des Jahres 2020 ein erneutes Herunterfahren des sozialen Lebens, diesmal in einem Ausmaß, dass die außerfamiliären sozialen Kontakte besonders von Kindern fast gegen null gefahren wurden. Eltern, die nicht ins Homeoffice geschickt wurden, konnten zumindest im beruflichen Kontext einen Tapetenwechsel und den – wenn auch beschränkten – Kontakt zu Kollegen erleben. Kinder hatten zwar phasenweise die Möglichkeit, Lehrer*innen und Klassenkamerad*innen in Videoplattformen zu treffen, einen persönlichen Austausch ließ diese Form des Lernens jedoch kaum zu, von der Möglichkeit, ein gesundes soziales Miteinander zu erleben, ganz zu schweigen. Sich entwickelnde oder gar schon verfestigte Kindeswohlgefährdungen wahrzunehmen, lag fern der Möglichkeiten aller Fachkräfte. Schule und Lehrer*innen waren vollauf damit beschäftigt, ihre Lernangebote auf neue und nicht selten wiederholt wechselnde Situationen anzupassen. Kinder, die in den Jahren 2020 schulpflichtig wurden, mussten Jahre darauf warten, einen normalen von sozialem Lernen geprägten Schulalltag kennenzulernen. Im Verhältnis zu ihrem Lebensalter haben während der Pandemie viele Kinder je nach Alter eine Lernerfahrung machen müssen, die ein Viertel, ein Drittel, die Hälfte oder sogar ihr ganzes Kinderleben prägte. Wenn Sie sich als 40/50-jähriger Erwachsener vorstellen, Sie würden nur ein Viertel Ihres Lebens sich Ihrer elementaren Bedürfnisse und Freiheiten beraubt erleben müssen…

Die Jugendhilfe orientierte sich während der Pandemie wiederholt an den politischen Vorgaben und schickte ihre Fachkräfte, wo immer es möglich war und wo es nicht sowieso noch fortbestand, ins Homeoffice. Betreuungs- und Schutzsysteme, die noch gar nicht wirklich die Chance hatten, Versäumtes aufzuholen, zogen sich wiederholt zurück. Familien und Kinder erlebten durchgängig, dass Forderungen nach der Beachtung von Kinderrechten und einem angemessenen Kinderschutz wie Worte aus einer anderen Zeit klangen.

Kinder ohne Verfahrensbeistand?

Der Fokus während der Pandemie lag verständlicherweise auf der Vermeidung einer erneuten Ausbreitung eines Virus. Die Strategien, die gesucht wurden, hatten jedoch, neben der gesundheitlichen Gefährdung, vornehmlich das Aufrechterhalten des wirtschaftlichen Lebens im Fokus, was an Relevanz sicher nicht zu unterschätzen ist. Ein ernstzunehmender Verfahrensbeistand für Kinder war und ist in den wiederkehrenden Entscheidungsrunden der politischen Entscheider nicht sichtbar geworden. Die Kinderschutz-Zentren und namhafte Vertreter des Kinderschutzes, wie ein Prof. Fegert oder der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, wiesen zwar deutlicher als zu Beginn der Pandemie auf die Belange des Kindeswohls hin – zu den entscheidenden Gesprächsrunden wurden sie nicht eingeladen. Kinder-Hotlines meldeten mit zunehmender Dauer der Pandemie eine erhöhte Nachfrage der Beratungsangebote. Den Fachkräften war dennoch sehr wohl klar, dass selbst die wahrnehmbar erhöhte Nachfrage von Kindern, denen es gelang, sich abseits von überforderten Eltern telefonisch bemerkbar zu machen, nicht das wirkliche Leben von Kindern in überlasteten Familien widerspiegelte. Wer sich den Umgang mit der Pandemie aus der Perspektive von Kindern in der Rückschau betrachtet, bekommt leicht den Eindruck, dass die Vernachlässigung von Kinderrechten und Kinderschutz alternativlos erschien. Dennoch: Kinder wurden weniger als schutzbedürftig, sondern eher als Gefährder betrachtet, deren Teilhabe am sozialen Leben vermieden werden sollte.

