02.10.2024

Bürgergeld-Gesetz: Konkrete Neuregelungen im Detail

Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 3

Bürgergeld-Gesetz: Konkrete Neuregelungen im Detail

Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 3

© M. Schuppich – stock.adobe.com
© M. Schuppich – stock.adobe.com

Das seit 2023 geltende Bürgergeld-Gesetz löste die Grundsicherung für Arbeitsuchende ab. Diese im SGB II verankerten Regeln galten seit 2005 und waren im landläufigen Sprachgebrauch bekannt als „Hartz IV“. Wie unterscheiden sich die beiden Instrumentarien? Eine Betrachtung aus Blick der Praxis und der Lehre.[1]

Nachdem in den vorangegangenen Folgen der rechtliche Rahmen und erste Praxiserfahrungen dargestellt worden sind, behandelt diese Folge weitere Neuregelungen im SGB II durch das Bürgergeld-Gesetz, die diese Punkte betreffen:

  • Flexibilisierung des Vermittlungsvorrangs,
  • Weiterbildungsprämien und -geld,
  • Bürgergeldbonus,
  • Flexibilisierung des Verkürzungsgebot und
  • Erweiterung von Grundkompetenzen.
Förderung der Weiterbildung und des Erwerbs eines Berufsabschlusses

Nach Einschätzung von Rahel Schwarz, Volljuristin und Wissenschaftliche Referentin beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. vom Arbeitsfeld III (Grundlagen sozialer Sicherung, Sozialhilfe, soziale Leistungssysteme) seien die Rahmenbedingungen für die Qualifizierung und Weiterbildung durch die Bürgergeld-Reform verbessert worden.


Allerdings sei die kurzfristige Streichung erst kurz zuvor eingeführter Eingliederungsleistungen sowohl den Mitarbeitenden als auch den Leistungsberechtigten schwer zu vermitteln. Zum 1. Juli 2023 war ein monatlicher Bürgergeldbonus von 75 Euro eingeführt worden – für Weiterbildungen, die nicht auf einen Berufsabschluss abzielten. Dieser wurde jedoch mit Inkrafttreten des Haushaltsfinanzierungsgesetzes am 28. März 2024 bereits wieder abgeschafft.  Es würden zudem zur Umsetzung ausreichend finanzielle und personelle Ressourcen nötig. Der Zugang zu Qualifizierung und Weiterbildung dürfe durch den Zuständigkeitswechsel von den Jobcentern auf die Agenturen für Arbeit ab 1. Januar 2025 für Leistungsberechtigte im SGB II nicht erschwert werden.

Praxiserfahrungen aus einem Jobcenter

Petra Hartwig, Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt (BCA) im Jobcenter Heidelberg sieht im Januar 2005 den Zeitpunkt einer tiefen Zäsur in der Leistungsgewährung für arbeitsuchende Menschen. Die damalige Zusammenführung der sozialintegrativen und arbeitsmarktlichen Kernkompetenzen der Kommune mit den arbeitsmarktlichen Kernkompetenzen der Bundesagentur für Arbeit sei überfällig und zukunftsorientiert, richtig und wichtig gewesen. Es brauche eine gesellschaftliche Akzeptanz der Grundsicherung.

Es brauche weiter ein fortschreibendes Monitoring, Analyse, Mut zur Anpassung und Optimierung, weitere Entbürokratisierung, Digitalisierung ohne Überforderung sowie partizipierende Netzwerkarbeit. Darüber hinaus sei eine auskömmliche finanzielle Ausstattung der Jobcenter vonnöten. Die These, dass Bürgergeld ein Fortschritt sei, bejahte Hartwig. Es gelte aber, die Ansätze im Gesetz weiterzuentwickeln.

Freibetragsregelung bei Erwerbstätigkeit

Sinnvoll kann im neuen gesetzlichen Kontext ein Erwerbstätigenfreibetrag in Form eines pauschalierten Ausgleichs für arbeitsbedingte Mehraufwendungen sein. Dies sei ein Anreiz zur Stärkung des Arbeits- und Selbsthilfewillens im Sinne der Rechtsprechung des BSG sowie des BVerwG. „Es darf jedoch kein zu hoher Freibetrag gewährt werden, um eine Dauersubventionierung von zumindest mittleren Löhnen zu verhindern“, meint Rechtsanwalt Uwe Klerks aus Duisburg.

Paradigmenwechsel oder Prokrastination: Die Karenzzeit aus § 22 Abs. 1 SGB II

Zur Karenzzeit referierte Claudia Theesfeld-Betten, Rechtsassessorin beim  Landkreis Aurich, indem sie sich zunächst mit dem Begriff der Angemessenheit in § 22 Abs. 1 SGB II befasste.

Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „angemessene Unterkunftskosten“ die sog. Produkttheorie vorgegeben. Die Prüfschritte zur Festsetzung des Angemessenheitsrichtwertes seien:

– „Wohnungsgröße nach Landesrecht“ (je nach landesrechtlicher Bestimmung) mal örtlichem Mietpreis (nach BSG zu ermitteln in einem „schlüssigen Konzept“);

– unteres Preissegment des lokalen Mietniveaus; maßgeblich ist die Bruttokaltmiete;

– bei fehlendem schlüssigen Konzept erfolgt nach BSG ein Rückgriff auf die Wohngeldtabelle (zzgl. eines Sicherheitszuschlages von 10 Prozent) plus Betriebskosten und hat zum Ergebnis die abstrakte Mietobergrenze.

Die Absenkungsfrist unangemessen hoher Unterkunftskosten beträgt bis zu sechs Monate, und zwar nur nach vorheriger Kostensenkungsaufforderung (auch nach Ablauf der Karenzzeit).

Eine weitere Änderung durch das Bürgergeld-Gesetz war die Entfristung der Karenzzeit (Corona-Sonderregelung): Unterkunftskosten (nicht: Heizung) sind zunächst auch bei Unangemessenheit in „tatsächlicher Höhe“ zu übernehmen.

Zweck der Karenzzeit sollte sein,

  • der Schutz des Grundbedürfnisses „Wohnen“,
  • ein Anreiz, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden (vgl. BT-Drs. 20/3873, S. 89) und
  • ein Rückgang von Widersprüchen und Klagen.

Im Rahmen der Heizkosten gibt es keine Karenzzeit. Eine Kostensenkungsaufforderung in sechs Monaten ist möglich, aber „nur“ auf die tatsächliche Wohnfläche, denn die Wohnung soll ein Jahr lang geschützt sein. „Erst nach Ablauf der Karenzzeit ist eine Absenkung auf angemessene Kosten in sechs Monaten möglich“, so Theesfeld-Betten.

Das Kostensenkungsverfahren seit 1. Januar 2024

Seit Januar 2024 ist ein Kostensenkungsverfahren wieder möglich, und zwar zum 1. August 2024 bzw. zum 1. Juli 2024 („bis zu 6 Monate…“). Der Monat, in dem die Kostensenkungsaufforderung (KSA) ergeht, zählt bei der Berechnung der Absenkungsfrist nicht mit. Bei Gewährung von sechs Monaten Kostensenkungsfrist errechnet sich bei einer KSA im Januar 2024 eine Frist bis 31. Juli 2024.

Vertretbar ist auch, die tatsächlichen KdU nur bis 30. Juni 2024 zu gewähren („…längstens für 6 Monate…“). Zu berücksichtigen sind dabei Sonderfälle wie Umzüge während der Karenzzeit, Unterbrechung des Leistungsbezugs, Wechsel der Personenzahl durch Zuzug oder Geburt bzw. den Tod eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft.

Neuordnung der Sanktionen

Fehlverhalten kann sanktioniert werden. Zu dieser Thematik trug Johannes Greiser, Richter am Sozialgericht und Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück vor. Grundlage für Sanktionen ist u.a. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16).

Die Eckpunkte dieser Entscheidung lauten:

a) Sanktionen für wiederholte Pflichtverletzungen oberhalb von 30 Prozent des Regelsatzes sind verfassungswidrig (Höhe der Sanktionen);

b) verbleibende Sanktionen sind verfassungswidrig, soweit sie auch dann zu verhängen sind, wenn eine besondere Härte vorliegt (Härtefallregelung);

c) die starre Dauer von drei Monaten ist verfassungswidrig, wenn der Leistungsberechtigte nachträglich Mitwirkungspflichten erfüllt oder zumindest seine Bereitschaft dazu erklärt (Wohlverhaltensregelung);

d) es wurde eine Pflicht zur Ermöglichung einer persönlichen Anhörung bei Vorliegen „entsprechender Anhaltspunkte“ postuliert wurde und

e) die Geltung dieser Aussagen allerdings explizit nur für Personen nach Vollendung des 25. Lebensjahres (keine Erweiterung der Vorlagefrage) festgestellt.

Folgen dieser BVerfG-Entscheidung (1 BvL 7/16)

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat Sanktionen im Rahmen der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung des Existenzminimums geprüft und ist dabei in mehreren Schritten vorgegangen: Im Rahmen der Ausgestaltung des Leistungsrechts dürfe der Gesetzgeber den Leistungsanspruch zur Durchsetzung des sog. Nachranggrundsatzes an Mitwirkungspflichten knüpfen sowie Sanktionen zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten regeln.

