06.11.2023

Beurteilung einer Notwehrsituation

Beschluss des Bundesgerichtshofs

Beurteilung einer Notwehrsituation

Beschluss des Bundesgerichtshofs

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

Ein Mann wurde wegen versuchten Totschlags zu einem Freiheitsentzug verurteilt. Der Angeklagte verwies auf die Anwendung von Notwehr. Nun hat der Bundesgerichtshof in der Sache entschieden.

Sachverhalt

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchten Erwerbs einer erlaubnispflichtigen Schusswaffe zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

StGB – § 32


Für die zur Beurteilung der Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung gebotene Ex-ante-Betrachtung ist entscheidend, wie sich die Lage aus Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation des Angeklagten nach der unter Beachtung des Zweifelssatzes zu bildenden tatrichterlichen Überzeugung darstellt. Geprägt wird die Tatsituation eines Verteidigers dabei auch durch den ihm in diesem Moment zugänglichen Erkenntnishorizont; maßgeblich ist nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die Perspektive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers.

Bundesgerichtshof (Beschl. v. 25.10.2022 – 5 StR 276/22)

Aus den Gründen

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht (LG) eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr verneint hat, weisen Rechtsfehler auf. Dies führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils.

Das LG hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen: Am 16.03.2021 gegen 18.30 Uhr trafen sich der Angeklagte und der Mitangeklagte R. zur Abwicklung eines vom Letzteren angebahnten Ankaufs einer Pistole für etwa 4.000 € bei einer Straßenbahnhaltestelle in B. mit dem Nebenkläger. Der Angeklagte führte neben einem entsprechenden Geldbetrag eine Schusswaffe bei sich, um sich im Fall einer Auseinandersetzung zur Wehr setzen zu können. Es kam zu Unstimmigkeiten mit dem Nebenkläger, weil dieser vom Angeklagten zunächst die Übergabe des Geldes forderte. Nachdem er zwischenzeitlich mit seinem Motorrad davongefahren war, kehrte der Nebenkläger nach einigen Minuten in Begleitung des Zeugen M. zurück. Dieser forderte vom Angeklagten ebenfalls, zuerst den Kaufpreis zu bezahlen. Der Angeklagte holte daraufhin das Geld aus seiner Jackentasche und zeigte es vor.

In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang dazu sprühte der Nebenkläger mit einem Pfefferspray in Richtung des Angeklagten, der davon jedenfalls auch im Gesicht getroffen wurde. Entweder vor dem Einsatz des Pfeffersprays oder unmittelbar danach entriss der Zeuge M. dem Angeklagten das Geld. Der Angeklagte, bei dem es sich um einen besonders geübten Schützen handelt, holte sodann den mitgeführten Revolver aus der Tasche. Dies sahen der Nebenkläger und der Zeuge M., drehten sich um und rannten zum Motorrad des Nebenklägers zurück. Der Angeklagte lief ihnen hinterher und forderte sie erfolglos zur Rückgabe des Geldes auf. Da beide weiter flüchteten, schoss er nun mindestens zweimal in schneller Folge gezielt auf Oberkörperhöhe in Richtung des Nebenklägers und des Zeugen M., die sich zwei bis drei Meter von ihm entfernt befanden, verfehlte sie jedoch.

Als der Nebenkläger auf der Höhe eines Stichwegs ankam, in den der Zeuge M. bereits abgebogen war, drehte er sich für einen kurzen Augenblick um. Der zu diesem Zeitpunkt etwa 20 bis 25 Meter entfernte Angeklagte zielte und schoss mindestens ein weiteres Mal auf ihn. Das Projektil traf den Nebenkläger an der Körpervorderseite unterhalb des Schlüsselbeins. Trotzdem schaffte es der lebensgefährlich verletzte Nebenkläger, in den Stichweg einzubiegen und weiterzulaufen. Der Angeklagte brach sodann die weitere Verfolgung ab, weil er davon ausging, dass er die Fliehenden nicht mehr würde einholen können.