Nun können wir natürlich sagen: Klug daherreden ist nicht schwer; im Nachhinein ist man immer schlauer. Das ist sicherlich richtig! Dennoch: eine ernsthafte Aufarbeitung der Geschehnisse wurde zwar gelegentlich gefordert, ist jedoch nie wirklich erfolgt. Wiederkehrend bekam und bekommt man den Eindruck, dass ein Verstehen von Entwicklungen und eine Reflexion des eigenen Handelns nur bedingt zum Repertoire von Verantwortlichen zählt. Mit dem Abklingen der Pandemie entwickelte sich ein großes Engagement in Richtung Schadensbegrenzung und Wiederherstellung stabiler Systeme. Es wurde auch viel, viel Geld hierzu in die Hand genommen. Im Fokus standen jedoch in erster Linie Konzepte zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Kraft und Ordnung. Der ‚Faktor Mensch‘ und die Folgen für dessen Gesundheit spielte in den nachpandemischen Strategien der Verantwortlichen keine große Rolle. Und wenn im Jahr 2024 ein Finanzminister Kostenaufwendungen für Kitas als nicht notwendige „Sozialhilfe“ beschreibt, wird nicht nur deutlich, wie wenig Bedeutung Verantwortliche dem Kindeswohl zumessen. Es wirkt auch irritierend, wie wenig Verantwortliche in Zusammenhängen zu denken scheinen, wenn sie auf der einen Seite über fehlende Fachkräfte am Arbeitsmarkt klagen, gleichzeitig aber der Beschäftigung von – in der Regel – Müttern am Arbeitsmarkt massive Grenzen setzen, in dem sie Möglichkeiten der Kinderbetreuung als unnötige soziale Leistung deklarieren. Nun wissen wir alle, dass die Betrachtung des Vergangenen besonders dann Sinn macht, wenn sie als eine Art von Reflexion des Geschehenen für die Gestaltung des Zukünftigen genutzt wird. Wir können das Vergangene nicht ändern oder rückgängig machen und es macht auch nicht viel Sinn, nur nach Schuldigen zu suchen oder vergangenes Handeln zu verurteilen. Wir können jedoch entscheiden, ob wir das, was wir kritisch betrachten, fortsetzen bzw. wiederholen wollen. Wir könnten uns entscheiden, welchen Platz das Kindeswohl in unserem Wertesystem wirklich hat oder haben soll, indem wir uns mit dem Zukünftigen beschäftigen und den Wert des Eingangssatzes – „Der Schutz von Kindern wird in unserem Land als eine wichtige und gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe verstanden“ – einen Platz einräumen, in dem wir diese Aufgabe JETZT in Angriff nehmen. Die anfänglich beschriebenen Wahrnehmungen und Botschaften aus der Jugendhilfe und der Familiengerichtsbarkeit im Jahr 2024 deuten darauf hin, dass wir uns für die erste Variante entschieden haben.

Wenn dies aber nicht gewollt ist, welche Möglichkeiten wären denkbar, das Kindeswohl wieder stärker in den Blick zu nehmen? Vielleicht helfen ja konkrete Beispiele aus dem Leben, der Alternativlosigkeit nicht das Ruder zu überlassen. Die Vertreter des Kinderschutzes haben sich zwar während der Pandemie entschieden, auf Einladungen bzgl. einer Beteiligung zu Entscheidungsprozessen zu warten; sie könnten sich aktuell und zukünftig jedoch auch anders positionieren: in den politischen Entscheider- Runden selbstverständlich ihren Platz einzunehmen bzw. gemeinsame Runden aktiv und mit Vehemenz einzufordern. Sie könnten ihre Möglichkeiten und ihre Fachkompetenz nutzen, den Verantwortlichen den Wert all der Kinder, von denen wir oft nicht wissen, was ihnen geschieht, deutlich zu machen. Sie könnten den Verantwortlichen deutlich machen, dass es hier nicht allein um eine wohlwollende Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse geht, nicht um eine soziale Good-Will-Leistung, wie mancher Finanzminister meint, sondern um die Zukunft unserer Gesellschaft. Sie könnten den Verantwortlichen das Ausmaß und die Folgen verweigerter Hilfen im Kontext einer Pandemie im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang skizzieren. Sie könnten den Verantwortlichen erklären, dass es durchaus Sinn macht, Entwicklungen in Ursache und Wirkung Kontexten über ein Haushaltsjahr hinaus zu betrachten. Manche Folgen einer herausfordernden Zeit sind nach dem Abflauen der Pandemie und dem Herunterfahren von Beschränkungen nicht sofort sichtbar geworden, u. a., weil Institutionen und öffentliche Systeme nach einem Hochfahren erstmal mit sich selbst und der eigenen Rückkehr in die Normalität beschäftigt waren. Die betroffenen Kinder stellen ihr eigenes Leid in der Regel nicht aktiv in den Mittelpunkt – sie sind es ja gewohnt, einen Umgang mit der Nichtachtung zu finden. Die Folgen dieses Leids allerdings lassen sich irgendwann nicht mehr verbergen. Erst mit großer Verzögerung konnten sich nach der Öffnung der mutmaßlich geschlossenen Familiensysteme am Ende der Pandemie die Folgen und das Ausmaß von Überforderung, häuslicher Gewalt, physischer und psychischer Gewalt an Kindern, Vernachlässigung und Isolation in unserer Gesellschaft bemerkbar machen.

