25.01.2024

Aufenthaltsverbot für Fußballfans

Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bremen

Aufenthaltsverbot für Fußballfans

Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bremen

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © emmi - Fotolia / RBV

Gegen einen Fan des Fußballvereins SV Werder Bremen wurde ein Aufenthaltsverbot verhängt. Der Betroffene klagte in der Folge auf vorläufigen Rechtsschutz. Das zuständige Oberverwaltungsgericht stand dem Klagenden zumindest teilweise Recht zu.

Sachverhalt

Der Antragsteller begehrte – im Ergebnis teilweise erfolgreich – vorläufigen Rechtsschutz gegen ein sofort vollziehbares Aufenthaltsverbot für Bereiche des Bremer Stadtgebietes, das gegen ihn zur Vermeidung von Straftaten im Zusammenhang mit Heimspielen des SV Werder Bremen erlassen wurde. Das OVG hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid wiederhergestellt, soweit sich das Aufenthalts- und Durchquerungsverbot auf Heimspieltage des SV Werder Bremen II in der Regionalliga sowie auf Pokal- und Freundschaftsspiele erstreckte.

BremPolG – § 11 Abs. 2


BremVwVfG – §§ 28, 45

Im Hinblick auf die Begehung von Straftaten durch gewaltbereite Fußballfans sind weder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gewaltbereiten Gruppe noch Eintragungen in polizeilichen Informationssystemen, z. B. der Datei „Gewalttäter Sport“, für sich gesehen ausreichend, um die erforderliche Gefahrenprognose zu begründen. Allerdings können solche Erkenntnisse im Zusammenhang mit weiteren Tatsachen, die sich auf das individuelle Verhalten beziehen, von Bedeutung sein und im Rahmen der Gesamtwürdigung bei der Gefahrenprognose innerhalb des § 11 Abs. 2 BremPolG Berücksichtigung finden. Weitere Erkenntnisse, die bei der gebotenen Einzelfallwürdigung zu berücksichtigen sind, können sich insbesondere aus Ermittlungs- und Strafverfahren ergeben, die aktuell anhängig sind oder in der Vergangenheit geführt wurden, und die im Zusammenhang mit solchen Straftaten geführt wurden, deren Begehung erneut befürchtet wird. Dabei können in die gefahrenrechtliche Beurteilung auch Erkenntnisse aus solchen Verfahren einfließen, die zu keiner bußgeld- oder strafrechtlichen Ahndung geführt haben, sondern etwa nach § 153, § 153a StPO oder nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden sind.

Oberverwaltungsgericht Bremen (Beschl. v. 16.02.2023 – 1 B 30/23)

Aus den Gründen

Die Beschwerde hat teilweise Erfolg. Sie ist zulässig und aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen überwiegend begründet (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Unter Berücksichtigung des ergänzenden Vorbringens der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides das Interesse des Antragstellers daran, von der Vollziehung bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens verschont zu bleiben, soweit sich das Aufenthalts- und Durchquerungsverbot auf die nächsten Bundesligaheimspiele des SV Werder Bremen erstreckt. Insoweit ist der Bescheid vom 20.01.2023 nach der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtmäßig anzusehen. Rechtlichen Bedenken begegnet hingegen die Geltung des Aufenthalts- und Durchquerungsverbots für Heimspiele der zweiten Mannschaft des SV Werder Bremen in der Regionalliga sowie für Pokal- und Freundschaftsspiele.

Das unter Ziffer 1 des Bescheides verfügte Aufenthalts- und Durchquerungsverbot wird sich voraussichtlich als rechtmäßig erweisen, soweit davon die Bundesligaheimspiele des SV Werder Bremen erfasst sind. Bezogen auf die Spiele in der Regionalliga sowie Freundschafts- und Pokalspiele dürften bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

Auch in materieller Hinsicht ist unter Berücksichtigung des ergänzenden Vorbringens der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren und mit der vorgenommenen Einschränkung des zeitlichen Geltungsbereichs gegen das Aufenthalts- und Durchquerungsverbot von Rechts wegen nichts zu erinnern. Ein Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 2 BremPolG setzt voraus, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, der Betroffene werde in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen. Tatsachen sind Vorgänge oder Zustände in der Vergangenheit oder Gegenwart, die wahrnehmbar in Erscheinung getreten und deswegen dem Beweis zugänglich sind. Erforderlich sind also konkrete belegbare Ereignisse (…).

