Bürgergeld-Gesetz: Alter Wein in neuen Schläuchen oder echte Reform?
Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 2
Bürgergeld-Gesetz: Alter Wein in neuen Schläuchen oder echte Reform?
Eine Serie zum Bürgergeld – Folge 2
Das seit 2023 geltende Bürgergeld-Gesetz löste die Grundsicherung für Arbeitsuchende ab. Diese im SGB II verankerten Regeln galten seit 2005 und waren im landläufigen Sprachgebrauch bekannt als „Hartz IV“. Wie unterscheiden sich die beiden Instrumentarien? Eine Betrachtung aus Blick der Praxis und der Lehre.[1]
Die frühere Eingliederungsvereinbarung, die flexible, passgenaue und bedürfnisgerechte Leistungsgestaltung ermöglichen sollte, wurde mit dem Bürgergeld-Gesetz ersetzt. Der 2005 mit der Eingliederungsvereinbarung erhoffte Wandel zu vertrauensvoller Zusammenarbeit sei missglückt, weil es sich bei der Eingliederungsvereinbarung um einen komplexen rechtlichen Rahmen gehandelt habe und die personellen Ressourcen der Jobcenter knapp bemessen seien, so Prof. Dr. Katharina von Koppenfels-Spies von der Universität Freiburg. Zudem verhinderten Sanktionen, Abschlussverpflichtung und Inhaltskontrolle einen Vertragsschluss auf Augenhöhe.
Potenzialanalyse und Kooperationsplan statt Eingliederungsvereinbarung?
Die Potenzialanalyse ist bereits seit 2016 in § 15 Abs. 1 SGB II vorgesehen und beinhaltet eine umfassende Betrachtung der Bedarfe, Fähigkeiten und Verhältnisse der Leistungsberechtigten; sie steht am Anfang des Eingliederungsprozesses und ist dem neuen Kooperationsplan nach § 15 Abs. 2 SGB II (vormals: Eingliederungsvereinbarung) vorgeschaltet.
Durch das Bürgergeld-Gesetz fand eine Erweiterung statt – Eingliederungsziel kann neben einer Arbeitsstelle nun auch eine Ausbildung sein und auf formale und non-formale Qualifikationen sowie Soft Skills der Leistungsberechtigten soll ausdrücklich eingegangen werden.
Der neue Kooperationsplan ersetzt also die bisherige Eingliederungsvereinbarung und ist geregelt in § 15 Abs. 2 SGB II. Als Inhalte nach Satz 2 wurden beibehalten:
- Eingliederungsleistungen,
- Eigenbemühungen,
- Leistungen anderer Leistungsträger sowie
- in Betracht kommende Ausbildungen, Tätigkeiten oder Tätigkeitsbereiche.
Neue Inhalte sind:
– die Teilnahme an Integrationskursen oder
– die berufsbezogene Deutschsprachförderung und
– Rehabilitationsleistungen.
Dies alles stellt keine abschließende Aufzählung dar, sondern formuliert eher einen Qualitätsanspruch an den Prozess.
Form des Kooperationsplans und Schlichtungsverfahren
§ 15 Abs. 3 SGB II regelt die Form, nämlich die Textform (§ 126b BGB) und stellt somit eine Erleichterung im Vergleich zur früher erforderlichen Schriftform der Eingliederungsvereinbarung dar. Eine regelmäßige Überprüfung und Fortschreibung des Plans, erstmals spätestens nach sechs Monaten, ist vorgesehen (§ 15 Abs. 3 Satz 2 SGB II).
Neu zum 1. Juli 2023 war das Schlichtungsverfahren in § 15a SGB II eingeführt worden. Es wird eingeleitet bei Meinungsverschiedenheiten über Erstellung oder Fortschreibung des Kooperationsplans durch beide Parteien. Während der Dauer des Schlichtungsverfahrens werden keine Sanktionen gem. § 31a SGB II verhängt. Sein Ende tritt ein entweder durch Einigung oder nach Ablauf von vier Wochen. Maßgeblich für den Eingliederungserfolg werde die Qualität der jeweiligen Schlichtungsperson sein, so Prof. Dr. Katharina von Koppenfels-Spies.
Fraglich ist die Rechtsnatur/die Rechtsqualität des Kooperationsplans. Nach der Gesetzesbegründung ist er kein öffentlich-rechtlicher Vertrag, sondern soll ein „rechtlich unverbindliches Planungsdokument“ sein. Das Konsensprinzip steht im Vordergrund; es gibt keine Befugnis, den Kooperationsplan bei fehlender Einigung durch Verwaltungsakt zu ersetzen. Laut Gesetzesbegründung soll der Kooperationsplans rechtlich unverbindlich sein. Die Einladung zum ersten Gespräch enthält daher keine Rechtsfolgenbelehrung (§ 15 Abs. 4 SGB II). Erst die Aufforderungen zur Einhaltung der Absprachen aus dem Kooperationsplan oder die Aufforderung zur Mitwirkung an der Erstellung werden mit Rechtsbehelfsbelehrung versehen.