Die Gestaltung des Zukünftigen

Die Folgen haben, wie eingangs beschrieben, nicht nur in den Systemen der Jugendhilfe Wellen geschlagen; sie haben Kitas und Schulen vor Herausforderungen gestellt und werden dies auch weiter tun, sie beschäftigen Polizei und Justiz und sie werden die Systeme des erwachsenen Miteinanders noch auf lange Zeit herausfordern, wenn eine Integration von Vernachlässigten sich nicht mal eben problemlos in Ausbildung, Beruf und gesellschaftliches Leben einfügen lässt. Dass nicht ernstgenommene Entwicklungen auch grundlegende Formen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens gefährden können, ist mittlerweile – zumindest durch den Wandel in der politischen Landschaft – hoffentlich auch im Denken der politisch Handelnden angekommen. Allein das vernetzte Denken und der Wille zum gemeinsamen Handeln und der zukunftsorientieren Lösungssuche scheint noch

wenig ausreichend ausgeprägt.

In 2021 schrieb ich: „erfahrungsgemäß werden die Folgen dieser Nichtachtung nicht nur die Systeme, sondern die Gesellschaft als Ganzes noch über viele Jahre beschäftigen und es wird viele Stimmen geben, die rück – blickend große Versäumnisse beklagen werden. Und um den Switch zum wirtschaftlichen Denken zu vollenden: Die Finanzminister werden viel Energie aufwenden, um eine daraus folgende Kostenexplosion nicht nur im sozialen Bereich in Grenzen zu halten“. Das Problem auf die Finanzebene zu begrenzen wird vermutlich nicht ausreichen. Das zeigt uns schon die aktuelle politische Entwicklung. Politik und Gesellschaft – und damit wir alle – werden viel Kraft aufwenden müssen, um die Grundpfeiler unseres Wertesystems und damit unseres derzeitigen Zusammenlebens nicht aus den Fugen geraten zu lassen.

Nicht nur im öffentlichen Denken und in staatlichen Systemen herrscht oft das Prinzip des reaktiven Handelns vor. Das ist leider ein zutiefst menschliches Dilemma, ein Stück weit in unseren Gehirnstrukturen und in der Folge in unserer Form, zu lernen angelegt. Wir sind grundsätzlich hilfsbereit und nicht selten auch engagiert – wenn wir ein Problem sehen oder ein Mensch in Not ist. Geholfen und investiert wird somit oft erst, wenn ein Problem schon besteht und eine Not nicht mehr zu übersehen ist. Was aber wäre, wenn die Verantwortlichen Entwicklungen – in diesem Fall die Besonderheit einer Pandemie – nutzen würden und sich aktiv entscheiden, einen Perspektivwechsel vornehmen: Eine Veränderung des Denkens – von der Reaktion zur Prävention. Hierzu gehören vom Grundsatz eine aktive Entscheidung zur Veränderung und der Wille zu einem konstruktiven Miteinander. Jede Form einer grundlegenden Betrachtung ist nur hilfreich, wenn sie in die Beantwortung konkreter Fragen mündet. Spannend für das Dilemma eines angemessenen Kinderschutzes in der Pandemie sind die Fragen: Was konkret wird gebraucht für – den benannten Perspektivwechsel? – Was hilft den betroffenen Kindern und Familien in ihrer aktuellen Lebenssituation?