Reine Vermutungen oder subjektive Einschätzungen reichen deshalb nicht aus. Es müssen vielmehr nachprüfbare, dem Beweis zugängliche Geschehnisse vorliegen, aus denen mit der erforderlichen Sicherheit auf die bevorstehende Begehung von Straftaten gerade durch die betreffende Person geschlossen werden kann. Die befürchteten Straftaten müssen dabei ihrerseits noch nicht genau bestimmbar sein. Bei der Gefahrenprognose können auch sogenannte Indiztatsachen berücksichtigt werden, also indirekte Tatsachen, die für sich allein oder in einer Gesamtheit mit anderen Indizien auf das Vorliegen einer anderen Tatsache schließen lassen. Die Tatsachen müssen geeignet sein, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Begehung der Straftat zu begründen, wobei der Grad der gebotenen Wahrscheinlichkeit von der Wertigkeit der im Einzelfall zu schützenden Rechtsgüter abhängt (…).

Für die Prognose in Hinblick auf die Begehung von Straftaten durch gewaltbereite Fußballfans hat der Senat bereits festgestellt, dass weder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gewaltbereiten Gruppe noch Eintragungen in polizeilichen Informationssystemen, z. B. der Datei „Gewalttäter Sport“, für sich gesehen ausreichend sind, um die erforderliche Gefahrenprognose zu begründen (…).

Speziell in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer sogenannten Ultra-Gruppierung ist zudem zu berücksichtigen, dass es innerhalb dieser Szene große Unterschiede hinsichtlich der Akzeptanz von Gewalt gibt. Auch die Bremer Ultraszene besteht aus mehreren Gruppierungen und etlichen nicht organisierten Personen, die auch unter dem Gesichtspunkt gefahrenabwehrender und -verhütender Maßnahmen einer differenzierten Beurteilung bedürfen. Für weite Teile der Bremer Ultraszene gilt, dass sie nicht die Drittauseinandersetzung suchen, sondern eher die Provokation und Auseinandersetzung im Umfeld der Stadien mit dem „rechten Gegner“ oder der Polizei.

Gefahren für Unbeteiligte gehen von ihnen grundsätzlich nicht aus. Sie suchen nicht von vornherein die gewalttätige Auseinandersetzung, sind aber zur Ausübung von Gewalt bereit (…). Die Zugehörigkeit zu einer gewaltbereiten Gruppierung, deren Mitglieder wiederholt im Zusammenhang mit gewalttätigen Auseinandersetzungen im Umfeld von Fußballspielen auffällig werden, kann allerdings im Zusammenhang mit weiteren Tatsachen, die sich auf das individuelle Verhalten beziehen, von Bedeutung sein und im Rahmen der Gesamtwürdigung bei der Gefahrenprognose innerhalb des § 11 Abs. 2 BremPolG Berücksichtigung finden.

Weitere Erkenntnisse, die bei der gebotenen Einzelfallwürdigung zu berücksichtigen sind, können sich insbesondere aus Ermittlungs- und Strafverfahren ergeben, die aktuell anhängig sind oder in der Vergangenheit geführt wurden und die im Zusammenhang mit solchen Straftaten geführt wurden, deren Begehung erneut befürchtet wird. Dabei können in die gefahrenrechtliche Beurteilung auch Erkenntnisse aus solchen Verfahren einfließen, die zu keiner bußgeld- oder strafrechtlichen Ahndung geführt haben, sondern etwa nach § 153, § 153a StPO oder nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden sind.

Allein aus der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ergibt sich zwar noch kein Anhaltspunkt für eine Gefahrenprognose, zumal die Schwelle zum Anfangsverdacht gering ist. Soweit sich aus Ermittlungsverfahren aber im jeweiligen Einzelfall ein Restverdacht ergibt, können die dem Verfahren zugrunde liegenden Tatsachen auch als Tatsachen im Sinne des § 11 Abs. 2 BremPolG verwertet werden. Gleiches gilt für Ermittlungsverfahren, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Aufenthaltsverbotes noch anhängig sind, sowie Vorkommnisse, die nicht zur Einleitung eines Strafverfahrens geführt haben, aber gleichwohl in einem inneren Zusammenhang mit denjenigen Straftaten stehen, deren zukünftige Begehung durch das Aufenthaltsverbot verhindert werden soll, und somit Rückschlüsse auf ein zukünftiges strafrechtlich relevantes Verhalten zulassen.

Im Regelfall verlangt § 11 Abs. 2 BremPolG die Feststellung von Vorfällen aus jüngerer Zeit, um eine Gefährdungsprognose begründen zu können. Das schließt aber nicht aus, im Einzelfall auch zeitlich weiter zurückliegende Vorfälle für die Annahme einer hinreichend konkreten Gefährdungslage heranzuziehen. Eine starre zeitliche Grenze besteht insoweit nicht. Insbesondere wenn Tatsachen aus der jüngeren Zeit vorliegen, können weiter zurückliegende Tatsachen für die Prognosestellung ergänzend zu berücksichtigen sein (…).