Landgericht sieht Notwehr als nicht gegeben

Bei allen Schüssen nahm der Angeklagte den Tod der anvisierten Personen zumindest billigend in Kauf. Das LG ist zu seinen Gunsten davon ausgegangen, dass er auch mit dem Willen handelte, sich gegen die Entwendung des Geldes zur Wehr zu setzen. Das LG hat eine Rechtfertigung der drei Schüsse als Notwehr (§ 32 StGB) verneint. Zwar sei eine Notwehrlage gegeben gewesen, da sich der Angeklagte während der gesamten Tatzeit einem rechtswidrigen und noch gegenwärtigen Angriff auf sein Besitzrecht an dem entwendeten Geld ausgesetzt gesehen habe. Zu dessen Abwehr habe er aber nicht mindestens dreimal gezielt auf die Oberkörper des Nebenklägers und des Zeugen M. schießen dürfen, da es sich hierbei nicht um das mildeste, ihm in der konkreten Kampflage zur Verfügung stehende Mittel gehandelt habe. Er sei zwar nicht gehalten gewesen, den Waffengebrauch vorher verbal anzudrohen, da der Nebenkläger und der Zeuge M. seinen Revolver bereits gesehen hätten. Allerdings sei ihm zuzumuten gewesen, vor einem potenziell tödlichen Einsatz zunächst ungezielte Warnschüsse abzugeben und im Anschluss erst auf weniger sensible Körperteile zu schießen, um die Angreifer von der Sicherung der Tatbeute abzuhalten. Solche Schüsse seien dem Angeklagten als besonders geübtem Schützen auch möglich gewesen; ein unzumutbares Risiko eines Fehlschlags sei damit nicht einhergegangen.

Die Erwägungen, mit denen das LG die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlungen und damit eine Rechtfertigung des Angeklagten abgelehnt hat, halten rechtlicher Überprüfung teilweise nicht stand. Es hat die drei Schüsse rechtlich einheitlich gewürdigt. Da diese unter sich ändernden Bedingungen abgegeben wurden, hätte es jedoch einer differenzierenden Betrachtung und in deren Konsequenz zusätzlicher Feststellungen bedurft. Für die ersten beiden, bereits auf die Oberkörper der Fliehenden zielenden Schüsse des Angeklagten hat das LG allerdings zutreffend angenommen, dass sie nicht im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich waren. Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Für den lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen gilt dabei, dass ein solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann.

In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er, wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. Infrage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig zu machen.

Zumindest Schüsse der letztgenannten Art auf weniger sensible Körperregionen wären dem Angeklagten hier möglich gewesen, ohne dabei die Erfolgschancen seiner Verteidigung in relevantem Umfang zu schmälern, da er sich bei Abgabe der Schüsse nur zwei bis drei Meter hinter den Fliehenden befand und er zudem im Umgang mit einer Schusswaffe erfahren war. Seine sofortigen Schüsse auf die Oberkörper entsprachen daher nicht der mildesten ihm zu Gebote stehenden Abwehrmöglichkeit. Für den dritten Schuss hat das LG dagegen nicht in den Blick genommen, dass sich im Verlauf des Tatgeschehens Umstände geändert haben, die für die Voraussetzungen der Notwehr wesentlich sind. Ausgehend hiervon hat es unzureichende Feststellungen getroffen, die es dem Senat nicht erlauben, die mögliche Erforderlichkeit des Schusses als Notwehrhandlung zu überprüfen.

Das LG hat über dieses Kriterium zudem nicht wie geboten anhand der konkreten tatsächlichen Umstände entschieden. Zu beurteilen ist die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung auf der Grundlage einer objektiven Ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung.

Wahl des Abwehrmittels: Abwehrwirkung muss unzweifelhaft sein

Der Angegriffene ist grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Er muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Ausgehend hiervon erlauben es die vorhandenen Feststellungen jedoch schon nicht zu beurteilen, ob der dritte Schuss eine Beseitigung der Gefahr überhaupt ermöglichte, mithin ob er zur Abwehr des Angriffs auf das Besitzrecht des Angeklagten geeignet war. Dies unterliegt Zweifeln, weil der dritte Schuss – anders als die ersten beiden Schüsse – allein auf den Nebenkläger abgegeben wurde. Trug der Zeuge M., der die Geldscheine entrissen hatte, sie auch bei Abgabe des dritten Schusses noch bei sich, so erscheint fraglich, inwiefern eine Unterbindung der Flucht des Nebenklägers noch zur Abwehr des Angriffs hätte beitragen können. Dazu hätte das Handeln des Angeklagten schließlich die Aussicht bieten müssen, eine Beutesicherung durch den bereits vorauseilenden Zeugen M. noch zu verhindern.