Keine Sanktionen bei Verletzung des Kooperationsplans
Daher gibt es keine Sanktion für die Verletzung von Plichten aus dem Kooperationsplan (anders: § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB II a.F.). Zur Überprüfbarkeit der Inhalte des Kooperationsplans (Rechtsschutz) bleibt festzuhalten: aufgrund der Unverbindlichkeit des Kooperationsplans gibt es keine unmittelbare gerichtliche Kontrolle; Rechtschutz gegen die einzelnen Aufforderungen (Verwaltungsakte) ist möglich; es gibt kein subjektiv-öffentliches Recht des Leistungsberechtigten auf Aufnahme bestimmter Inhalte in den Kooperationsplan. Als Ausweg gibt es bloß die Verweigerung und das Schlichtungsverfahren.
Bewertung des Instruments Kooperationsplan
„Es zeigt sich eine Ambivalenz zwischen vertrauensvollem Verhältnis auf Augenhöhe bei der Erstellung von Potenzialanalyse sowie Kooperationsplan und der Anordnung zum Abschluss des Kooperationsplans in § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Eine rechtliche Unverbindlichkeit sei nur auf den ersten Blick gegeben: keine Leistungsminderungen bei erstmaligen Uneinigkeiten, dafür direkt sanktionsbewehrte Aufforderungen mit Rechtsfolgenbelehrung“, so Prof. Dr. Katharina von Koppenfels-Spies.
Es bestehe weiterhin Asymmetrie, da Verbindlichkeit nur auf Seiten der Leistungsberechtigten vorliegt. Auf die Frage, ob die „Entrechtlichung“ der Prozesse eine bessere Eingliederung ergäben, beschreibt von Koppenfels-Spies folgendes Meinungsbild: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bewertet diese „Entrechtlichung“ der Beratungssituation als hilfreich für den Eingliederungsprozess, weil das Gespräch entkrampfter und vertrauensvoller sein könne.
Andere Stimmen sagen, dass verbindliche Regelungen weniger gebildeten, stärker von Sanktionen betroffenen Menschen Halt und Struktur gäben; eine “Rechtsunverbindlichkeit“ führe zu „Rechtsunsicherheit”. Maßgeblich für den Eingliederungserfolg sei weniger die Gestalt des Kooperationsplans als vielmehr die Einstellung und Qualifikation der Mitarbeiter*innen der Jobcenter.
Nach Einschätzung von von Koppenfels-Spies bedeute die Bürgergeld-Reform keine Abkehr von „Hartz IV“. Ein „Paradigmenwechsel” habe nicht stattgefunden.
Kooperationsplan: Erste Praxiserfahrungen
Erste Erfahrungen aus der Praxis gab mit seinem Referat „Von der Eingliederungsvereinbarung zum Kooperationsplan“ Christian Bach, Teamleiter im Jobcenter Rhein-Sieg.
Unterschiede zwischen Kooperationsplan und Eingliederungsvereinbarung bestehen darin, dass die erste Einladung zum Beratungsgespräch zur gemeinsamen Erstellung von Potenzialanalyse und Kooperationsplan immer ohne Rechtsfolgenebelehrung erfolgt. Einladungen zu Folgegesprächen können ohne Rechtsfolgenbelehrung erfolgen, solange die Leistungsberechtigten zu vereinbarten Terminen erscheinen. Der Kooperationsplan wird grundsätzlich als grober Fahrplan erstellt und regelmäßig aktualisiert. Einzelne individualisierte Schritte werden gesondert konkretisiert. Der Kooperationsplan selbst wird nicht mit einer Rechtsfolgenbelehrung versehen und auch nicht unterschrieben. Er stellt damit keinen öffentlich-rechtlichen Vertrag dar und begründet für beide Seiten keine eigenen unmittelbaren Rechte bzw. Ansprüche.
„Sowohl seitens der Kunden und Kundinnen als auch der Mitarbeitenden der Jobcenter hat es positives Feedback zu Potenzialanalyse und Kooperationsplan gegeben“, sagt Christian Bach. Er ist überzeugt, die Einführung des Kooperationsplanes sei sinnvoll, weil dieser verständlich und transparent sei, er gemeinsam erstellt und in einfacher Sprache formuliert werde. Zudem würden die Ressourcen der Beratung nicht im Verwaltungshandeln gebunden und die vertrauensvolle und kooperative Zusammenarbeit zwischen betreuten Personen und Integrationsfachkräften habe eine gemeinsame Basis, so der Praktiker.
[1] Dieser Darstellung zugrunde liegen Referate und Diskussionsbeiträge zum Bürgergeld-Gesetz vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) auf der Speyerer Fachtagung 2024 unter Leitung von Prof. Dr. Constanze Janda.