02.01.2024

Ausweitung der Feierzone

Reicht der Instrumentenkasten des Rechts?

Ausweitung der Feierzone

Reicht der Instrumentenkasten des Rechts?

Das Thema Veranstaltungssicherheit ist zum Dauerbrenner geworden.|© Branddirektion München
Das Thema Veranstaltungssicherheit ist zum Dauerbrenner geworden.|© Branddirektion München

Wie der wachsenden sog. Mediterranisierung des öffentlichen Raums zum Schutz der Rechte aller Beteiligten am besten begegnet werden kann.

Wo viele Hähne sind, da ist die Nacht dahin (arabisches Sprichwort)

Der öffentliche Straßenraum steht unter Dauerstress. Veranstaltungen allerorten. Die Außengastronomie ist pilzartig gewachsen. Sich inflationär vermehrende Weihnachtsmärkte locken Touristen in Scharen an. Auf spontanen oder episodischen Massenpartys wird Nähe gesucht. Sich türmende Beschwernisse und Zukunftssorgen wollen für Momente vergessen werden. Die Devise lautet: Ausgelassen abseits vom digitalen Alltag zusammen mit anderen Gleichgesinnten auf öffentlichen Straßen, Plätzen und in Parks analog feiern – besonders heftig im Karneval oder Fasching. Die sog. Mediterranisierung des öffentlichen Raumes zählt zu den vielen nachwirkenden Effekten der Coronapandemie.


Vor allem in größeren Städten führt die Zunahme dieses Phänomens jedoch zu oft unzumutbaren Belastungen der Anwohnerinnen und Anwohner mit Unmengen an Müll, erheblichem nächtlichem Lärm und unbotmäßigem Urinieren. Das übliche Instrumentarium des Straßen- und Ordnungsrechts gerät an seine Grenzen. Inwiefern ist das Recht geeignet, den neuen Entwicklungen zu begegnen? Wie sollte der öffentliche Raum künftig gestaltet und genutzt werden, um die Städte urban und lebenswert zugleich zu machen. Dem soll im Folgenden aus Sicht der Kommunen nachgegangen werden.

Doppelspur im Straßenrecht

Das herrschende Regelungssystem für den öffentlichen Straßenraum ist geprägt vom Dualismus von Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht. Das Straßenrecht regelt die öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisse an Straßen, Wegen und Plätzen und betrifft die Bereitstellung und Unterhaltung von Straßen. Es dient in erster Linie dem Ausgleich der Nutzungsinteressen am öffentlichen Gut Straßenraum. Das Straßenverkehrsrecht bezweckt dagegen schwerpunktmäßig die Sicherheit und Leichtigkeit des vom Straßenrecht ermöglichten Verkehrs, auch nach der nun streitigen Reform des Straßenverkehrsrechts. Es ist von der bundesweit geltenden Straßenverkehrs-Ordnung determiniert. Straßenrecht hingegen ist Sache der Länder.

Zentraler Begriff der erlaubten straßenrechtlichen Nutzung ist der antiquiert klingende Begriff des sog. Gemeingebrauchs. Gemeingebrauch bedeutet, dass der Gebrauch von öffentlichem Raum jedermann im Rahmen der Zweckbestimmung (Widmung) und der die Benutzung regelnden ordnungs- und verkehrsrechtlichen Vorschriften gestattet ist. Alles, was darüber hinausgeht, ist sog. Sondernutzung und bedarf der behördlichen Genehmigung.

Verkehr ist kommunikativ

Straßen dienen gemäß ihrer eigentlichen Zweckbestimmung zunächst der Mobilität, sprich dem Verkehr im engeren Sinn. Mit Blick auf das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und anderer Grundrechte, insbesondere der Meinungs- und Kunstfreiheit aus Art. 5 GG, hat die Rechtsprechung die Rechtsfigur des sog. kommunikativen Verkehrs entwickelt. Dieser wird als Nutzung verstanden, „die den öffentlichen Straßenraum auch als Stätte der kommunikativen Begegnung, der Pflege menschlicher Kontakte und des Meinungs- und Informationsaustausches begreift“ (BVerwG, NJW 1990, 2011).