Das LG hat nicht festgestellt, ob sich das Geld bei Abgabe des dritten Schusses noch beim Zeugen M. oder aber beim Nebenkläger befand. Dies hätte hier jedoch allenfalls dann offenbleiben dürfen, wenn aus der gebotenen Ex-ante-Sicht gar nicht erkennbar gewesen sein sollte, welcher der Fliehenden das entwendete Geld mit sich führte, denn dann wäre aus dieser Perspektive jeder Schuss als chancenerhöhend für die Abwehr anzusehen gewesen, unabhängig davon, auf wen von beiden er abgegeben wurde. Auch über diese Frage geben die Urteilsgründe aber keine Auskunft.

Im Einzelnen: Für die gebotene Ex-ante-Betrachtung ist entscheidend, wie sich die Lage aus Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation des Angeklagten nach der unter Beachtung des Zweifelssatzes zu bildenden tatrichterlichen Überzeugung darstellt. Geprägt wird die „Tatsituation“ eines Verteidigers dabei auch durch den ihm in diesem Moment zugänglichen Erkenntnishorizont; maßgeblich ist nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die Perspektive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers. Für den Angeklagten war diese Perspektive naheliegend insofern limitiert, als ihm das Geld in einem plötzlich beginnenden, dynamischen Geschehen entrissen und zudem gegen ihn Reizgas eingesetzt worden war.

Verteidigungswillen des Angeklagten nicht eindeutig erkennbar

Die Jugendkammer ist zwar davon ausgegangen, dass dies die Sehfähigkeit des Angeklagten „nicht signifikant“ verschlechtert hatte, konnte aber nicht ausschließen, dass er jedenfalls „im Gesicht getroffen und dementsprechend beeinträchtigt“ war. Aus der beschriebenen Perspektive bildete die Verhinderung der Flucht des Nebenklägers schon dann eine geeignete Abwehrhandlung, wenn der Verbleib des Geldes nicht erkennbar gewesen sein sollte. Denn aus dieser Sicht wäre dann von der Möglichkeit auszugehen gewesen, dass der Nebenkläger das Geld mit sich führte, sodass der Schuss auf ihn eine Chance zum Erhalt der von den Angreifern noch nicht endgültig gesicherten Beute begründen konnte. Eine für den Angeklagten nur ex post zu erlangende Kenntnis davon, dass sich das Geld beim Zeugen M. befand, würde dies nicht infrage stellen; dies fällt vielmehr in das Risiko der Angreifer.

Ob aus der umschriebenen Perspektive erkennbar war, wo sich das Geld befand, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Erschließbar ist dies auch nicht daraus, dass das LG einen Verteidigungswillen des Angeklagten bejaht hat. Dies gilt schon deswegen, weil das LG auch bei der Prüfung des Verteidigungswillens dem Verlauf des Tatgeschehens nicht wie geboten Rechnung getragen hat. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff des Verteidigers zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren. Dies stünde infrage, sollte der Angeklagte den dritten Schuss auf den Nebenkläger in der Vorstellung abgegeben haben, dass dieser das Geld gar nicht bei sich trug.

Einen solchen Zusammenhang hat die Jugendkammer jedoch nicht erkennbar bedacht; vielmehr hat sie einen Verteidigungswillen zugunsten des Angeklagten lediglich nicht auszuschließen vermocht und sich dabei allein auf eine vom Angeklagten behauptete Rückgabeaufforderung gestützt, die dieser bereits vor Abgabe der ersten beiden Schüsse an den Nebenkläger und den Zeugen M. gerichtet haben will. Somit bleibt auch in diesem Zusammenhang offen, ob er durch den Schuss den Angriff überhaupt noch abwehren konnte.

Bei seiner Einschätzung der Erforderlichkeit des dritten Schusses hat das LG zudem die zwischenzeitliche Änderung der äußeren Umstände außer Betracht gelassen. Die maßgebliche „Kampflage“ stellte sich bei Abgabe des dritten Schusses ganz anders dar als bei den vorangegangenen Schüssen: Der Nebenkläger war vom Angeklagten nun bereits 20 bis 25 Meter entfernt, der Zeuge M. zuvor schon in einen Stichweg abgebogen. Da die beiden gezielten, ihn allerdings verfehlenden Schüsse den Nebenkläger von seiner Flucht nicht abgehalten hatten, konnte dies realistisch nur noch durch einen Treffer gelingen.

 

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv 9/2023, Lz. 304.

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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