15.10.2010

Bildung und Existenzminimum eines Kindes

Was sagt das Bundesverfassungsgericht?

Bildung und Existenzminimum eines Kindes

Was sagt das Bundesverfassungsgericht?

Existenzminimum: neue Regeln. | © chaos.design - Fotolia
Existenzminimum: neue Regeln. | © chaos.design - Fotolia

Die Ausgangslage

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Regelsatz-Urteil am 09. 02. 2010 (NJW 2010, 505) entschieden, dass die Vorschriften des SGB II zu den Regelleistungen für Erwachsene und Kinder nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfüllen. Die Beträge seien zwar nicht als evident unzureichend anzusehen und auch beim Kinderregelsatz sei nicht ersichtlich, dass er nicht ausreiche, um das physische Existenzminimum zu decken. Jedoch seien die Regelleistungen nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt worden. Insbesondere habe der Gesetzgeber durch die prozentuale Ableitung des Kinderregelsatzes vom Erwachsenenregelsatz jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes unterlassen.

Zum spezifischen Bedarf eines Kindes ist seitdem immer wieder zu hören, das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass auch „Bildung“ zum Existenzminimum des Kindes gehöre und der Bund nun in der Pflicht sei – bzw. je nach Standpunkt: endlich das Recht habe – auch hierfür Sorge zu tragen.

Im Folgenden werden die zu dieser Frage maßgeblichen Aussagen der Urteilsgründe wiedergegeben und anschließend bewertet.


Das Urteil

Das Bundesverfassungsgericht führt aus, dass weder aus der Begründung zur Regelsatzverordnung 2005 noch aus anderen Erläuterungen ersichtlich sei, warum die in der Abteilung 10 (Bildungswesen) in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 erfassten Ausgaben bei der Bildung des regelleistungsrelevanten Verbrauchs vollständig unberücksichtigt geblieben sind. Gleiches gelte für die in der Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur) enthaltene Position „Außerschulischer Unterricht in Sport und musischen Fächern“. Dass der Gesetzgeber die Wertungsentscheidung getroffen hätte, diese Ausgaben seien nicht zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich, gehe weder aus den Materialien noch aus der Einlassung der Bundesregierung im Verfahren hervor. Ebenso wenig sei dokumentiert, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, der entsprechende Bedarf sei durch Rechtsansprüche von dritter Seite gedeckt. Die Nichtberücksichtigung einer gesamten Abteilung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe weiche aber in einer Weise vom Statistikmodell ab, die einer besonderen Begründung bedurft hätte. (Rn. 180)

Die nachgeschobene Erwägung der Bundesregierung, dass die Bedarfsdeckung insoweit den Ländern obliege, weil diese für das Bildungswesen zuständig seien, ist für das BVerfG nicht tragfähig. Durch den Erlass des SGB II habe der Bundesgesetzgeber von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für die öffentliche Fürsorge abschließend Gebrauch gemacht. Der Bund trage dementsprechend die Verantwortung für die Sicherstellung des gesamten menschenwürdigen Existenzminimums. Dieser Verantwortung könne er sich nicht durch eine abstrakte Verweisung auf konkurrierende Landeskompetenzen entziehen, die er den Ländern durch sein eigenes Gesetz bereits versperrt hat, und mit dieser Begründung von der Berücksichtigung solcher Ausgaben absehen, die nach seinen eigenen normativen Wertungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendig seien. (Rn. 181)

Das BVerfG verweist darauf, dass die Länder zwar im Schul- und Bildungswesen nicht nur die Gesetzgebungs-, sondern auch die Verwaltungskompetenz besäßen, sodass sie nach Art. 104a Abs. 1 GG die Ausgaben dafür zu tragen haben. Die Vorschrift verteile jedoch zwischen den Gebietskörperschaften des Bundesstaates nur die Ausgabenlast. Die Länder hätten ihre Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen zu finanzieren. Aus Art. 104a Abs. 1 GG folge aber keine fürsorgerechtliche Pflicht, hilfebedürftige Personen, die Schulen besuchen und sonstige Bildungseinrichtungen benutzen, mit den dafür notwendigen finanziellen Mitteln auszustatten. Zudem würde erst ein anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt die Pflicht des Bundes mindern, weil das menschenwürdige Existenzminimum von Verfassungs wegen durch Rechtsansprüche gewährleistet sein müsse. Solche ergänzenden Ansprüche aufgrund von Ländergesetzen seien nicht ersichtlich. (Rn. 182)

Zum Sozialgeld für Kinder führt das BVerfG sodann aus, dass es dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht genüge, weil es von der Regelleistung für Erwachsene abgeleitet sei. Der Gesetzgeber habe weder für das SGB II noch für die Regelsatzverordnung 2005 das Existenzminimum eines minderjährigen Kindes, das mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft zusammen lebt, ermittelt, obwohl schon Alltagserfahrungen auf einen besonderen kinder- und alterspezifischen Bedarf hindeuteten. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen. Ihr Bedarf, der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden müsse, habe sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich sei. (Rn. 191)