Die geschilderten Vorfälle sind einer Gesamtbetrachtung zu unterziehen. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Umstand zu, dass die Beteiligungen des Antragstellers an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fußballfans innerhalb des vergangenen Jahres in einer besonderen Häufung aufgetreten sind. (…) Aufgrund der dargestellten Ereignisse besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller auch künftig Straftaten im Zusammenhang mit Fußballspielen begehen wird. (…)

Gleichwohl trägt die anzustellende Gefahrenprognose nicht die Annahme der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller auch bei allen Spielen des SV Werder Bremen II in der Regionalliga Nord Straftaten im Rahmen von Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fußballfans begehen wird. Der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers weist insoweit zu Recht darauf hin, dass solche Begegnungen teilweise nur vor wenigen hundert Zuschauern stattfinden.

Es bestehen nach dem Vorbringen der Antragsgegnerin auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller solche Spiele in der Regionalliga überhaupt besucht. Er selbst trägt vor, dass das in aller Regel nicht der Fall sei. Auch die dargestellten Vorfälle deuten nicht darauf hin, dass der Antragsteller solche Spiele zum Anlass für gewalttätige Fanaktivitäten nehmen könnte. Gleiches gilt für die von der Verfügung erfassten Pokal- und Freundschaftsspiele, wobei bereits unklar bleibt, auf welche konkreten Spiele sich die Verfügung insoweit überhaupt bezieht.

Pokalspiele des SV Werder Bremen I kommen in dem fraglichen Zeitraum nicht in Betracht, weil die Mannschaft aus diesem Wettbewerb bereits ausgeschieden ist. Das Ordnungsamt hat bei Erlass des Aufenthalts- und Durchquerungsverbotes für die restlichen Bundesligaspiele des SV Werder Bremen weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten noch von einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 114 VwGO).

Insbesondere hat es den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinreichend beachtet. Die Antragsgegnerin verfolgt mit der Verhinderung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit ein legitimes Ziel. Das hierzu gegen den Antragsteller ausgesprochene Aufenthaltsverbot an Heimspieltagen des SV Werder Bremen in einem Bereich des Stadtgebietes mit potenziellen Konfliktorten ist geeignet, solche Straftaten durch den Antragsteller zu verhindern.

Mildere, den Antragsteller weniger beeinträchtigende, aber ebenso wirksame Maßnahmen standen der Antragsgegnerin nicht zur Verfügung. Kurzfristige Platzverweise sind nicht gleichermaßen effektiv wie das streitgegenständliche Aufenthaltsverbot. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin bei der räumlichen und zeitlichen Ausgestaltung des Aufenthaltsverbots – mit Ausnahme der bereits erfolgten Einschränkung – gegen das Übermaßverbot verstoßen hätte. Die örtliche Ausdehnung erfasst zwar einen erheblichen Teil des Stadtgebietes. Das Verbot beschränkt sich aber gleichwohl auf solche Bereiche, in denen Fanmärsche, Zusammentreffen und andere Aktivitäten von Fußballfans im Vorfeld oder nach Beendigung der Bundesligaspiele regelmäßig stattfinden.

Auch in zeitlicher Hinsicht ist eine Reduzierung nicht durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geboten. Gegnerische Fans reisen bereits mehrere Stunden vor Beginn des Spiels an und halten sich häufig noch mehrere Stunden nach Beendigung des Spiels im näheren und weiteren Umfeld des Weserstadions, im Bremer Viertel oder der Bremer Innenstadt auf, sodass der Zeitraum von sechs Stunden vor und nach dem Spiel nicht unangemessen erscheint. Das ergangene Aufenthaltsverbot ist auch mit Blick darauf, dass es die weiteren Spiele bis zum Saisonende umfasst, nicht als unverhältnismäßig anzusehen.

Die Antragsgegnerin greift dadurch zwar in erheblichem Umfang in das Grundrecht auf Freizügigkeit des Antragstellers aus Art. 11 Abs. 1 GG ein. Denn sein Recht, an einem selbstgewählten Ort Aufenthalt zu nehmen, wird dadurch über einen längeren Zeitraum an den jeweiligen Heimspieltagen des SV Werder Bremen eingeschränkt. Damit verbunden sind zudem Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit, weil ihm die Teilnahme an mehreren Fußballspielen versagt wird. Diese Nachteile stehen aber nicht außer Verhältnis zu dem mit dem Aufenthaltsverbot beabsichtigten Erfolg des Schutzes von Leib und Leben und damit von Rechtsgütern besonders hohen Ranges vor schwerwiegenden Gefahren und unter Umständen dauerhaften, irreversiblen Schäden (…).

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv Heft 11/2023, Lz. 701.

 

Dr. Matthias Goers

Vorsitzender Richter am Landgericht, Hof
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