Die erste Frage ist grundlegender Art und benötigt ein wenig mehr Raum. Die Antworten der zweiten Frage sind nicht neu und stehen dennoch immer wieder als strittige Arbeitsaufträge auf unterschiedliche Tagesordnungen. Die Sorge um vernachlässigte und von Gewalt und Ausgrenzung bedrohte Kinder sollte genau dort ansetzen, wo Staat und öffentliche Systeme sie z. T. mitverursachen:

– Betreuungs- und Schutzsystemen für Kinder und Jugendliche sollten nicht nur ausreichend geschaffen werden, sie sollten in der Bewertung als ‚systemrelevante‘ Maßnahmen deklariert werden.

– Die Jugend- und Sozialhilfe sollte ihren Schwerpunkt auf Angebote der aktiven aufsuchenden Arbeit legen

– auf allen Ebenen und in allen Institutionen, inklusive der Ebene der Behörden. Fachkräfte in den Institutionen und Behörden sollten nicht warten, dass die Klienten sie aufsuchen, sie sollten sich aktiv auf den Weg zu den Menschen machen.

– Die Fachkräfte der Jugendämter verpflichten sich, mit den Schulen und Kitas ihrer Bezirke regelmäßige Kontakte zu pflegen; nicht reaktiv zur Problemlösung, sondern aktiv zum offenen fachlichen Austausch und zur kollegialen Beratung in Fragen des Kinderschutzes.

– Die Angebote der Jugendpflege im Viertel/im Ort werden aktiv aufgestockt und fachlich qualifiziert begleitet. Öffnungszeiten und Angebote von Jugendräumen, Familienzentren werden ausgeweitet.

– Die Angebote von bezahlbaren Freizeit- und Ferienmaßnahmen werden aktiv aufgestockt. Kinder, Jugendliche und Familien werden aktiv angesprochen und motiviert, Angebote zu nutzen.

– Arbeitskreise zur Vernetzung, zur Vermeidung und Weiterentwicklung von Maßnahmen des Kinderschutzes werden installiert und bei Bedarf ausgeweitet. Fachkräfte der Jugendhilfe, der Gerichtsbarkeit, der Polizei, der Schulen, der Kitas usw. sorgen durch die Vernetzung aktiv dafür, dass ihre unterschiedlichen Arbeitsaufträge und Herangehensweisen gegenseitig bekannt sind und durchgängig ein aktuelles Bild der Lebenssituation von Kindern entsteht.

– Die o. g. Institutionen werden aufgefordert, in Ausbildung zu investieren, auf Belastungen aktiv zu reagieren und den Schutz von Mitarbeitenden angemessen zu gewährleisten.

Und um all das überhaupt zu ermöglichen: In den Behörden und Institutionen werden Personalkapazitäten geschaffen, die die notwendigen Entwicklungen und Prozesse überhaupt erst ermöglichen – was, wenn wir die Arbeitsmarktsituation in 2024 anschauen, wiederum erneut den Mut zu Veränderungen auf den Plan ruft. Die Strategien der Arbeitsmärkte müssten möglicherweise komplett neu überdacht werden. Die Situation der begrenzten Möglichkeiten zur Berufstätigkeit von Eltern kleiner Kinder schreit geradezu nach einer mutigen Wende im (Scheuklappen-) Denken von Politik.

Kinderschutz hat eine gesellschaftliche Relevanz

Dieser Zusammenhang ist hoffentlich im Verlauf des Artikels deutlich geworden. Damit diese Relevanz an Bedeutung gewinnt, wird etwas Grundsätzliches gebraucht. Und bevor die Finanzchefs und Kämmerer sich erschrocken abwenden: ja, es wird auch Geld kosten! Jedes aktive Engagement zur Gestaltung von Lebensbedingungen und zur Abwendung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einbrüchen ist mit der Entscheidung verknüpft, kurzfristig mehr Geld in die Hand zu nehmen. Und jeder Finanzchef und Kämmerer weiß dies sehr genau. Aber ist eine Entscheidung zum aktiven Kinderschutz wirklich eine Frage des Geldes oder eher eine Frage des Mutes – den Mut aufzubringen, Geld auszugeben zur Minderung eines Schadens, der mittlerweile nicht mehr zu übersehen ist? Es bedeutet, den Mut aufzubringen, sich von altbekannten reaktiven Strategien zu trennen, den Blick auf wirtschaftliche Entwicklungen mit dem Blick auf den Menschen zu verknüpfen und einen Prozess der Umgestaltung in Gang zu setzen.