Akteure sind Fußgängergruppen, Straßenkünstler, Händler und vor allem in Wahlkampfzeiten auch Flugblattverteiler. Die Einbeziehung der kommunikativen Erscheinungsformen in den Gemeingebrauch setzt zweierlei voraus: Von der Zweck- und Zielrichtung her muss es sich noch um Verkehr handeln. Die jeweilige Betätigung darf zudem den Gemeingebrauch Dritter nicht beeinträchtigen und deren Rechte nicht verletzten.

Auch die massenhafte rein gesellige Zusammenkunft von Menschen im öffentlichen Straßenraum zählt insofern grundsätzlich zum kommunikativen Verkehr. Sie fällt hingegen nicht unter die Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG. Als reine Vergnügungsveranstaltungen dient sie der Unterhaltung und nicht dem gesellschaftlichen Diskurs.

Heidenlärm um eine Kirche herum

Die Ordnungsämter der Städte haben alle Hände voll zu tun, bei strapazierter erlaubter kommunikativer Nutzung des öffentlichen Straßenraums die Rechte Dritter zu wahren. Dies gilt besonders für den Lärmschutz, respektive die Nachtruhe. Wie komplex und schwierig sich in der Praxis der erforderliche Ausgleich der Interessen gestaltet, zeigt ein prominenter Fall aus Köln, den das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen nun entschieden hat (OVG NRW, Urt. v. 23.09.2023, Az. 8 A 2519/18, justiz.nrw.de):

Seit dem Jahr 2005 halten sich zum Teil bis zu mehrere hundert Personen bis in die späten Nachtstunden auf dem Brüsseler Platz um eine innerstädtische Kirche herum auf, der sich zu einem „Szenetreffpunkt“ entwickelt hat. Vor allem an den Wochenenden kommt es zu erheblichen Lärmbelästigungen.

Unter Hinweis auf solche wandten sich Anwohner an die Stadt Köln. Diese verwies darauf, dass die Störung der Nachtruhe, von einzelnen Verstößen wie Grölen und Straßenmusik abgesehen, auf einem legitimen Verhalten der Besucher beruhe, gegen das sie nicht ordnungsbehördlich einschreiten könne. Mit den bisherigen Maßnahmen, insbesondere der regelmäßigen Anwesenheit eines privaten Sicherheitsdiensts, der die Situation beobachte und an die Besucher appelliere, die Nachtruhe zu beachten, habe sie alles ihr rechtlich Mögliche und Zumutbare unternommen. Das Verwaltungsgericht Köln gab jedoch der daraufhin von mehreren Anwohnern erhobenen Klage statt. Die hiergegen gerichtete Berufung der Stadt Köln hatte nun beim OVG NRW keinen Erfolg. Die Stadt will dagegen Beschwerde einlegen, um die Zulassung der Revision zu erreichen.

Grundrechte als Lärmschutzwall

Nach dem OVG NRW ergibt sich Anspruch der Anwohner auf Einschreiten gegen die nächtlichen Lärmbeeinträchtigungen – jeweils selbstständig tragend – aus dem öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch und aus der grundrechtlichen Schutzverpflichtung des Staates nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) bzw. Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentum). Die Stadt Köln müsse, so das Gericht, effektive Maßnahmen zur Lärmreduzierung auf dem Brüsseler Platz ergreifen, um gesundheitsgefährdenden Lärm an den Wohnungen der Anwohner zur Nachtzeit zu unterbinden.

Nach dem Landes-Immissionsschutzgesetz NRW seien von 22 bis 6 Uhr Betätigungen verboten, welche die Nachtruhe zu stören geeignet sind. Auch wenn die Entscheidung über ordnungsbehördliche Maßnahmen grundsätzlich im Ermessen der Behörde stehe und es selbstverständlich Ausnahmen geben könne, etwa für die Karnevalstage, dürfe die Stadt hier unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände von einem Einschreiten nicht pauschal absehen.