Das BVerfG erwartet einen zusätzlichen Bedarf vor allem bei schulpflichtigen Kindern. Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehörten zu ihrem existentiellen Bedarf. Ohne Deckung dieser Kosten drohe hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen, weil sie ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien, wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner, die Schule nicht erfolgreich besuchen könnten. Bei schulpflichtigen Kindern, deren Eltern Leistungen nach dem SGB II beziehen, bestehe die Gefahr, dass ohne hinreichende staatliche Leistungen ihre Möglichkeiten eingeschränkt würden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können. Dies sei mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar. (Rn. 192)

Vor allem sei ein altersspezifischer Bedarf für Kinder einzustellen, welche die Schule besuchen. Die Zuständigkeit der Länder für das Schul- und Bildungswesen mache die fürsorgerechtliche Berücksichtigung dieses Bedarfs nicht entbehrlich und betreffe überdies den personellen und sachlichen Aufwand für die Institution Schule und nicht den individuellen Bedarf eines hilfebedürftigen Schülers. Der Bundesgesetzgeber könnte erst dann von der Gewährung entsprechender Leistungen absehen, wenn sie durch landesrechtliche Ansprüche substituiert und hilfebedürftigen Kindern gewährt würden. Dann könnte eine einrichtungsbezogene Gewährung von Leistungen durch die Länder, zum Beispiel durch Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Lernmitteln oder durch ein kostenloses Angebot von Nachhilfeunterricht, durchaus ein sinnvolles Konzept jugendnaher Hilfeleistung darstellen, das gewährleiste, dass der tatsächliche Bedarf gedeckt werde. Solange und soweit dies jedoch nicht der Fall sei, habe der Bundesgesetzgeber, der mit dem SGB II ein Leistungssystem habe schaffen wollen, welches das Existenzminimum vollständig gewährleiste, dafür Sorge zu tragen, dass mit dem Sozialgeld dieser zusätzliche Bedarf eines Schulkindes hinreichend abgedeckt sei (Rn. 197).

Anmerkung und Klarstellung

Ein genauer Blick auf die Urteilsgründe zeigt also, dass das BVerfG nicht Bildung schlechthin als Teil des Existenzminimums definiert, sondern vielmehr (nur) den zusätzlichen Bedarf eines schulpflichtigen Kindes berücksichtigt. Hier benennt das Gericht die notwendigen Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten, weil die Kinder ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien die Schule nicht erfolgreich besuchen könnten. Die explizite Aufzählung, die das Gericht vornimmt, zeigt anschaulich, dass es hier um das Handwerkszeug für den Unterricht geht, nicht aber um diesen selbst oder gar um dessen Inhalte.

Die Vorhaltung der Angebote von Schule oder auch von außerschulischer Bildung ist Sache von Ländern und Kommunen. Das bekräftigt das BVerfG mehrfach. Zugleich stellt es darauf ab, dass die Ausstattung hilfebedürftiger Menschen, die diese Angebote wahrnehmen wollen oder im Falle der Schule müssen, mit den dafür notwendigen finanziellen Mitteln nicht Ländern und Kommunen obliegt, sondern dem Bund im Rahmen des Existenzminimums.

Fazit und offene Fragen

Fragen werfen die zuletzt genannten Aussagen des Gerichts zu einer Verantwortung des Bundes auf, solange und soweit der tatsächliche Bedarf in oder von den Ländern nicht gedeckt wird. Von der Gewährung des individuellen Bedarfs eines hilfebedürftigen Schülers kann der Bund nur absehen, wenn darauf bereits landesrechtliche Ansprüche bestehen, z. B. durch Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Lernmitteln.

Das vom Gericht weiter genannte Beispiel, ein kostenloses Angebot von Nachhilfeunterricht, das auch das Bundes­ministerium für Arbeit und Soziales in seinem aktuellen Referentenentwurf zur Ermittlung von Regelbedarfen aufgreift, stellt dies aber wieder in Frage. Die Länder haben für einen guten Unterricht zu sorgen, nicht aber auch für einen im Einzelfall erforderlichen Nachhilfeunterricht. Denn Nachhilfe kann aus ganz unterschiedlichen schulischen oder individuell verursachten Gründen erforderlich sein. In beiden Konstellationen kann es aber nicht Aufgabe des aus Bundesmitteln durch Geld- oder Sachleistungen zu sichernden Existenzminimums sein, dem abzuhelfen.

Keine weiteren Ausführungen macht das Gericht zur außerschulischen Bildung, die vielfach von den Landkreisen und Gemeinden über Maßnahmen der Jugendarbeit, über die Volkshochschulen, die Musikschulen, die Vereine und vieles mehr angeboten werden. Auch hier kann es allenfalls darum gehen, dass ein regelsatzrelevanter Bedarf für die Inanspruchnahme dieser Angebote fixiert wird, nicht aber darum, dass der Bund selbst Einfluss auf den Vorhalt dieser Angebote oder die Angebote selbst nimmt.

 

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke

Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages, Berlin
n/a