Leistungsminderungen unterliegen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung und das BVerfG nimmt einen starken Bezug auf die Studienlage vor. Die in der Übergangsregelung vorgesehene Härtefallregelung im Tenor 2 der Entscheidung ist eine sog. Koppelungsvorschrift, die auf der Tatbestandsseite einen unbestimmten Rechtsbegriff hat („außergewöhnliche Härte“) und auf der Rechtsfolgenseite Ermessen vorsieht („nicht erfolgen muss“; „kann abgesehen werden“).

Im Ergebnis ist sie als einheitliche Ermessensvorschrift einzuordnen. Der Senat hat den Anwendungsbereich der sog. Wohlverhaltensregelung auf die noch verbliebenen Sanktionen in Höhe von 30 Prozent erweitert (Ermessensvorschrift). Eine Ausdehnung der Sanktionen auf Personen vor Vollendung des 25. Lebensjahres ist nicht zwingend.

Regelungen im Bürgergeld-Gesetz

Zeitraum und Höhe der Sanktionen nach §§ 31a, 31b SGB II sind bei der ersten Pflichtverletzung ein Monat und 10 Prozent der Regelleistung, bei der zweiten zwei Monate und 20 Prozent  sowie bei der dritten drei Monate und 30 Prozent der Regelleistung. Eine Unterscheidung nach dem Alter der Leistungsberechtigten gibt es nicht mehr, jedoch ein besonderes Beratungsangebot an unter 25-Jährige.

Bei der Härtefallregelung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff ohne Ermessen und es gibt keine Spezifikation durch Regelbeispiele. Die Wohlverhaltensregelung in § 31b Abs. 2 Satz 2 SGB II enthält ebenfalls kein Ermessen und hat eine Mindestdauer von einem Monat.

Eine persönliche Anhörung ist in § 31a Abs. 2 SGB II geregelt vor der Feststellung der Minderung auf Verlangen des Leistungsempfängers und bei wiederholter Pflichtverletzung. Im Rahmen des Kooperationsplans wird die Einhaltung der getroffenen Absprachen überprüft (§ 15 Abs. 5 SGB II) und bei Nichtzustandekommen bzw. Nichtfortschreibung erfolgen Aufforderungen zu erforderlichen Mitwirkungshandlungen mit Rechtsfolgenbelehrung (Sanktionen). Nicht geregelt wurde die Vertrauenszeit von sechs Monaten, die im Vermittlungsausschuss entfernt wurde.

Erste Problemfelder des Bürgergeld-Gesetzes

Bei Zeitraum und Höhe der Sanktionen ist eine Begrenzung auf 30 Prozent vorgesehen, wenn sich die Pflichtverletzungen überlappen. Eine Aneinanderreihung von Minderungen ist möglich. Bei der Härtefallregelung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der voller gerichtlicher Kontrolle unterliegt.

„Normale Härten“ einer Leistungsminderung genügen nicht, aber Härten sind möglich bei der Gefährdung der Integration in Arbeit oder bei einer faktischen Mitbetroffenheit von Kindern. Bei der Wohlverhaltensregelung in § 31b Abs. 2 Satz 2 SGB II stellen sich Fragen, ob sie erst nach Feststellung der Sanktionen gilt oder wann ein ernsthaftes und nachhaltiges Bereiterklären vorliegt. Der Rückgriff auf das bisherige Verhalten ist hier wohl möglich. Eine Anwendung bei Meldeversäumnissen scheidet aus. Die Mindestdauer einer Sanktion nach § 31b Abs. 2 Satz 2 SGB II liegt bei einem Monat.

„Auch die Rechtsnatur des neu eingeführten Kooperationsplans ist umstritten: im Gesetzgebungsverfahren war zunächst von Unverbindlichkeit ausgegangen worden; dort gab es zudem eine Abkehr vom öffentlich-rechtlichen Vertrag)“, so Johannes Greiser unter Verweis auf BT-Drs. 20/3873, S. 83.

Jedoch wurde durch den Vermittlungsausschuss eine Sanktionsmöglichkeit „auf zweiter Ebene“ aufgenommen. Durch das Bürgergeld-Gesetz sei eine gewisse Ambivalenz entstanden bzw. der Kooperationsplan sei ein „Rechtsinstitut mit hybridem Charakter“.

[1] Dieser Darstellung zugrunde liegen Referate und Diskussionsbeiträge zum Bürgergeld-Gesetz vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) auf der Speyerer Fachtagung 2024 unter Leitung von Prof. Dr. Constanze Janda.

– ANZEIGE –

Die Serie: Bürgergeld-Gesetz – Paradigmenwechsel in der Sozialverwaltung?

 

 

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
 
n/a