Die Kläger seien, was Lärmmessungen ergeben hätten, gesundheitsgefährdenden Geräuschimmissionen ausgesetzt. Die Messungen belegten eine regelmäßige unzumutbare Überschreitung nicht nur der für solche innerstädtischen Wohnnutzungen geltenden Richtwerte von 45 dB(A), sondern sogar der Schwelle der Gesundheitsgefahr von 60 dB(A) jeweils während der lautesten Nachstunde bis weit nach Mitternacht. Dies sei jedenfalls bei Geräuschen der hier vorliegenden Art der Fall, die in hohem Maße durch Pegelausschläge infolge von Schreien, Rufen, Grölen etc. gekennzeichnet und deshalb in besonderer Weise geeignet seien, den nächtlichen Schlaf zu stören.

Auch mit Blick auf die Sozialadäquanz und Akzeptanz seien die Geräusche nicht zumutbar. Die Geräuschimmissionen hielten sich hier – bereits angesichts ihrer Regelmäßigkeit und Höhe – nicht mehr in einem Bereich, der auch in einem innerstädtischen Gebiet, das in wesentlichem Umfang auch dem Wohnen dient, noch in den Grenzen des als sozial Üblichen und Tolerierbaren liegen könnte.

Es seien daher rechtlich weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Lärmbelastung der Anwohner nötig und möglich. Insoweit werde die Stadt Köln neben einem verstärkten Einsatz des Ordnungsamts, nötigenfalls mit Unterstützung der Polizei, auch zu erwägen haben, ob sie die Art und Weise der Benutzung des Platzes etwa durch ein – ggf. zeitlich beschränktes – Alkoholkonsumverbot im Wege einer Verordnung einschränke. In Betracht kommt auch ein noch weitergehendes nächtliches Verweilverbot. Als letztes Mittel müsse sie sogar eine Sperrung des Platzes (etwa durch einen Zaun oder eine dichte Hecke) in Betracht ziehen.

Stadt betreibt Partyanlage

Für andere betroffene Städte besonders spannend ist eine kreative rechtliche Konstruktion des OVG NRW: Es stufte den Brüsseler Platz als eine von der Stadt betriebene schlichthoheitlich betriebene nicht genehmigungsbedürftige Anlage im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ein, von der schädliche Umwelteinwirkungen ausgehen würden, die der Stadt auch zuzurechnen seien. Damit unterstellte das Gericht den Brüsseler Platz als sog. ortsfeste Anlage dem im Vergleich zum Verkehrsrecht strengeren immissionsschutzrechtlichen Regime mit niedrigeren Grenzwerten.

Aufgrund der parkähnlichen Gestaltung mit Sitzgelegenheiten sowie der vorhandenen Toilettenanlage wiese der Platz die erforderlichen baulichen Elemente auf, die zum Verweilen auf dem Platz einlüden. Zum Anlagencharakter trage auch die regelmäßige aufwendige Reinigung des Platzes durch die Stadt bei, die die Aufenthaltsqualität auf dem Platz aufrechterhalte.

Zudem sei die Stadt verantwortlich dafür, dass der Platz über seine ursprüngliche Widmung hinaus sich seit dem Jahr 2005 zu einem Ort für eine Freiluftparty entwickelt und sich nunmehr jedenfalls in der wärmeren Jahreshälfte – vergleichbar einem gemeindlichen Festplatz – als solcher etabliert habe. Sie habe gegen diese Entwicklung ordnungsrechtlich zu wenig ernsthaft unternommen.

Ferner habe die Stadt den Platz als einen lauschigen Platz zum Verweilen, ein Stück Kultur und eine Oase mit mediterranem Flair und das umliegende sog. Belgische Viertel als attraktives Ausgehviertel mit vielen hippen Gaststätten und Läden u. a. auf der städtischen Webseite schließlich aktiv beworben. Auf diese Weise habe sich auf dem Platz ein Szenetreffpunkt entwickelt.