Die Sorge, für Mehrkosten gerade stehen zu müssen, scheint jedoch eher unbegründet. Die Alternative – also die bestehende Systematik fortbestehen zu lassen – kostet auch Geld, wie schon beschrieben. Wir laufen den Problemen hartnäckig und beständig hinterher und wundern uns, dass sie sich einfach nicht lösen lassen. Die seit Jahrzehnten durchaus nicht unbekannte Logik, dass frühzeitiges, präventives Handeln uns langfristig viel Not ersparen könnte, scheint in der menschlichen DNA nur sehr versteckt gespeichert zu sein. Die Frage, was geschehen müsste, dass wir uns aktiv auf den Weg machen und unser menschliches Miteinander so gestalten, dass wir möglicherweise gar nicht so viel Lösungen für aufkommende Probleme suchen müssten, hat noch niemand wirklich beantworten können. Das Wissen, dass eine aktive Förderung und Prävention die riesigen Ausgaben im sozialen Bereich langfristig eher positiv beeinflussen könnte, hat bisher leider zu wenig Veränderung der Ausgabepolitik geführt. Hierzu sind Transformationen notwendig, die eine Langzeitwirkung haben. Die dazu notwendigen Entscheidungen passen zu oft nicht in das am Tagesgeschehen orientierte politische Konzept: Krieg, Armut, Klimaschutz und Wirtschaft überlagern zunehmend Notwendigkeiten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir übersehen dabei zu oft, dass der für eine gesunde gesellschaftliche Entwicklung notwendige mündige Bürger sich durch stetes Lernen in einem gesicherten und unterstützenden Kontext entwickelt. Dieser Lernprozess fängt in der ganz frühen Kindheit an. Wenn die Unterstützung dieser Prozesse zu spät kommt, werden wir weiter hinterherlaufen. Wenn wir aber das Hinterherlaufen leid sind, könnte ein Innehalten helfen.

Kinderschutz – Eine grundlegende Investition

Aus den Erfahrungen der pädagogischen Praxis und der aktuell versteckten Not von Kindern lassen sich also Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, die genutzt werden können. Anders formuliert: es werden Initiativen sowohl auf der fachlichen als auch der politischen Ebene gebraucht, die den Kindern helfen, nicht im Dschungel der vordergründigen Themen oder einer Pandemie verloren zu gehen. Aus Erfahrungen könnten Strategien werden, die für eine aktive Gestaltung von Hilfen sorgen – nicht nur im Interesse der betroffenen Kinder. Wenn wir es mit dem Anspruch, dass Kindeswohl eine gemeinsame Aufgabe ist, ernst meinen (wollen), wäre es mehr als wünschenswert, dass die Verantwortungsträger sich gleichermaßen ernsthaft für die Belange von Wirtschaft und Kinderschutz einsetzen, die Experten des Kinderschutzes in Entscheidungen einbinden, sie als Lobbyisten für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen betrachten und aktiv auf die Fachkräfte vor Ort zugehen und ihnen zuhören in Gesprächen über Lösungsmöglichkeiten. Wenn es gelingt, in Fragen des Kindeswohls zu einem verantwortlichen Miteinander zu gelangen, so ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass Kinder, die in ihrem Aufwachsen Schutz erfahren, sich wahrgenommen fühlen und aktive Unterstützung erfahren, sich zu starken, selbstständigen und lebenstüchtigen Erwachsenen entwickeln. Diese Kinder werden all die entwicklungsfördernden Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit erlebt haben, als Erwachsene in ihren Lebens- und Arbeitsalltag einbringen und damit eine zukünftige gesellschaftliche Stabilität entscheidend beeinflussen können, Entwicklungen prägen und – idealerweise – grundlegende Werte unseres Zusammenlebens sichern helfen. Der Kinderschutz ist somit viel mehr als nur eine Verantwortung gegenüber der Schutzbedürftigkeit kleiner Menschen: Er ist eine grundlegende Investition in die Entwicklung, in die Grundwerte einer Gesellschaft, deren Bestand nicht mehr selbstverständlich scheint.

Dieser Aufsatz bezieht sich auf einen Artikel aus dem Heft 4/2021 der Zeitschrift für das Fürsorgewesen.

 

Entnommen aus Zeitschrift für das Fürsorgewesen 10/2024, S. 235.

 
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