Wege jenseits von Singapur

Die Städte müssen nach dem OVG-Urteil also künftig höllisch aufpassen, dass sie dem Partygeschehen mit weitgehend ineffektiven Maßnahmen sehenden Auges nicht zu viel Freiraum belassen. Doch einfacher gesagt als getan. Zwar ist der Instrumentenkasten des Polizei- und Ordnungsrechts gut bestückt; doch scheitert eine stringente Kontrolle und Durchsetzung in der Praxis oftmals am Fehlen ausreichender Ordnungskräfte, vor allem wegen nicht besetzter Stellen. Diese wichtige Aufgabe muss daher attraktiver gestaltet und besser bezahlt werden. Auch darf die Arbeitszeit nicht schon um 23.00 Uhr enden.

Dass die Ordnungsämter in der Pflicht stehen, betonte auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem neuen rechtskräftigen Urteil vom 17.08.2023 (Az. 1 S 1718/22, juris). Das Gericht attestierte der Stadt ein „strukturelles Vollzugsdefizit“ und gab ihr auf, im Rahmen ihres Ermessens geeignete Maßnahmen zur Durchsetzung der Nachtruhe auf dem Augustinerplatz in Freiburg in der Zeit zwischen 24:00 und 06:00 Uhr zu ergreifen. Auslöser war auch hier die aufgrund der Lärmimmissionen verursachte konkrete Gefahr der erheblichen Schädigung der Gesundheit der Kläger.

Angesichts der steigenden Aggressivität und Respektlosigkeit brauchen die städtischen Einsatzkräfte darüber hinaus zumindest psychologische Fortbildung und Begleitung durch professionelle Akteure. Schließlich ist nach dem Ausreizen der Möglichkeiten der Verständigung und des Kompromisses konsequentes und schnelles ordnungsrechtliches Handeln mit höheren Bußgeldern gefragt.

Damit wird nicht einer „Singapurisierung“ in Richtung einer autoritären Stadt das Wort geredet, die noch kleinste Vergehen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung drakonisch sanktioniert. Doch nur wenn den Feierfreudigen auch klare Grenzen gesetzt werden, können die Freiräume der anderen Menschen geschützt und bewahrt werden.

Strukturwandel des öffentlichen Raumes

Mit der Ausweitung der Partyzonen in den öffentlichen Räumen der Städte findet ein urbaner Strukturwandel statt. Das Private wird öffentlich. Die Hemmschwellen sinken. Respektlosigkeit greift immer mehr Raum. Die Veränderung der sozialen Kommunikation in der digitalen Welt, die sich kaum noch in Schranken der Fairness und der Rücksichtnahme weisen lässt, färbt ebenso auf den öffentlichen Raum ab. Dies führt zu Grundrechtskonflikten, die durch das Ordnungsrecht kaum noch zu bewältigen sind.

Gefragt ist deshalb eine Stadtentwicklung, die das berechtigte Interesse besonders junger Menschen auf Zusammenkunft und gemeinsames Feiern auf öffentlichen Straßen und Plätzen auffängt und ihnen Raum gibt. Orte schafft, an denen schon tagsüber ein vielfältiges Treiben herrscht und Gemeinschaft entsteht. Der öffentliche Raum ist als ein urbaner Begegnungsraum zu denken, zu dem jeder ohne gesonderte Berechtigung Zugang hat.

Angelehnt an die klassische Agora ist der idealtypische öffentliche Raum der Marktplatz. Dieser ermöglicht gemeinschaftliche Freiheitsentfaltung, welche die individuelle Freiheitsbetätigung des Einzelnen übersteigt, er bietet Raum zur Integration und dient daher zugleich der Identifikation mit dem Gemeinwesen. Eine „Ballermannisierung“ des öffentlichen Raumes muss dabei jedoch vermieden werden. Nicht die Touristen, sondern ihre Bewohner prägen das Gesicht ihrer Stadt.

Die modern  verstandene Urbanität erfordert aber auch von jedem Einzelnen soziale Rücksichtnahme und Respekt vor den Rechten anderer. Die Stadt braucht auch möglichst autofreie Wohngebiete, in denen ab 22 Uhr die Ordnungsämter die Nachtruhe strikt durchsetzen. Eine das Soziale mitdenkende Ordnungspolitik und urbane Stadtentwicklung berücksichtigt beide Aspekte, sowohl die Notwendigkeit öffentlicher Räume für das Zusammenleben in der Gemeinschaft als auch den Schutz privater Rechte.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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